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Das Warburg-Drama

Das Warburg-Drama, Teil 1: Eine Behörde im Kriegszustand

Die traditionsreiche Hamburger Privatbank Warburg hat groß im Geschäft mit Cum-ex mitgemischt – und sollte deswegen Steuern in Millionenhöhe zurückzahlen. Eigentlich einfach. Bis sich Politiker, Banker, Beamte und Juristen der Sache annahmen. Die Geschichte eines sehr deutschen Dramas.

90 Millionen Euro aus Cum-ex-Geschäften wollte die Stadt Hamburg der Privatbank Warburg erlassen. Wenn es nach den Verantwortlichen um SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz (62) und Hamburgs SPD-Bürgermeister Peter Tschentscher (55) geht, war das alles ganz normaler Behördenalltag. Reporter des [Mediums] haben mehr als 20.000 Seiten Akten zu dem Fall eingesehen und mit zahlreichen Protagonisten gesprochen. Das Ergebnis: Ein Lehrstück über ein paar Kernprobleme der deutschen Spitzenbürokratie.

Teil 1: Eine Chefin stoppt ihre Leute

Ende Oktober 2017 verliert die Finanzbeamtin Dagmar M. (60) ihre Contenance. Ein 18-seitiges Schreiben ist auf ihrem Tisch gelandet, sie ist entsetzt und beginnt zu kommentieren. "Haarsträubend" tippt sie an einer Stelle, das entbehre "jeglicher Grundlage", dieses sei falsch, jenes aus dem Zusammenhang gerissen. Wozu ist das bedeutend? Was ist der Inhalt dieses Satzes? Die Anmerkungen lesen sich wie die Korrekturen einer Lehrerin, die einer Schülerin kaum die Note mangelhaft geben würde.
Doch Dagmar M. kommentiert nicht das Werk einer Schülerin, sondern das ihrer Vorgesetzten. Die versucht in dem Papier zu begründen, warum die Stadt Hamburg zum zweiten Mal in Folge auf Steuerrückforderungen in Millionenhöhe gegenüber der Privatbank M.M. Warburg verzichten soll. Schon im Vorjahr hatte es Streit gegeben zwischen den Finanzbeamten und ihrer Vorgesetzten. Nun eskaliert die Situation vollständig. Ihre Kommentare zu dem Papier legt Dagmar M. in die offizielle Akte.
Es ist ein kleiner Ausschnitt eines erbitterten Konflikts, der im zuständigen Hamburger Finanzamt für Großunternehmen über den Fall Warburg tobte.
Die Akten der zuständigen Beamten offenbaren ein Behördenchaos – unter der Aufsicht des damaligen Finanzsenators und heutigen Bürgermeisters Peter Tschentscher (55, SPD): Es geht um Beamte, die nicht vorbereitet waren auf komplexe Geschäfte wie Cum-ex; die sich trotz aller Widrigkeiten für die Steuerzahler engagierten; schließlich aber ausgebremst und kaltgestellt, krank und verbittert wurden.
So liefern die zum Teil absurden Details auch über Hamburg hinaus Anhaltspunkte dafür, warum Deutschlands Spitzenbürokratie ihre Leistungsfähigkeit eingebüßt hat – und mit ihr womöglich das gesamte Land.
Die Geschichte der beteiligten Beamten wird viele Verantwortliche in Hamburg in Erklärungsnot bringen, die bis heute suggerieren, alles sei im Fall Warburg streng nach Vorschrift gelaufen. Der zuständige Abteilungsleiter der Hamburger Finanzbehörde etwa erklärte im Finanzausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft vor einigen Monaten auf die Frage, was die Stadt lernen könne aus dem, was beim Fall Warburg schiefgelaufen sei: "Ich finde nicht, dass etwas schiefgelaufen ist. Ich finde, wir waren hier ausgesprochen gut aufgestellt."
Eine steile These.
Wie schlecht die Beamten tatsächlich auf das Erkennen und Bewältigen der Steuerbetrugsmasche vorbereitet waren, ließ sich in den vergangenen Monaten am Landgericht Bonn erleben. Dort läuft seit November wegen der Cum-ex-Geschäfte ein Prozess gegen den ehemaligen Generalbevollmächtigten der Warburg-Bank. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm schwere Steuerhinterziehung vor. Der Banker bestreitet den Tatvorwurf, auch die Bank sagt, sie habe nie illegale Steuergeschäfte machen wollen.
Neun Finanzbeamte vor Gericht
Seit Dezember waren in diesem Prozess neun Beamte aus dem Finanzamt für Großunternehmen als Zeugen geladen. Ihre Aussagen erlauben zusammen mit den Tausenden Seiten Akten eine detaillierte Rekonstruktion, wie das Finanzamt mit den umstrittenen Geschäften umging.

Gerhard H. (67) ist ein gemütlich wirkender Mann mit untersetzter Figur, vor Gericht erscheint er mit Jeans und Wanderschuhen. Viele Jahre lang hat H. in der Ferdinandstraße gearbeitet, unweit der Binnenalster in Hamburg, im Gebäude der Privatbank M.M. Warburg. Als Betriebsprüfer hat der Beamte dort die Aufgabe, die Bilanzen der Bank zu durchleuchten und zu klären, ob bei der Steuererklärung alles richtig angegeben wurde.
H. kennt die Warburg-Bank lange, zum ersten Mal hat er sie Ende der 90er Jahre geprüft. Er respektiert die Banker, der Umgang ist stets freundlich, sie sind hilfsbereit. Und er vertraut ihnen. Man mache Bankgeschäfte und sei nicht darauf aus, Steuern zu sparen, haben die Banker dem Beamten eingeschärft. So erzählt H. es vor Gericht.
Im Herbst 2014 begegnen ihm erstmals sogenannte Cum-ex-Geschäfte. Mit dieser Methode, Aktien über den Dividendenstichtag im Kreis zu tauschen, ergaunerten Banken jahrelang Rückzahlungen von Steuern, die niemals gezahlt wurden. Nun warnen Steuerfahnder aus Hessen das Hamburger Finanzamt: Es gebe möglicherweise Unregelmäßigkeiten bei Geschäften der Warburg-Bank.
Vor Gericht sagt H., dass er zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung von Cum-ex hatte. Er prüft den Hinweis und schreibt dazu einen internen Vermerk. Kernaussage: Selbst wenn bei diesen Geschäften keine Steuern gezahlt wurden, wäre dafür Warburg nicht verantwortlich. Die Bank jedenfalls hätte richtig gehandelt. "Wir konnten uns nicht vorstellen, dass die Bank so etwas gemacht hat", sagt H. vor Gericht.
Es sollte sich als Fehleinschätzung herausstellen, die er bald korrigierte – und über die er bis heute unglücklich ist.
Im Sommer 2015 wird Dagmar M. (60) in die Abteilung versetzt, die Warburg prüft. Frau M. ist eine zierliche Frau mit grauem Pagenschnitt und Brille. In Hamburg finde Cum-ex nicht statt, so habe ihr damaliger Vorgesetzter sie in der Bankenabteilung begrüßt, berichtet sie vor Gericht. Insgesamt gibt es nur zwei Sachgebiete in der Hamburger Finanzverwaltung, die sich mit Banken beschäftigen. Cum-ex ist vor dem Fall Warburg in beiden kein großes Thema, so berichten es die neun Finanzbeamten unisono vor Gericht.
Erst mit einem Fachaufsatz im Herbst 2015 steigt die Skepsis. Gerhard H. schwant, dass seine erste Bewertung vorschnell und falsch sein könnte. Er geht seine Dokumente durch, prüft, rechnet und wendet. Auch Dagmar M. beginnt sich einzuarbeiten. Niemand in der Finanzverwaltung kennt sich in den Tiefen der Warburg-Bilanzen so gut aus wie die beiden Betriebsprüfer. Und bald kennt sich wohl auch kaum einer so gut aus beim Thema Cum-ex.
Dann überschlagen sich die Ereignisse: Steuerfahnder aus Nordrhein-Westfalen durchsuchen die Bank, sie haben von einem Zeugen Hinweise auf die Cum-ex-Geschäfte bekommen.
Wenige Wochen nach der Durchsuchung sind Gerhard H. und Dagmar M. sicher – und einig: Wir holen die Millionen zurück, bevor sie steuerrechtlich verjähren und damit im Zweifel verloren sind. Das Finanzamt, so argumentieren die Betriebsprüfer, hat es dabei einfacher als die Strafverfolgungsbehörden. Während die Staatsanwaltschaft lückenlose Beweise braucht, reicht dem Steuerfiskus eine Kette von Indizien, um von dem Steuerpflichtigen einen Beweis zu fordern, dass die Steuer auch bezahlt wurde, die er erstattet bekommen haben möchte. Eine einfache Methode, um die Methode Cum-ex zu entlarven.

Dieses Vorgehen ist keine abwegige Position damals. Just im Februar 2016 hat das Finanzgericht Hessen diesen Grundsatz in einem Urteil gestärkt. Topsteueranwälte warnen im Frühjahr 2016 ihre Kunden in Schulungen mit dem Namen "Cum-ex – Was nun?" genau vor dieser Vorgehensweise der Behörden. Im Bundestag beschäftigt sich ein Untersuchungsausschuss mit dem Thema, auch dort beschreiben die Experten das Vorgehen so, darunter als Sachverständiger ein Steuerrechtsprofessor und der oberste Steuerbeamte aus Baden-Württemberg.

Es kommt anders als gedacht

Auch die Hamburger wollen dieser Linie folgen. Die Vorgesetzte der beiden Prüfer, Frau P. (53), arbeitet sich ein. Sie kommt zum gleichen Schluss wie ihre Mitarbeiter. Im Mai 2016 verkünden sie den zuständigen Managern der Bank bei einem Gespräch, es gebe keinen Beweis, dass die Steuer gezahlt wurde – daher müsse die Bank zurückzahlen.
Die Banker sind entsetzt, warnen, das könne das Ende der Bank bedeuten. Frau P. wird daraufhin zurückhaltend, stoppt die sofortige Übergabe des Vermerks an die Bank - mit der die Rückforderung der Stadt offiziell geworden wäre. "Durfte auf Weisung von Frau P. nicht ausgehändigt werden", schreibt Gerhard H. handschriftlich auf das vorbereitete Papier.
Es ist der Beginn eines langen Konflikts. Gerhard H. erzählt vor Gericht, dass ihn dieser Streit krank gemacht habe.
Seine Vorgesetzte Frau P. hadert mit der Entscheidung, immer wieder betont die Bank in Gesprächen mit den Finanzbeamten, eine Rückforderung könne die Existenz gefährden. Zu ihren Prüfern sagt sie, das könne nicht ohne die Finanzbehörde entschieden werden, so heißt in Hamburg das Landesfinanzministerium. Im Oktober schreibt sie schließlich einen 28-seitigen Bericht an die Behörde.

Die Beamtin legt im Detail die rechtliche Situation dar und argumentiert abgewogen, warum Hamburg sich das Geld zurückholen sollte. Es gebe ausreichend Indizien, um von der Bank einen Beleg für die Zahlung der Steuer zu fordern – erbringe sie den nicht, müsse sie zurückzahlen. Am Ende erwähnt die Beamtin die angebliche Gefährdung der Bank und kommt zu dem Fazit: Trotz einiger Bedenken, der Gefahr eines möglichen Prozesses mit unklarem Ausgang und der möglichen Auswirkungen auf die Bank bittet sie um Zustimmung zu der Rückforderung.
Die Chefin des Finanzamts, also die Vorgesetzte von Frau P., unterstützt sie. Sogar ein Mitarbeiter der Finanzbehörde urteilt: Rechtlich ist das vorgeschlagene Vorgehen so möglich.
Doch wenige Wochen später kommt es anders. In der Finanzbehörde wird entschieden, das Geld doch nicht zurückzufordern. Wesentlich sind zwei Gründe: Man fürchtet einen Prozess vor dem Finanzgericht. Und die Pleite der Bank. Die Entscheidung fällt, kurz nachdem sich die Banker an Olaf Scholz (62) und Peter Tschentscher gewandt haben. Beide bestreiten, auf die Entscheidung Einfluss genommen zu haben.

Ein Streit eskaliert

Doch der Konflikt ist damit nicht beendet: Gerhard H. geht im Sommer 2017 in den Ruhestand, sein Nachfolger im Team für Warburg wird Manfred H. (60), ein erfahrener Bankenprüfer. Auch er arbeitet sich ein. Da alle anderen Jahre ohnehin verjährt sind, konzentriert er sich vor allem auf das noch ausstehende Jahr 2010. Bald ist er sicher: Die Stadt muss eine erneute Verjährung verhindern. Er habe dann mit seiner Vorgesetzten Frau P. gesprochen, berichtet er vor Gericht. "Wir müssen den Fuß in die Tür bekommen und den Anspruch sichern."
Auch die Beamtin Dagmar M. ist sicher, dass die Stadt angesichts der neuen Fakten nicht noch einmal auf Millionen verzichten kann. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte hat die Geschäfte mit einem großen Team minutiös durchleuchtet und malt den Verdacht auf Hunderten Seiten im Detail aus. Mehrere Zeugen haben die Bank in ihren Aussagen belastet, jeder habe gewusst, dass es bei diesen Geschäften um eine zu Unrecht erstattete Steuer ging. Die Staatsanwaltschaft hält den Verdacht nach den Ermittlungen für bestätigt. Und das Finanzgericht Hessen hat in einem weiteren Fall das Vorgehen der Behörden bestärkt.
Doch die Vorgesetzte Frau P. kommt in einem Bericht zu einem anderen Ergebnis, es ist das komplette Gegenteil zu dem, was sie noch ein Jahr zuvor geschrieben hatte. Im Oktober 2017 erklärt sie dieses Mal auf 18 Seiten, warum weder die Urteile aus Hessen, noch die Erkenntnisse von Deloitte oder die des Staatsanwaltes für den Steuerfall Warburg ausschlaggebend seien. Es gebe nur Indizien, keine Beweise, die Bank gehe weiterhin davon aus, dass eine Rückzahlungsverpflichtung den Fortbestand gefährden könne. Auch wenn 2010 eine weitere Verjährung eintrete, solle auf eine Rückzahlung verzichtet werden.

Es ist jenes Papier, gegen das Dagmar M. mit ihren Kommentaren Sturm läuft. Auch ihr Kollege Manfred H. schreibt eine fünfseitige Replik, die er an Frau P. schickt. Er widerlegt Argumente, verweist auf Details zu den Geschäften. Fazit: Die drohende Verjährung müsse und könne unterbrochen werden. Doch Frau P. überzeugt er nicht: Der Betriebsprüfer habe sich weder mit dem Sachverhalt noch mit den Urteilen auseinandergesetzt, notiert sie. Manfred H. wiederum legt die Antwort von Frau P. auf seine Kritik mit einer lakonischen Notiz zu den Akten: Offensichtlich irre Frau P. oder kenne die gesetzlichen Regelungen nicht so gut.
Es herrscht nun offener Konflikt, jeglicher Respekt für die Meinung der anderen Seite scheint verloren. Was die Prüfer zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen: Zur gleichen Zeit haben die obersten Finanzbeamten der Republik eingegriffen. Das Bundesfinanzministerium hat Hamburg angewiesen, die erneute Verjährung zu verhindern. Die Millionen sind gerettet.
Doch damit endet für Dagmar M. und Manfred H. die Geschichte immer noch nicht: Wenige Wochen später berichten Medien über die Weisung aus Berlin. Frau P. wirft den Prüfern nun vor, die Information an die Presse durchgestochen zu haben, so berichten beide unabhängig voneinander vor Gericht. Sie dementieren, sind empört. In der Folge seien sie über den weiteren Gang des Verfahrens nicht mehr informiert worden.
Während die Hamburger Finanzverwaltung sich nun scharfe Briefwechsel mit dem Bund liefert, gibt Frau P. ihren Untergebenen Dagmar M. und Manfred H. einen Auftrag: Sie sollen alle Zwischenstationen aller getätigten Cum-ex- Kreislaufgeschäfte von Warburg nachvollziehen, um zu beweisen, dass niemand die Steuer gezahlt hat, die sich die Bank erstatten lassen hat. Frau P. schickt die Prüfer also in den Nebelwald, durch den die cleveren Cum-ex-Erfinder ihre Geschäfte mit mehreren Zwischenstationen in mehreren Ländern geleitet haben.
Mehr Infos gibt sie ihren Mitarbeitern nicht. Sie müssten für die Umsetzung dieser Dienstanweisung nicht alle Unterlagen kennen, sagt sie. Und sie verbietet den Beamten, noch irgendwelche Informationen mit den Steuerfahndern aus NRW zu teilen.

"Es gab gute Kontakte der Bank zum Senat"

Am 1. März 2018 haben Dagmar M. und Manfred H. ihre unmögliche Aufgabe beendet. Im Jahr 2010 habe die Bank bei Cum-ex-Geschäften Aktien im Wert von 5,4 Milliarden Euro im Kreis gehandelt, fast 43 Millionen Euro Steuerrückzahlungen kassiert, schreiben sie. Die Bank habe dabei nicht nachgewiesen, dass jemand die Kapitalertragssteuer entrichtet habe, die sie sich erstatten ließ. Die Beweislast liege bei der Bank. Dann verweisen die Beamten auf zahlreiche rechtliche Punkte, die Finanzgerichtsurteile, zitieren das Deloitte-Gutachten.
Frau P. ist mit der Arbeit nicht zufrieden. Die geforderten Zwischenstationen hätten die Beamten nicht geliefert. Es sei ihnen offenbar nicht möglich, den Sachverhalt zu ermitteln, kommentiert sie den Vermerk handschriftlich. Es sei nur eine Vermutung, dass Cum-ex immer nach dem gleichen Muster abgelaufen sei, und die Auffassung von Gutachten sei irrelevant. Es sei nicht die Aufgabe der Prüfer gewesen, eine rechtliche Würdigung zu schreiben.
Mit den Prüfern spricht sie offenbar nicht. Über Monate gibt es keine Kommunikation. Erst im Juni sprechen die Prüfer mit ihrer Chefin, Manfred H. schreibt darüber einen Vermerk. Er habe sich über die mangelnde Kommunikation beschwert, notiert er. Frau P. habe entgegnet, es sei wohl besser gewesen, zunächst nicht miteinander zu sprechen. Sie habe das Gefühl gehabt, bei den Prüfern gegen eine Wand zu sprechen. Man sei übereingekommen, die Kommunikation zu verbessern.
Doch die Kommunikation wird nicht besser. Bei einem Gespräch mit der Bank erfahren die Prüfer zufällig, dass Frau P. offenbar bereits Zugeständnisse der Bank gegenüber gemacht hat. Sie schreiben eine Aktennotiz: Frau P. habe sie nicht informiert, sie würden die Einschätzung nicht teilen.
Parallel beginnt Dagmar M. einen Vermerk, den sie wie eine kleine Zeitbombe den Akten beilegt. Es ist eine Zeitleiste des zunehmenden Zerwürfnisses zwischen den Prüfern und ihrer Chefin. Aber nicht nur das: Dagmar M. notiert für die Akten, dass Frau P. offenbar persönliche Verbindungen zu Familie Olearius hat. Inzwischen, so endet der Vermerk, sei ihr Kollege Manfred H. aus dem Team abgezogen worden. Sie selbst solle sich nicht mehr um den Zeitraum der Cum-ex-Geschäfte kümmern.
Vor Gericht ist Dagmar M. immer noch die Empörung über die Vorgänge anzumerken. An einer Stelle lässt sie sogar durchblicken, was für sie wohl eine tiefere Erklärung für all das sein könnte. "Es gab gute Kontakte der Bank zum Senat", sagt die Finanzbeamtin. Verwundert hakt der Richter nach, wie sich denn ein guter Kontakt in die Politik auf die Bearbeitung eines Steuerfalls auswirken solle. Sie hätte damals gehofft, sagt die Beamtin, dass sich das nicht auswirkt. Die Frage beantwortet sie nicht.

Lesen Sie Teil 2 unserer Serie: Blankenese in der Amtsstube – die schwierige Motivationslage der Finanzbeamtin P.

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Das Warburg-Drama, Teil 2: Die Finanzbeamtin mit Draht zu den Privatbankern

Am Anfang wollte die Steuerbeamtin Frau P. die Cum-Ex-Millionen der Warburg-Bank zurückholen. Am Ende legte sie sich mit den höchsten Steuerbeamten des Landes an, um die potenziellen Steuersünder zu schützen.

Insgesamt 90 Millionen Euro aus Cum-ex-Geschäften wollte die Stadt Hamburg der Privatbank Warburg erlassen. Wenn es nach den Verantwortlichen um SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz (62) und Hamburgs SPD-Bürgermeister Peter Tschentscher (55) geht, war das alles ganz normaler Behördenalltag. Reporter des [Mediums] haben mehr als 20.000 Seiten Akten zu dem Fall eingesehen und mit zahlreichen Protagonisten gesprochen. Das Ergebnis: Ein Lehrstück über ein paar Kernprobleme der deutschen Spitzenbürokratie. In Teil 1 können Sie nachlesen, wie in der Hamburger Finanzbehörde der Krieg der Vermerke ausbrach. Teil 2: die schwierige Motivationslage der Finanzbeamtin P.

Am 17. November 2016 werden die Finanzbeamtin Frau P. (53) und ihre Vorgesetzte in die Hamburger Finanzbehörde am Gänsemarkt bestellt. Die Behörde ist oberste Instanz in Steuersachen in der Hansestadt. Sechs Wochen zuvor hat Frau P. auf 28 Seiten dargelegt, warum die Stadt sich 47 Millionen Euro von der Privatbank M.M. Warburg zurückholen sollte, die diese mit Cum-ex-Geschäften erwirtschaftet hat. Zum Entsetzen der Bank. Die Bankiers haben Kontakt mit dem damaligen Bürgermeister Olaf Scholz und dem Finanzsenator Peter Tschentscher aufgenommen.
Nun sitzen den beiden Frauen aus dem Finanzamt nicht weniger als sechs Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Behörde gegenüber, darunter die damalige oberste Leiterin der Steuerverwaltung, Angela Nottelmann. Die Behörde ist alarmiert, ihr Chef, Peter Tschentscher, hat die Argumente der Bank weitergeleitet und um Informationen zum Sachstand gebeten.
Die Runde fällt eine Entscheidung: Hamburg verzichtet auf die Millionen. Frau P. widerruft auf schmalen zwei Seiten ihre alte Position.
Bis heute bestreiten alle Verantwortlichen, dass bei dieser Entscheidung politische Einflussnahme ausgeübt worden wäre. Doch ist das glaubwürdig? Das versucht derzeit ein Untersuchungsausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft zu klären. Eine zentrale Figur dabei ist Frau P.: „Warum knickte die Finanzbeamtin vor der Warburg-Bank ein?“, fragte die Boulevardzeitung „Hamburger Morgenpost“ im Januar auf ihrer Titelseite.
Reporter des [Mediums] konnten die persönlichen Akten und Aufzeichnungen von Frau P. zum Fall Warburg einsehen. Zusammen mit Unterlagen der Bank, den Aufzeichnungen von Christian Olearius (78), dem Mitinhaber und starken Mann bei M.M. Warburg, und den Erkenntnissen der Wirtschaftsprüfer und Ermittler ergibt sich ein dichtes Bild vom Verhalten der Beamtin, die anfangs vehement das Geld von der Bank zurückfordert – um dann das genaue Gegenteil zu tun und sich dafür sogar mit den höchsten Beamten der Republik anzulegen.
Es ist das Bild einer Beamtin, die das tut, was von ihr erwartet wird.

Blankenese im Amtszimmer

Im Januar war Frau P. in Bonn als Zeugin im Verfahren gegen einen Warburg-Manager geladen, genauso wie inzwischen acht weitere Finanzbeamte. In dieser Riege sticht Frau P. heraus. Sie wirkt eleganter mit ihrem feinen Hosenanzug und dem feinen Steppmantel. Ihre Unterlagen trägt sie in einer Chloé-Handtasche, Neupreis: rund 1600 Euro. Doch ihre Aussage ist eine Enttäuschung: In vielem bleibt sie vage, kann sich nicht erinnern.

Wer mehr über die Beamtin erfahren will, landet im Hamburger Nobelviertel Blankenese. Diverse Mitglieder der Inhaberfamilien der Warburg-Bank leben hier in stattlichen Anwesen. Blankenese hat knapp 14.000 Einwohner, wer schon lange hier wohnt, kennt sich. Frau P. ist in Blankenese zur Schule gegangen. Ihr Vater war Notar, er soll unter anderem für die Warburg-Bank tätig gewesen sein.
Frau P. wohnt heute mit ihrem Sohn in einem vergleichsweise bescheidenen Reihenhaus. Menschen, die sie kennen, berichten von einer gewissenhaften Frau mit hohen Ansprüchen. Sie hat Jura studiert, nach der Geburt ihres Sohnes Ende der 90er wurde sie Finanzbeamtin. Der Sohn studiert heute an einer Privatuni. Sie sei eine, die immer gern dazugehört hätte, gern über ihre Kontakte erzählte, berichten Bekannte über sie. Aber in den höheren Kreisen blieb sie wohl doch immer nur die Finanzbeamtin.
Frau P. ist fast genauso alt wie Katharina Olearius, die inzwischen verstorbene Tochter von Bankmitinhaber Christian Olearius (78), die ebenfalls in Blankenese wohnte. Als der Fall Warburg 2016 losgeht, erzählt P. ihren Mitarbeitern in einer Sitzung freimütig, sie treffe Katharina Olearius am Abend auf einer Petersilienhochzeit. Eine Mitarbeiterin schreibt dazu später einen Aktenvermerk. Katharina Olearius ist damals Teilhaberin der Bank, sitzt im Aufsichtsrat. Ihr Mann ist einer der drei Partner der Bank.
Weder Frau P. noch die Finanzbehörde äußerten sich auf Anfrage zu diesen persönlichen Kontakten. Gegenüber dem Gericht in Bonn soll die Behörde eine Erklärung abgegeben und eingeräumt haben, dass es eine Einladung zu einer gemeinsamen Petersilienhochzeit gab. Auch dazu nimmt die Behörde keine Stellung. Im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss in Hamburg bestätigten Vertreter der Warburg-Bank nun die gemeinsame Einladung. Katharina Olearius und ihr Mann hätten aber an der Veranstaltung nicht teilgenommen, erklärte der Anwalt, man kenne sich persönlich nicht.

An den Fall Warburg geht die Beamtin P. anfangs mit großem Aufklärungswillen. Als Steuerfahnder aus Köln im Januar 2016 die Bank durchsuchen, ist Frau P. erst seit wenigen Monaten Chefin der für die Bank zuständigen Abteilung im Hamburger Finanzamt für Großunternehmen. Von Cum-ex, so hat sie es selbst vor Gericht berichtet, weiß sie damals nichts. Durch die Fahnder aufgeschreckt, liest sie sich ein – und findet schnell: Die Geschäfte von Warburg sehen komisch aus, da stimmt etwas nicht.
Ende April 2016 erhält die Beamtin den Bericht der Wirtschaftsprüfer von KPMG, die sich die Geschäfte der Bank im Auftrag der Bankenaufsicht Bafin angeschaut haben und auf 90 Seiten erläutern, wie verdächtig die Geschäfte sind. Zwei Wochen später fasst Frau P. ihre Bewertung der Geschäfte in einem vierseitigen Papier zusammen: Es seien typische Cum-ex-Geschäfte mit Partnern, die in anderen Fällen eindeutig illegale Geschäfte getätigt hätten. Es sei klar gewesen, dass der Profit der Geschäfte aus Steuern stammte und die Deals ohne die Auszahlung der Steuer zu Verlusten geführt hätten. Es sei von arglistiger Täuschung auszugehen. Kurzum: Hamburg muss die Millionen zurückholen.
Wesentliche Grundlage der Argumentation der Beamtin ist damals ein im Februar gefälltes Urteil des Finanzgerichts Hessen. Darin stärken die Richter einen Grundsatz des Steuerrechts, der Laien selbstverständlich erscheint, aber in den Wirren des Cum-ex-Nebels aus dem Blick geraten war: Im Zweifel müssen die potenziellen Cum-ex-Sünder beweisen, dass die Steuern, die sie ausgezahlt bekommen möchten, vorher auch gezahlt wurden. Tun sie das nicht, müssen sie die Millionen zurückzahlen. Eine effektive Waffe gegen die Cum-ex-Sünder, die ebendiesen Beweis nicht liefern können.

Die Politik muss entscheiden

Am 12. Mai 2016 begleitet Frau P. ihre Betriebsprüfer zu einem Gespräch mit den Verantwortlichen der Bank. Laut Protokollen von beiden Seiten geht es hoch her. Frau P. sagt, sie wundere sich, dass die Bank sich nicht selbst gemeldet habe. Dann verkünden die Beamten, dass es keinen Beweis gebe, dass die Steuern auch bezahlt wurden, die Warburg sich auszahlen ließ. Die Banker geben sich überrascht. Bei so einer Forderung drohe möglicherweise eine Pleite, sagen sie.
Frau P. wird nun unsicher, sie will erst Rücksprache mit der vorgesetzten Finanzbehörde halten. Glaubt man ihren Aufzeichnungen bleibt sie allerdings in der Sache hart – gewährt lediglich Aufschub.

In den folgenden Monaten gibt es einen engen Kontakt zwischen den Bankern und der Finanzbeamtin. In ihren eigenen Vermerken ist Frau P. gegenüber der Bank stets klar: Als die Banker darlegen, sie hätten von möglicherweise illegalen Tätigkeiten rund um die Geschäfte nichts mitbekommen, erklärt sie ihnen, dass die Bankinhaber 40 Jahre im Bankgeschäft seien und umfassende Kenntnisse haben müssten. Sie erläutert den Bankern auch, dass die Rückforderung im Steuerrecht deutlich einfacher sei als im Strafrecht und schon Indizien ausreichen würden, um Warburg in die Beweislast zu bringen.
Mehrfach bietet sie der Bank allerdings auch einen Ausweg: Die Banker sollen sich Gedanken über mögliche Lösungsmöglichkeiten machen. Dass es bei Cum-ex-Geschäften damals Deals über Teilrückzahlungen gibt, ist nicht ungewöhnlich. Und dann sagt Frau P. noch etwas: Am Ende entscheide die Finanzbehörde, in Hamburg das Landesfinanzministerium. So notiert sie es gleich mehrfach.
Es sind deutliche Hinweise – und sie kommen an, das kann man im Tagebuch von Bankinhaber Olearius nachlesen, das Ermittler der Staatsanwaltschaft Köln beschlagnahmt haben. Als Frau P. laut ihren Notizen im Juli 2016 den Warburg-Verantwortlichen berichtet, über einen Deal müsse die Finanzbehörde entscheiden, notiert Olearius im Tagebuch, er habe seinem Berater und SPD-Urgestein Alfons Pawelczyk (88) Unterlagen zu dem Fall gegeben, der solle Kontakt zu Bürgermeister Olaf Scholz aufnehmen. Später notiert Olearius im Tagebuch, dass Frau P. explizit empfohlen habe, politischen Beistand einzuholen. Und schließlich: Die Politik müsse entscheiden. In den behördlichen Akten gibt es zu solchen Gesprächen keine Notizen von Frau P., sie selbst äußert sich nicht.

Während die Bank nun versucht, ihre politischen Kontakte zu aktivieren, schreibt Frau P. ihren Bericht. Auf den 28 Seiten legt sie im Detail die rechtliche Situation dar und argumentiert, warum Hamburg sich das Geld zurückholen sollte. Es gebe einen erheblichen Verdacht mit diversen Indizien, schreibt die Beamtin. Die Geschäfte seien im Prinzip durchgeführt worden wie kriminelle Cum-ex-Geschäfte. Die Bank habe sich dabei von Beratern helfen lassen, die nachweislich gewusst hätten, dass bei Cum-ex-Geschäften eine Steuer zurückgefordert wurde, die vorher nicht bezahlt wurde. Die Gewinne seien mit diesen Beratern geteilt worden. Zwar argumentiere die Bank, sie sei immer davon ausgegangen, alles sei mit sauberen Dingen zugegangen. Es sei aber davon auszugehen, schreibt P., dass es sich dabei um eine Schutzbehauptung handele.
Am Ende erwähnt die Beamtin die angebliche Gefährdung der Bank, dass diese die geforderte Rückzahlung finanziell nicht stemmen könne. Unter anderem weil ihr noch weitere Steuerforderungen drohten. Ihr Fazit: Trotz einiger Bedenken, der Gefahr eines möglichen Prozesses mit unklarem Ausgang und der möglichen Auswirkungen auf die Bank bittet sie die Finanzbehörde um Zustimmung zu der Rückforderung.
Grundlage der Argumentation der Beamtin ist das Urteil des Finanzgerichts Hessen, das inzwischen Einfluss auf die Arbeit der Finanzämter in ganz Deutschland hat. Die größte Sorge vieler Finanzbeamter: Wegen der enormen Aufmerksamkeit möchte man auf keinen Fall versehentlich Cum-ex-Millionen verjähren lassen.

Eine überraschende Kehrtwende

Doch in Hamburg kommt es anders. Nach dem Gespräch am 17. November mit ihren Vorgesetzten notiert Frau P.: Die Beteiligten seien sich einig, das Geld nicht zurückzufordern, bislang gebe es lediglich Indizien, keinen ausermittelten Sachverhalt. Die Erfolgsaussichten in einem Klageverfahren seien gering.
Auch ein anderer Teil des Papiers überrascht angesichts des Berichts der Prüfer von KPMG. Man habe darüber gesprochen, dass eine Rückforderung vermutlich einen unmittelbaren Zusammenbruch der Warburg-Gruppe zur Folge habe, schreibt Frau P. in ihrem Vermerk. Doch genau mit dieser Frage beschäftigt sich zu diesem Zeitpunkt seit Monaten die Bankenaufsicht, die nach der Analyse von KPMG der Bank diverse Maßnahmen verordnet hatte, um genau auf diesen Fall vorbereitet zu sein und somit eine Pleite ausschließen zu können.
Doch offenbar sind sich die Beamten der Hamburger Finanzverwaltung vollständig einig: Im Zweifel ist die Bank zu schützen.

Es ist der Wendepunkt der Geschichte der Finanzbeamtin Frau P.: Mit der Entscheidung in der Behörde ändern sich ihre Vermerke, vom ursprünglichen Willen, die Millionen für die Steuerzahler zu retten, ist nichts mehr zu spüren. Stattdessen scheint es so, als würde sie helfen, wo sie kann.
Als die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PwC die Bank zwingen will, für das Risiko einer Rückzahlung vorzusorgen, springt Frau P. der Bank zur Seite, spricht mit den Prüfern. Sie sei sich mit PwC einig, schreibt sie, dass die Rückzahlung für 2009 verjährt sei, und es bisher keine neuen Erkenntnisse gebe, auf deren Basis man 2010 und 2011 zurückfordern werde.
Später beruhigt sie die Wirtschaftsprüfer noch einmal, als die der Bank das Testat für den Jahresabschluss verweigern wollen. Der Grund: Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte, die mit 30 Mitarbeitern die Geschäfte von Warburg im Auftrag der Bankenaufsicht Bafin durchleuchtet hatte, kommt in einem mehr als 1000 Seiten starken Bericht zu dem Ergebnis, dass die Geschäfte von Warburg mehr als zweifelhaft sind.
Doch Frau P. sagt, so hält sie es selbst in einem Vermerk fest, dass sie davon ausgehe, dass Deloitte den Bericht noch einmal überarbeiten werde. Auch ein in der Zwischenzeit gefallenes weiteres Urteil des Finanzgerichts Hessen habe keine Auswirkungen auf die Beurteilung der Cum-ex-Geschäfte von Warburg. Selbst Christian Olearius ist von diesem Schritt offenbar beeindruckt. Sie habe Mut bewiesen, notiert er im Tagebuch.

Hamburg kämpft mit Berlin

Am 20. Oktober 2017 schreibt Frau P. wieder einen Bericht an die Finanzbehörde, sie kommt zum gegenteiligen Ergebnis des Vorjahres: Zwar habe man grundsätzlich in zwei Fällen inzwischen Beweise, die bezögen sich aber auf das Jahr 2009, das bereits verjährt sei, schreibt sie. Für das nun entscheidende Jahr 2010 seien keine Beweise vorhanden, nur Indizien. Auch Aussagen eines Kronzeugen, der die Bank belastet, seien nicht ausreichend. Hamburg will nun also zum zweiten Mal Forderungen an Warburg verjähren lassen.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Frau P. sind entsetzt, laufen Sturm gegen die Entscheidung. Doch das größere Ungemach kommt aus einer anderen Richtung: aus Berlin. Auf Nachfrage des Bundesfinanzministeriums meldet Hamburg Ende Oktober 2017, man plane 43 Millionen Euro aus Cum-ex-Geschäften verjähren zu lassen.
Der zuständige Unterabteilungsleiter in Berlin schreibt, er habe erhebliche Bedenken bei dem Vorgehen. Es sei nicht notwendig, die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft abzuwarten, weil es steuerrechtlich deutlich einfacher sei, das Geld zurückzufordern als strafrechtlich. Er verweist auf das inzwischen rechtskräftige Urteil aus Hessen und bittet darum, bis Ende November Maßnahmen zu ergreifen, die eine weitere Verjährung verhindern. Es sind genau jene Argumente, die Frau P. selbst ein Jahr zuvor verwendet hatte – und die immer wieder auch von den Finanzbeamten vorgetragen wurden.
Doch Hamburg beugt sich der Bitte nicht. Am 16. November 2017 kommt es in Berlin zu einem Krisentreffen. Acht Personen sitzen dort an jenem Donnerstag zusammen: Vertreter der Kölner Staatsanwaltschaft, der Steuerfahndung Düsseldorf, der Hamburger Finanzverwaltung und des Bundesfinanzministeriums. Die Steuerexperten des Bundes wollen ihre Hamburger Kollegen dazu bringen, die 43 Millionen Euro zu retten. Die Fahnder aus NRW argumentieren, die Beweislast gegen Warburg sei erdrückend, so berichten es mehrere Teilnehmer der Sitzung. Die Finanzbeamten des Bundes sehen es genauso.

Die Hamburger aber wehren sich, besonders vehement Frau P., die bei Teilnehmern des Gesprächs den Eindruck erweckt, dass sie die Steuermillionen auf keinen Fall zurückfordern will. Die Hamburger bewerten den Fall juristisch anders und sorgen sich vor allem, dass die Bank wegen der Steuerrückzahlung in Notlage geraten könnte. Die Stimmung ist gereizt, berichteten mehrere Teilnehmer unabhängig voneinander. Schließlich sagt der verantwortliche Unterabteilungsleiter des Bundesfinanzministeriums noch einmal unmissverständlich: Der Steuerbescheid muss aufgehoben, das ausgezahlte Geld zurückgefordert werden. P. soll gefragt haben, was das denn bedeute. Daraufhin antwortet der Unterabteilungsleiter lapidar: „Das ist eine Weisung.“
Doch auch diese Eskalation reicht noch nicht. Am 29. November schickt die Leiterin der Hamburger Steuerverwaltung, Angela Nottelmann, mit Segen von Finanzsenator Peter Tschentscher ein zweiseitiges Schreiben nach Berlin: Es gebe nur Indizien, eine Forderung habe vermutlich den unmittelbaren Zusammenbruch der Bank zur Folge. Am 1. Dezember antwortet Michael Sell, Leiter der Steuerabteilung im Bundesfinanzministerium und damit der höchste Steuerbeamte der Republik: „Ich halte an meiner Weisung zur Einleitung verjährungsunterbrechender Maßnahmen uneingeschränkt fest.“

Eine starke Meinung

Einige Tage später, am 4. Dezember, informiert die Finanzbehörde Frau P. über die Weisung: Man habe nun keine Wahl mehr und müsse umsetzen. Olearius notiert am gleichen Tag im Tagebuch, Frau P. habe die Warburg-Bank informell informiert, dass der Bund gegen den Willen Hamburgs die Steuern zurückfordere.
Am 13. Dezember 2017 fährt Frau P. schließlich mit ihren Kollegen in die Ferdinandstraße, sie schreiten durch das imposante Portal und übergeben den Bankern die Bescheide. Frau P. erklärt den Bankern, dass sie auf Weisung des Bundesfinanzministeriums handele, so halten es die Banker in einem Protokoll fest. 43 Millionen Euro plus Zinsen, insgesamt 56 Millionen Euro, soll Warburg zurückzahlen.
Die Banker sind von der Kehrtwende entsetzt. In einer Partnersitzung wird über die Übergabe gesprochen: Frau P. habe ausgeführt, dass die Hamburgische Verwaltung die Rechtsauffassung nicht teile, die in dem Bescheid zugrunde liege, heißt es im Protokoll. Christian Olearius erklärt in der Sitzung, die Maßnahme lasse an rechtsstaatlichen Grundsätzen zweifeln, sei offenbar politisch motiviert, juristisch kaum zu begründen.
Vor Gericht wird P. das Protokoll der Sitzung gezeigt. Mehrfach hakt der Richter nach. Das sei „wahrscheinlich“ kein Thema für eine Besprechung mit der Bank, weicht Frau P. aus, sie glaube nicht, dass sie das so gesagt habe. Der Richter fragt zwei Mal nach, ob sie dann falsch zitiert werde. Sie gehe davon aus, sagt P., sie könne sich jedenfalls nicht genau erinnern.
Doch einiges weist darauf hin, dass Frau P. diese Position durchaus vertrat. Einen Tag später telefoniert sie noch einmal mit einem Mitarbeiter der Bank, das notiert jedenfalls Christian Olearius in seinem Tagebuch. Frau P. habe am Telefon gesagt, die Hamburger Finanzverwaltung sei weiter der Meinung, Warburg habe sich nichts zuschulden kommen lassen. Der Bescheid sei nicht haltbar, die Klagechancen der Bank gut. Sie schäme sich. Das sei kein Rechtsstaat. Olearius war bei dem Gespräch nicht dabei, er berichtet vom Hörensagen. Frau P. soll gegenüber ihrer Chefin später diese Aussage bestritten haben, so berichtete diese vor Gericht.
Inhaltlich dürften die Aussagen dennoch ihrer Meinung entsprechen. Wenige Wochen später notiert Frau P. selbst über ein Gespräch mit der Steuerfahndung in NRW, sie habe den Fahndern gesagt, dass sie die von ihr selbst unterschriebenen Bescheide für rechtswidrig halte. Und sie habe erwähnt, dass sie die Entscheidung des Bundesfinanzministeriums für rein politisch halte und es für die Behörde recht unangenehm sei, diesen Bescheid jetzt rechtmäßig machen zu müssen.
Zu diesem Zeitpunkt hat der nächste Kampf bereits begonnen. Frau P. ist nun ein Zahnrad im großen Streit zwischen Hamburg, Berlin und der Warburg-Bank.

Hier geht es zu Teil 3 des Warburg-Dramas: Welchen Einfluss nahm Peter Tschentscher?

Hinweis: In einer älteren Version des Artikels stand, Frau P. habe Katharina Olearius gekannt. In einem offiziellen Vermerk des Finanzamts, den [Medium] einsehen konnte, schrieb eine Finanzbeamtin, Frau P. habe ihren Mitarbeitern erzählt, auf einer Petersilienhochzeit Katharina Olearius zu treffen. [Medium] hat Frau P. die Möglichkeit gegeben, dazu Stellung zu nehmen. Sie antwortete nicht und verwies an die Hamburger Finanzbehörde, die die Frage mit Verweis auf das Steuergeheimnis nicht beantwortete, ob Frau P. mit Frau Olearius bekannt war. Im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss in Hamburg bestätigten Vertreter der Warburg-Bank nun die gemeinsame Einladung zu einer Petersilienhochzeit. Katharina Olearius und ihr Mann hätten aber an der Veranstaltung nicht teilgenommen, man kenne sich persönlich nicht. Wir haben die Passage dementsprechend ergänzt. Den Satz Frau P. habe Katharina Olearius gekannt, haben wir gestrichen.

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Das Warburg-Drama, Teil 3: Welchen Einfluss nahm Peter Tschentscher?
Ein Untersuchungsausschuss will in Hamburg herausfinden, ob Olaf Scholz oder Peter Tschentscher (beide SPD) Einfluss auf eine Entscheidung des Finanzamts genommen haben, auf Millionen von Steuerzahlungen der Privatbank Warburg zu verzichten.

Heute Bürgermeister, damals Finanzsenator: Peter Tschentscher
90 Millionen Euro aus Cum-ex-Geschäften wollte die Stadt Hamburg der Privatbank Warburg erlassen. Wenn es nach den Verantwortlichen um SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz (62) und Hamburgs SPD-Bürgermeister Peter Tschentscher (55) geht, war das alles ganz normaler Behördenalltag. Reporter des [Mediums] haben mehr als 20.000 Seiten Akten zu dem Fall eingesehen. Wir erzählen den Hamburger Behördenkrimi als Serie. In Teil 1 können Sie nachlesen, wie in der Hamburger Finanzbehörde der Krieg der Vermerke ausbrach. Teil 2 geht der Frage nach, warum die Finanzbeamtin P. erst die Millionen zurückfordern wollte und dann einen besonderen Draht zur Bank entwickelte. Hier lesen Sie Teil 3: Welchen Einfluss nahm Peter Tschentscher?

Wer die Hamburger Lokalpresse liest, kann den Eindruck gewinnen, der Hamburger Untersuchungsausschuss zur Cum-ex-Affäre sei überflüssig. Der Drops sei „eigentlich schon vor der ersten Ausschussanhörung gelutscht“, heißt es in der „taz“, es sei unwahrscheinlich, den Beweis zu finden, dass Kanzlerkandidat Olaf Scholz oder Bürgermeister Peter Tschentscher Einfluss auf die Arbeit des Finanzamts nahmen. Und das „Hamburger Abendblatt“ raunte, selbst die Opposition glaube nicht, dass der Ausschuss einen schriftlichen Beleg finde. „Doch man will sich nicht vorwerfen lassen, nicht danach gesucht zu haben.“
Es ist ein erstaunliches Framing, das die Spindoktoren der SPD einigen Lokalreportern eingeflüstert haben. Es gebe eine Brandmauer zwischen Politik und Verwaltung, wird immer wieder geschrieben, ein Finanzsenator mische sich nicht in konkrete Steuerverfahren ein. Und um politisch auf eine Entscheidung Einfluss zu nehmen, so die Logik, müsse ein Politiker eine schriftliche Anweisung geben.
Götz Wiese (55) ist CDU-Abgeordneter im Untersuchungsausschuss, ein Quereinsteiger im parteiübergreifend eng vernetzten Hamburger Hobby-Politikbetrieb. Wiese, im Leben neben dem Teilzeitparlament ein renommierter Steueranwalt und Professor an der privaten Hochschule Bucerius Law School, ist entsetzt über die Form der Argumentation. Mehrfach rutscht ihm das Wort „Unfug“ durch. „Es gibt keine Brandmauer zwischen Steuerverwaltung und Senat“, sagt er. „Steuern werden von den Ländern verwaltet, und die letzte Verantwortung dafür trägt die Landesregierung. In Hamburg sind das der Bürgermeister und der Finanzsenator.“

Politische Einflussnahme funktioniert meist subtiler als über direkte Weisungen. „Jeder Behördenchef weiß natürlich, wie er Entscheidungen in seiner Behörde auch ohne Anweisung beeinflusst“, sagt einer, der viele Jahre lang in Hamburg eine Behörde geleitet hat. „Vielen Mitarbeitern ist außerdem klar, dass es oft sinnvoll ist, Dinge in persönlichen Gesprächen ohne Protokoll zu klären.“ Er hält es aus der Erfahrung für ausgeschlossen, dass eine Entscheidung der Größenordnung des Warburg-Falls gegen den Willen eines Senators getroffen werde.
Wie grazil politische Einflussnahme in der Realität funktioniert, weiß auch Thomas Eigenthaler (62). Er vertritt als Chef der Deutschen Steuer Gewerkschaft die Finanzbeamten. „Wenn ein Steuerbeamter erfährt, dass der Steuerpflichtige sich mit einem Regierungschef trifft, dass der Steuerpflichtige oben in der Verwaltung Papiere einspeist, wird er vorsichtig. Dann fühlt er sich natürlich nicht mehr so frei in seiner Entscheidung wie vorher“, sagt er. „Selbst ein unverfängliches Treffen hinterlässt den Anschein, dass die Politik Einfluss nehmen könnte, und übt dadurch indirekt Druck aus.“ Seine Einschätzung zum Fall Warburg ist unmissverständlich: „Es ist für alle Beteiligten das Beste, wenn sich Politiker aus Einzelfällen völlig heraushalten. Sonst ist Ärger programmiert.“
Die eigentliche Frage lautet also: Wo beginnt politischer Einfluss? Und wo wäre politische Verantwortung nötig? Bislang ist das Bild unvollständig, bis heute verweigert der Senat dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss Akten zur Kommunikation in den Behörden. Aber schon jetzt ist klar: Peter Tschentscher hielt sich nicht raus. Er ließ sich auch nicht nur passiv berichten, sondern wurde aktiv, stellte Fragen, sprach mit Beamten über den Fall. Mehr noch: Unter seiner Verantwortung und Kenntnis scheint die Behörde irgendwann stärker daran zu arbeiten, die Bank vor einer Zahlung zu bewahren als das Geld der Steuerzahler zu retten.

Eine Entscheidung mit Wissen des Senators

Die Geschichte beginnt mit einem Paukenschlag. Spätestens am 24. Februar 2016 weiß in den Machtzirkeln in der Hamburger Innenstadt jeder, dass gegen die Privatbank Warburg im großen Stil wegen Cum-ex-Geschäften ermittelt wird. An diesem Tag berichtet die „Süddeutsche Zeitung“ über eine Razzia, die einen Monat zuvor bei der Bank stattgefunden hat. Am gleichen Tag informiert die zuständige Finanzamtsmitarbeiterin Frau P. (53) ihre Vorgesetzte per Mail über die Ermittlungen. Es gehe um 90 Millionen Euro, man müsse bald entscheiden, da eine Verjährung drohe.
Wenige Wochen später, am 14. April, setzt Frau P. die Finanzbehörde, in Hamburg das Landesfinanzministerium, über den Verdacht in Kenntnis. Von 180 Millionen Euro seien etwa 100 Millionen Euro noch nicht verjährt, schreibt sie. Die zuständige Mitarbeiterin bittet, auf dem Laufenden gehalten zu werden. Sie fordert Frau P. auf, sie solle angesichts der Verjährung versuchen, den Kopf nicht zu früh in den Sand zu stecken, und gibt dazu juristische Ratschläge.

Spätestens jetzt ist den Mitarbeitern in Tschentschers Finanzbehörde klar, dass es in der Finanzverwaltung einen Cum-ex-Fall gibt, bei dem es um einen möglicherweise dreistelligen Millionenbetrag geht. Ob es in der Behörde danach weitere Beschäftigung mit dem Fall oder Diskussionen darüber gab oder ob bei der Größenordnung nun schon die Behördenspitze eingeschaltet wurde, ist nicht bekannt. Tschentscher äußert sich zu dem Fall mit Verweis auf das Steuergeheimnis nicht. Der heutige Bürgermeister habe als Finanzsenator nie an der Bearbeitung von Steuerfällen teilgenommen, erklärt die Senatskanzlei allgemein, sei aber in bedeutenden Fällen über das Vorgehen der Verwaltung informiert worden.
Klar ist nur: Sieben Monate später fällt eine erstaunliche Entscheidung.
Nach monatelanger Prüfung ist das Finanzamt Anfang Oktober 2016 sicher: Die Stadt soll die Millionen von Warburg zurückholen, die Beamten bitten die vorgesetzte Behörde um Zustimmung. Eine Woche später gibt es ein erstes zustimmendes Signal aus der Finanzbehörde. Ein Mitarbeiter der für Steuerrecht und Finanzgerichte zuständigen Abteilung hat die Argumentation juristisch geprüft. Diverse inhaltliche Details zu dem Fall, vermerkt der Beamte, könne er nicht beurteilen. Aber das grundsätzliche Vorgehen erscheine vertretbar und das Vorgehen sei juristisch möglich.
Doch die Wege in Hamburg sind kurz. Die Finanzbeamtin Frau P. hat der Bank gesagt, dass der Fall nun zur Entscheidung in der Finanzbehörde liege. Und die bestens vernetzten Bankiers aktivieren ihre politischen Kontakte: Die Bankinhaber treffen sich mit Bürgermeister Olaf Scholz, schicken auf dessen Empfehlung ein Schreiben an Tschentscher.
Am 11. November 2016 erreicht das Schreiben das Senatorenbüro. „Sehr geehrter Herr Senator“, beginnt der Brief. Wegen der Bedeutsamkeit des Vorgangs, schreibt Bankmitinhaber Christian Olearius (78), erlaube er sich, eine Ablichtung eines Schreibens zu senden, das er unlängst an die Finanzbeamtin Frau P. übermittelt habe, die für seine Bank zuständig sei. In diesem Schreiben argumentiert Olearius auf sieben Seiten, dass seine Bank sich immer an die Gesetze gehalten habe. Und dass das Finanzamt bedenken solle, dass eine millionenschwere Rückforderung die Existenz der Bank gefährden könne. Sein Anschreiben an den Senator und damit den Dienstherrn der Finanzbeamtin beendet Olearius mit dem Satz, eine baldige Entscheidung sei im Interesse der Bank.

Tschentscher hat wiederholt betont, er habe großes Vertrauen in die Arbeit der Finanzämter. Dennoch leitet er den Brief, von dem er aus dem Anschreiben wissen muss, dass er bereits bei der zuständigen Stelle im Finanzamt liegt, noch einmal an Angela Nottelmann weiter, die damalige Steuerchefin in seiner Behörde. Oben rechts schreibt er auf den Brief von Olearius „Bitte um Informationen zum Sachstand“, dahinter setzt er seine Paraphe.
Am 15. November kommt das Schreiben in der zuständigen Abteilung an. Als Olearius’ Verteidigungsschrift zu den Akten geheftet wird, ist sie versehen mit weiteren Markierungen. Unter anderem ist eine Passage unterstrichen, in der es um die angebliche „Existenzgefährdung“ der Bank geht. Ob Tschentscher diese Anmerkungen gemacht hat, ist nicht eindeutig festzustellen. Er äußert sich dazu mit Verweis auf das Steuergeheimnis nicht. Ansonsten erklärt die Behörde: Es sei üblich, dass Schreiben aus dem Präsidialbereich in die zuständigen Behörden zur Bearbeitung weitergegeben würden.
Zwei Tage nach der Weiterleitung durch den Senator gibt es in der Finanzbehörde eine Sitzung, neben Nottelmann sind mehrere Verantwortliche der Steuerverwaltung anwesend, außerdem die Finanzbeamtin P. Die Runde fällt eine Entscheidung, die P.s Gutachten ad absurdum führt: Hamburg verzichtet auf die Millionen.
Tschentscher wird über diese Tatsache nicht nur informiert, er stellt sogar aktiv Nachfragen. Fünf Tage nach dem Gespräch, am 22. November 2016, schickt ein Mitarbeiter der Finanzbehörde dem Senator den neuen Vermerk der Steuerbeamtin. Betreff: „Warburg Bank – hier: Ihre Bitte um Information zum Sachstand“. Am nächsten Tag liest Tschentscher das Papier, kennzeichnet es mit seiner Paraphe. Er hat noch zwei Nachfragen zu Details. Wenige Wochen später verjähren die Millionen.

Der Fall Warburg wird endgültig zur Chefsache

Mit der Grundsatzentscheidung im Jahr 2016 scheint die generelle Linie im Fall Warburg nun festgelegt. Trotz zahlreicher neuer Indizien hält das Finanzamt 2017 an seiner Linie fest, die Bank zu schonen. Im Oktober 2017 schreibt die Finanzbeamtin Frau P. vor der drohenden nächsten Verjährung wieder einen Bericht. Sie kommt zum gegenteiligen Ergebnis dessen, was sie ein Jahr zuvor gefordert hatte. Es gebe inzwischen zwar in zwei Fällen harte Beweise, die bezögen sich aber auf das Jahr 2009, das bereits verjährt sei. Für die Geschäfte im nun entscheidenden Jahr 2010 seien keine Beweise vorhanden, nur Indizien. Daher solle auf eine Rückzahlung verzichtet werden.
Explizit bestätigt die Steuerverwaltungschefin der Finanzbehörde und direkte Ansprechpartnerin von Senator Tschentscher, Angela Nottelmann, das Vorgehen.
Doch so einfach ist es nicht mehr. Das Bundesfinanzministerium hat durch eine Abfrage von Hamburg erfahren, dass die Stadt Cum-ex-Millionen verjähren lassen will. Der zuständige Unterabteilungsleiter aus Berlin lässt die Hamburger wissen, dass der Bund erhebliche Bedenken habe, er bitte darum, die Verjährung zu unterbrechen.
Doch Hamburg will nicht. Am 16. November versuchen die Ermittler aus Bonn und die Beamten aus Berlin in einem Krisengespräch ihre Hamburger Kollegen zu überzeugen. Hamburg ist uneinsichtig, am Ende gibt es eine klare Ansage vom Bund: Das Geld muss zurückgeholt werden.
Von diesem Gespräch erfährt nun auch Tschentscher offenbar schnell. Noch am gleichen Tag wolle der zuständige Abteilungsleiter eine „Unterrichtungsvorlage an den Senator“ schreiben, heißt es in einem Vermerk. Die Strategie der Hamburger lautet nun: Eskalation. Tschentscher trägt diese Linie mit. Steuerverwaltungschefin Angela Nottelmann schickt ein weiteres zweiseitiges Schreiben nach Berlin, protestiert gegen die Weisung. Die Bank werde in ihrer Existenz gefährdet. In den Akten wird vermerkt, dass das Schreiben z. K. v. A. – zur Kenntnis vor Abgang – an den Senator gegangen sei.
Die Finanzbehörde, so scheint es in den Akten, ist nun vor allem daran interessiert, die Bank zu schonen. Die Staatsanwaltschaft Köln versucht noch, es den Hamburgern leichter zu machen, schickt neue Vernehmungsprotokolle. Ein weiterer Kronzeuge, ein britischer Aktienhändler, hat detaillierte und belastende Angaben zu den Warburg-Geschäften gemacht.

Frau P. und der zuständige Abteilungsleiter tauschen sich per Mail aus, warum auch das nicht ausreicht. Der Händler habe schließlich, schreibt der Abteilungsleiter, nicht über das derzeit strittige Jahr geredet, sondern über ein bereits verjährtes. Für das streitige Jahr habe der Zeuge keine eigenen Wahrnehmungen. Frau P. bestätigt diesen Eindruck.
Obwohl es nun mehrere Zeugen gibt, die erklärt haben, dass die Geschäfte ihrer Ansicht nach illegal waren, obwohl bei einzelnen Geschäften aus Vorjahren sogar nachgewiesen werden kann, dass Warburg eine Steuer erstattet bekam, die vorher nicht gezahlt wurde – Hamburg bleibt bei seiner Position: Das Risiko sei zu hoch, die Millionen vor der Verjährung zu bewahren und die Sachlage in einem Gerichtsprozess klären zu lassen.
Offenbar direkt eingeweiht ist dabei Peter Tschentscher. Am 13. Dezember schreibt der Abteilungsleiter der Finanzbehörde eine Mail an seine Vorgesetzte Frau Nottelmann. Senator Tschentscher habe ihn angerufen. „Er weiß, dass er 'nur' über Sie eine Sachstandsinformation bekommen wird.“ Das Wort „Sie“ ist in der Mail unterstrichen, das „nur“ steht in Anführungszeichen. Tschentscher äußert sich zu dem Vorgang mit Verweis auf das Steuergeheimnis nicht.
Am 31. Januar 2018 spricht Tschentscher in der Bürgerschaft über den Fall Warburg, nachdem die „Süddeutsche Zeitung“ über die Weisung berichtet hat. Der Senat lasse „die Finanzämter nach Recht und Gesetz ihre Arbeit machen“ und nehme „"keinen Einfluss auf deren Entscheidungen, schon gar nicht in konkreten Einzelfällen“, sagt Tschentscher. Eine politische Einflussnahme gebe es nicht, sie wäre "„rechtswidrig und würde von den Finanzämtern gar nicht akzeptiert werden“.
Eine gute Woche später, am 8. Februar, schreibt der zuständige Abteilungsleiter der Finanzbehörde wegen des Warburg-Falls an Frau P.: Senator Tschentscher habe sich zustimmend zu der Idee geäußert, den Bund offensiv in die Einspruchsbearbeitung einzubeziehen und auch zeitlich „'unter Druck zu setzen'“, sodass er das jetzt umsetzen werde. Das „unter Druck zu setzen“ setzt er wie zum Zitat in Anführungszeichen. Hat Tschentscher hier etwa aktiv Anweisungen gegeben, wie in diesem Steuerfall zu verfahren ist? Er äußert sich mit Verweis auf das Steuergeheimnis dazu nicht.

Hamburg bleibt stur

Nur wenige Wochen später wechselt Bürgermeister Scholz als neuer Vizekanzler und Finanzminister nach Berlin, sein Nachfolger im Hamburger Rathaus wird Peter Tschentscher. Der Streit zwischen dem neuen Ministerium von Scholz und der alten Behörde von Tschentscher geht weiter. Wenige Monate nach Amtsantritt versetzt Scholz den Chef der Steuerabteilung in Berlin, Michael Sell, der die harte Linie durchgesetzt hatte, in den einstweiligen Ruhestand.
Im Fall Warburg weitet die Staatsanwaltschaft im März 2018 die Ermittlungen auf weitere Manager der Bank aus, nun werden auch die Privatanwesen der Bankchefs durchsucht. Die Finanzbehörde sieht allerdings weiter keinen Grund, ihre Meinung zu ändern.
Zwei weitere Jahre später, im Frühjahr 2020, entscheidet sich die Behörde in Hamburg, die Millionen doch zurückzufordern. Nachdem die Verjährung von 2016 öffentlich geworden ist. Und ein Urteil in Bonn Warburg ebenfalls zur Rückzahlung verpflichtet, gegen das Warburg Einspruch eingelegt hat. Die Entscheidung wird einen Tag vor dem Beginn der Koalitionsgespräche zwischen SPD und Grünen in Hamburg dem „SPIEGEL“ gesteckt. 160 Millionen Euro will Hamburg jetzt zurück. Darin enthalten sind auch die verjährt geglaubten Jahre. Warburg klagt gegen die Forderung. Ein wichtiges Argument: Teile der Zahlungen seien bereits verjährt.

Lesen Sie in Teil 4 unserer Serie über den roten Filz in Hamburg: Warum die Beziehung zwischen Christian Olearius, Olaf Scholz und der SPD so besonders ist.

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Das Warburg-Drama, Teil 4: Olaf Scholz, die SPD und der Privatbankier
Traditionell pflegt die SPD in Hamburg enge Kontakte zur Wirtschaft. Der Fall der Privatbank Warburg ist ein Paradebeispiel von rotem Filz. Mittendrin: SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz.

90 Millionen Euro aus Cum-ex-Geschäften wollte die Stadt Hamburg der Privatbank Warburg erlassen. Wenn es nach den Verantwortlichen um SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz (62) und Hamburgs SPD-Bürgermeister Peter Tschentscher (55) geht, war das alles ganz normaler Behördenalltag. Reporter des [Mediums] haben mehr als 20.000 Seiten Akten zu dem Fall eingesehen. Wir erzählen den Hamburger Behördenkrimi als Serie. In Teil 1 können Sie nachlesen, wie in der Hamburger Finanzbehörde der Krieg der Vermerke ausbrach. Teil 2 geht der Frage nach, warum die Finanzbeamtin P. erst die Millionen zurückfordern wollte und dann einen besonderen Draht zur Bank entwickelte. In Teil 3 haben wir uns der Rolle des damaligen Finanzsenators Tschentscher gewidmet, der tiefer mit dem Fall beschäftigt war, als er zugegeben hat. Hier lesen Sie Teil 4 über den roten Filz in Hamburg und Olaf Scholz.

Spätestens an diesem Mittwochabend im Oktober 2016 dürfte Olaf Scholz (62) wissen, was er tut. Für den Termin hat die Hamburger Senatskanzlei dem Ersten Bürgermeister, der als penibler Aktenleser bekannt ist, keine Unterlagen vorbereitet. Die braucht Scholz nicht. Mehrfach hat er bereits mit dem heiklen Thema zu tun gehabt, wenige Wochen zuvor waren die beiden älteren Herren schon einmal zu Besuch. Das Gespräch führt er allein, niemand außer den Gästen wird bezeugen können, was besprochen wird.
Christian Olearius (78) und Max Warburg (73), Mehrheitseigentümer der Privatbank M.M.Warburg, haben ein Problem. Ihre Bank war im großen Umfang an sogenannten Cum-ex-Geschäften beteiligt. Bei diesen Kreisgeschäften mit Aktien ließen sich Investoren Steuern auszahlen, die zuvor nie gezahlt wurden. Die Bank hat so Traumrenditen und Millionengewinne eingefahren. Warburg und Olearius sagen, sie hätten nicht gewusst, dass bei den Geschäften Illegales vor sich gegangen sei. Doch die Staatsanwaltschaft glaubt ihnen nicht. Auch das Finanzamt ist skeptisch: In diesen Wochen im Herbst 2016 muss die Scholz unterstellte Finanzbehörde entscheiden, ob sie 47 Millionen Euro von der Bank zurückholt, die sonst verjähren.
Für die Banker geht es also um sehr viel Geld an diesem 26. Oktober 2016. Sie wissen, dass das Finanzamt das Geld wiederhaben will. Und sie wissen, dass die Behörde als oberste Instanz in Steuerfragen der Hansestadt die endgültige Entscheidung darüber bald trifft. Drei Wochen nach dem Gespräch zwischen Bürgermeister Scholz und den Bankern wird in der Behörde beschlossen, dem Plädoyer des Finanzamts nicht zu folgen, sondern auf die Millionen Euro zu verzichten.

Alle Beteiligten bestreiten, dass der Termin beim Ersten Bürgermeister der Hansestadt einen Einfluss auf die Entscheidung hatte. Scholz habe gefragt, zugehört, keine Meinung geäußert, nichts durchblicken lassen, notierte Bankier Olearius nach dem Treffen. Scholz sagt, das Gespräch sei in seinem Kalender verzeichnet, er habe aber keine Erinnerung. Seine grundsätzliche Linie in Gesprächen zu Steuersachen sei es, keine Einschätzung zu äußern und höchstens Nachfragen zu stellen. Er habe nie in ein laufendes Verfahren eingegriffen.

Eine Menge offener Fragen

Die Opposition in der Hamburgischen Bürgerschaft hält das für wenig plausibel. In einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss will sie die Vorfälle aufklären. Dort wird der SPD-Kanzlerkandidat aussagen müssen. Die SPD sieht darin eine reine Wahlkampfveranstaltung. Doch schon zu dem Termin im Rathaus im Oktober 2016 stellen sich eine Reihe Fragen:
Die Ermittlungen gegen die Bank waren öffentlich, Medien hatten prominent berichtet, dass den Bankchefs Steuerbetrug vorgeworfen wird. Zwei einflussreiche SPD-Mitglieder waren als Berater der Bank eingebunden, mindestens mit einem von ihnen hat Scholz gesprochen. Schon Anfang September hat Scholz die Banker zudem getroffen, so steht es in seinem Kalender, laut Aufzeichnungen von Olearius spricht er schon da mit ihnen über das Cum-ex-Verfahren. Das zweite Treffen wird zudem, so notiert es Olearius, explizit vereinbart, als die Bank erfährt, dass die Millionen vom Finanzamt zurückgefordert werden sollen.
Warum empfängt Scholz die Banker mit ihrem heiklen Anliegen erneut? Warum führt er das Gespräch allein? Und hat er damals eine klare Meinung zu Cum-Ex-Geschäften geäußert, die er heute als eine Riesensauerei bezeichnet?
Olearius und Warburg haben damals ein Papier mitgebracht, auf sieben Seiten argumentieren sie darin, warum die Warburg Bank keinen Fehler gemacht habe. Und dass die Existenz der Bank auf dem Spiel stehe. Oben auf dem Schreiben steht prominent der Name der zuständigen Finanzbeamtin. Scholz wusste offenbar, dass das Papier auf dem Weg an die richtige Stelle war. Dennoch ruft er zwei Wochen nach dem Gespräch bei Olearius an. Er fordert ihn auf, das Papier ohne weitere Bemerkungen an den Finanzsenator zu schicken, den heutigen Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD). Tschentscher gibt den Brief in die Behörde, wenige Tage danach wird entschieden. Doch das Papier, das die Bankiers Scholz übergaben, ist verschwunden. Auf Nachfrage des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses erklärt die Senatskanzlei, es gebe zu dem Verfahren keine Akten.
Warum wurde das Schreiben nicht ordnungsgemäß zu den Akten genommen? Was ist mit dem Papier passiert? Wieso gibt es zu diesem Vorgang keinerlei Unterlagen? Und warum empfahl Scholz, das Papier an den vorgesetzten Politiker zu schicken, nicht an das zuständige Finanzamt?
Das sind Fragen, die nun der Untersuchungsausschuss klären will. Wer den Rahmen aufzieht, sich anschaut, wie die SPD über Jahre Olearius umschwirrte, welche Verbindungen es gibt, der lernt viel über den Politiker Olaf Scholz. Und über die Hamburger SPD, deren Chef er viele Jahre war. Es ist eine Geschichte von rotem Filz und vielen Grauzonen. Sie beginnt vor mehr als zehn Jahren.

Der Kandidat, der Banker und der General

Im Jahr 2010 erkennt der abgewählte Bundesminister Olaf Scholz seine Chance. Seit der Bundestagswahl einige Monate zuvor ist Scholz kein Minister mehr, nur noch einfacher Abgeordneter. In Berlin regiert die CDU nun mit der FDP. Für Scholz bleibt die Oppositionsbank und kleinteilige Arbeit in Fachausschüssen. Spannender ist es da in Hamburg. Die erste schwarz-grüne Koalition auf Landesebene hat abgewirtschaftet, Bürgermeister Ole von Beust (66) ist amtsmüde.
Olaf Scholz ist damals gerade zum Landesvorsitzenden der SPD in Hamburg gewählt worden, hat die zerstrittene Partei geeint. Um Bürgermeister von Hamburg zu werden, braucht es allerdings die Unterstützung weiterer Kreise. „In Hamburg ist gegen die Elbchaussee keine Wahl zu gewinnen“, sagt Scholz in vertrauter Runde.
Die Elbchaussee ist das Symbol für den Wohlstand in Deutschlands zweitgrößter Stadt. Gesäumt von Villen und Herrenhäusern, schlängelt sie sich 8,6 Kilometer von Altona, wo Scholz seit Studentenzeiten in einer Seitenstraße wohnt, stromabwärts hinaus in die noblen Elbvororte. Sie endet in Blankenese, dem Millionärsviertel Hamburgs. Dort, versteckt in einer riesigen Parkanlage, residiert der Privatbankier Christian Olearius.
Olearius ist in der Stadt ein einflussreicher Mann, seine Bank eine Institution. M.M. Warburg & CO, so der offizielle Name, verwaltet Milliarden für die Vermögenden der Stadt. Gern rühmt man sich im wuchtigen Hauptgebäude unweit der Alster, dass die 1798 gegründete Bank älter sei als das Rathaus. Ein Symbol für die gefühlten Machtverhältnisse. Olearius ist nicht nur Banker: Er verhandelte für die Stadt den Kauf von 40.000 Wohnungen aus dem gescheiterten Unternehmen Neue Heimat; er rettete das Hamburger Stahlwerk; er sammelte Spenden für die Elbphilharmonie und schmiedete ein Konsortium zur Rettung der Reederei Hapag-Lloyd.

Der ambitionierte Scholz will diesen Olearius treffen. Doch am 29. März 2010 hat Olearius keine Zeit für den Bundestagsabgeordneten. Joachim Olearius (50), der Sohn des Bankiers, soll sich mit diesem „SPD-Mann Scholz“ treffen, notiert der Banker in seinem Tagebuch, das die Staatsanwaltschaft beschlagnahmt hat.
Doch schon bald ändern sich die Verhältnisse. Bürgermeister Ole von Beust ist abgetreten. Am Nachmittag des 6. Oktober 2010 empfängt der Bankier Scholz doch noch. Der Politiker sei kleiner als gedacht, notiert Olearius. Fast eineinhalb Stunden unterhalten sich der Privatbankier und der Sozialdemokrat, Scholz sei konstruktiv und kundig, notiert Olearius, mache einen klugen Eindruck.
Das Treffen hat ein alter Kontaktmann eingefädelt: Alfons Pawelczyk (88), SPD-Urgestein, ehemaliger zweiter Bürgermeister der Stadt. Pawelczyk ist selbst in Hamburg nur wenigen ein Begriff. In der SPD der Hansestadt ist er aber eine heimliche Institution, die graue Eminenz, sie nennen ihn „General“. Der ehemalige Offizier saß im Bundestag, war Mitglied im SPD-Landesvorstand, wurde später Innensenator und zeitweise Zweiter Bürgermeister unter Klaus von Dohnanyi (92). Mit Ende 50 schied er aus der Politik aus, um als Lobbyist seine Kontakte zu Geld zu machen, war in den 90ern bei Daimler Benz, arbeitete später als Berater, auch für die Warburg Bank. Seine große Stärke: das Strippenziehen. Im Rathaus brauchte Pawelczyk bis vor wenigen Jahren keinen Termin, um beim Bürgermeister vorgelassen zu werden.

Christian Olearius schätzt Pawelczyk und seine Kontakte. In seinem Tagebuch erscheint der Ex-Politiker als Allzweckwaffe. Er vermittelt hinter den Kulissen, als Olearius beim Bauamt Schwierigkeiten mit der Erweiterung der Villa hat. Er öffnet Türen zu Politikern, denen Olearius Lobbyanliegen vorträgt. Und er vermittelt bei Deals. 2006 etwa hilft Pawelczyk auf Bitten von Olearius einem Immobilieninvestor beim Anbahnen eines Geschäfts. Im Tagebuch notiert der Bankier, dass Pawelczyk für seine Dienste 500.000 Euro bekommt. Pawelczyk hat sich dazu auf Anfrage von [Medium] nicht geäußert.

Ein respektierter Bürger der Stadt

Am 7. März 2011 wird Scholz als Bürgermeister von Hamburg vereidigt, fünf Tage später hat er Besuch von Pawelczyk als Emissär von Olearius. Der Privatbankier erhofft sich Hilfe bei der Durchsetzung einer Personalie im Aufsichtsrat von Hapag-Lloyd. Drei Jahre zuvor wollte Tui die Hamburger Reederei abstoßen. Eine Hamburger Investorengruppe um Olearius beteiligte sich am Bieterverfahren, vordergründig um zu verhindern, dass Hapag-Lloyd von einer Reederei aus Singapur übernommen wird.

Olearius und seine Warburg Bank investieren bei dem Milliardendeal einen zweistelligen Millionenbetrag. Die Stadtväter überredet er, 484 Millionen Euro an Steuergeldern zu investieren. Olearius geht als Retter der Reederei in die Annalen ein.
Im ersten Jahr als Bürgermeister trifft sich Scholz zweimal mit Olearius. Einmal zusammen mit anderen Hamburger Bankern zum Gedankenaustausch im Rathaus. Das andere Mal zu einem vertraulichen Vier-Augen-Gespräch, wie der Bankier in seinem Tagebuch notiert. Es geht erneut um Hapag-Lloyd. Später wird Hamburg weitere 420 Millionen Euro an Steuergeldern investieren, mit 36,9 Prozent größter Einzelaktionär von Hapag-Lloyd werden.
Auch bei einem anderen prestigereichen Projekt ist Olearius beteiligt: der Elbphilharmonie. Bei dem Konzerthaus explodieren die Kosten, am Ende wird der Bau elfmal so viel kosten wie ursprünglich geplant: mehr als 800 Millionen Euro. Ein Dauerthema in Hamburg, das Scholz wie Hapag-Lloyd von seinem Vorgänger geerbt hat. Olearius sitzt in der Stiftung Elbphilharmonie und sammelt mit anderen reichen Hamburgern insgesamt knapp 70 Millionen Euro. Zwölf vermögende Hamburger Bürger oder Familienstiftungen spenden jeweils mehr als eine Million Euro. Sie werden dauerhaft als Mäzene in der Stifterliste der Elphilharmonie geführt. Olearius spendet einen geringeren Betrag, genießt aber auch hier den Ruf des Retters.

Im Mai 2012 feiert Olearius 70. Geburtstag. Scholz, so berichtet Pawelczyk dem Bankier, hat sich vorher bei seinen Vorgängern erkundigt, ob er am Fest teilnehmen soll. Schließlich hält er die Festrede, feiert den Privatbanker als „Feuerwehrmann“ der Stadt und sagt einen Satz von nahezu seherischer Qualität: „Der Umgang mit Geld – auch und gerade mit dem, das man nicht hat – ist gefährlicher und hat viel längerfristige Folgen.“ Olearius ist etwas enttäuscht, notiert er in seinem Tagebuch, dass er von Scholz lediglich eine Uhr bekommen hat, keinen Orden.

Olearius im Fadenkreuz der Ermittler

Unter der Hand erzählt man sich in den besseren Hamburger Kreisen schon lange, dass Olearius, den Freunde Olli nennen, ein Schlitzohr ist. Öffentlich bekommt sein Ruf Anfang 2016 mächtig Kratzer. Die Staatsanwaltschaft durchsucht wegen der Cum-ex-Geschäfte die Bank, auch gegen Olearius persönlich wird ermittelt. Die Bankenaufsicht Bafin schickt Prüfer ins Haus. Und auch die Betriebsprüfer des Finanzamts nehmen die Privatbank wegen ihrer Cum-ex-Geschäfte unter die Lupe. Olearius hält sich für unschuldig, bis heute erklärt er, er habe niemals etwas Illegales tun wollen und von möglicherweise nicht rechtmäßigen Vorgängen nichts gewusst.
Zuspruch erhält Olearius aus den Reihen der SPD. Pawelczyk habe ihm eingeimpft, nicht einzulenken und standhaft zu bleiben, notiert der Privatbankier in seinem Tagebuch. Er solle seine Ansprüche verteidigen und nicht zu früh einknicken, auch nicht der Bafin gegenüber. Für die Unterstützung des Bankiers zieht Pawelczyk Johannes Kahrs (57) hinzu, haushaltspolitischer Sprecher der SPD im Bundestag, Vorsitzender des mächtigen Seeheimer Kreises. Beide SPD-Politiker äußern sich auf Anfrage zu ihrer Beratungstätigkeit nicht.

Kahrs war von 1989 bis 1991 Persönlicher Referent von Pawelczyk, in der gleichen Zeit war er Vorsitzender der Burschenschaft Wingolfsbund. 2014 stellt Pawelczyk Kahrs Olearius vor. Kahrs sei Bundesbruder, könne vielleicht von Nutzen sein, notiert Olearius anschließend, ebenfalls ehemaliges Mitglied des Wingolfsbunds. Nun, zwei Jahre später, beschreibt Olearius, wie Kahrs für ihn seine Kontakte in die Berliner Ministerien zu nutzen versucht.
Doch die Vorwürfe gegen die Bank sind nicht ganz einfach auszuräumen. Im Sommer 2016 notiert Olearius, der Fall habe politische Dimensionen. Er munitioniert Pawelczyk mit Unterlagen. Der Consigliere der SPD soll das Gespräch mit Scholz suchen.
Pawelczyk hat ein klares Ziel, notiert jedenfalls Olearius. Er wolle, dass der Bürgermeister die Sache persönlich in die Hand nimmt. Vorsorglich kümmert er sich offenbar für Olearius um eine Audienz beim Bürgermeister. Scholz geht jedoch in wenigen Tagen in Urlaub. Aber Pawelczyk bekommt vorher noch einen Termin im Rathaus. Anschließend soll er Olearius berichtet haben, Scholz gehe der Sache nach. Der Bürgermeister wisse um die Eilbedürftigkeit, notiert Olearius am 4. August 2016 im Tagebuch, es könne sein, dass er Scholz im Urlaub aufsuchen müsse.
Olaf Scholz hat eingeräumt, dass der Termin mit Pawelczyk in seinem Kalender vermerkt ist, er habe aber keine konkrete Erinnerung. Wie genau das Gespräch ablief, bleibt unklar. Aber offenbar hat Olearius den Eindruck gewonnen, dass er in der Sache den Bürgermeister sogar in dessen Urlaub besuchen kann.
Wenige Wochen später treffen sich Scholz und Olearius persönlich. Es ist bereits Abend, 18.45 Uhr, als Scholz am 7. September 2016 im Rathaus Olearius und Warburg empfängt. Olearius verweist auf die rechtliche wie auch miserable wirtschaftliche Situation der Bank. Scholz habe aufmerksam zugehört und kluge Fragen gestellt, notiert Olearius anschließend. Eineinhalb Stunden dauert das vertrauliche Gespräch. Der Bürgermeister verspreche nichts, erwarte aber, in dieser Angelegenheit auf dem Laufenden gehalten zu werden, schreibt der Bankier. Olearius könne sich jederzeit bei ihm melden.
Bereits drei Wochen später ist es so weit. Die für Warburg zuständige Finanzbeamtin teilt der Bank mit, sie arbeite an einem Entscheidungspapier für die Finanzbehörde, in Hamburg das Finanzministerium. Olearius notiert im Tagebuch, er habe Pawelczyk informiert, der umgehend Scholz unterrichtet habe.

Zu Dank verpflichtet

Am 5. Oktober 2016 schreibt das Finanzamt seinen Bericht an die vorgesetzte Finanzbehörde. Ergebnis: Das Geld soll zurückgefordert werden. Als Olearius zwei Tage später davon erfährt, bittet er auf Rat von Pawelczyk beim Sekretariat von Scholz um einen dringenden Termin. Wenig später kommt die Bestätigung. Scholz steht am 26. Oktober zur Verfügung.
Olearius orchestriert jetzt einen Abwehrkampf. Er trifft sich mit Pawelczyk und Kahrs. Der SPD-Bundestagsabgeordnete wolle vor dem Termin von Olearius selbst mit Scholz über das Thema sprechen, notiert Olearius. Parallel kündigt Kahrs an, in Berlin zu intervenieren. Dort beschäftigt sich ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss mit Cum-ex. Olearius ist als Zeuge geladen. Kahrs will sich um eine Aussetzung der Ladung oder zumindest eine Verzögerung bemühen, schreibt Olearius in seinem Tagebuch.
Für das Treffen mit Scholz lässt der Bankier seine Berater ein Papier verfassen. Auf sieben Seiten wird die Sicht der Bank dargelegt. Eine Rückforderung der Steuern, schreiben die Banker, könne zu einer Existenzgefährdung der Bank führen.
Zwei Wochen nach dem Treffen, am 9. November 2016, ruft Scholz bei Olearius an. Er fordert den Bankier auf, das Schreiben, das Olearius ihm übergeben hat, ohne weitere Bemerkung an Finanzsenator Tschentscher zu schicken. So notiert es Olearius im Tagebuch. Er habe nicht weiter nachgefragt, sich für das Telefonat bedankt und das Schreiben an Tschentscher geschickt.
Am 17. November 2016, acht Tage nach dem Anruf von Scholz, wird in der Finanzbehörde entschieden, die 47 Millionen Euro verjähren zu lassen. Zwei Tage später begegnen sich Scholz und Olearius bei der Trauerfeier für die verstorbene Kultursenatorin Barbara Kisseler. Scholz hält die Trauerrede. Die Rede sei der Verstorbenen gerecht geworden, notiert Olearius im Tagebuch: Geistvoll, abwechslungsreich und feinfühlig. Für ein Gespräch mit Scholz ist keine Zeit. Der Bankier drückt Scholz vor der Saaltür die Hand und sagt nur: „Danke!“ Wofür, ist dem Tagebuch nicht zu entnehmen.
Auch bei Kahrs und Pawelczyk bedankt sich der Bankier. Als er Pawelczyk von der Verjährung berichtet, notiert Olearius, dieser spreche sich auch einen Anteil an der positiven Wendung zu. Offenbar weiß der Bankier, was er den beiden SPD-Männern zu verdanken hat. Zwei Tage vor Heiligabend, am Donnerstag, den 22. Dezember 2016, lädt er sie zum vorweihnachtlichen Lunch ein, als Dank für die Hilfestellung, wie er im Tagebuch notiert.

Die Welt außerhalb Hamburgs

Es bleibt nicht der einzige Dank. Monate später notiert Olearius im Tagebuch, Kahrs sei ein Spender abgesprungen. Er habe die Hälfte gewährt. 13.000 Euro. Vier Tage später, am 11. September, registriert die Hamburger SPD eine Spende über 13.000 Euro von einer Firma, an der Olearius beteiligt ist. Weitere Firmen, an denen Olearius Anteile hält, spenden 2017 insgesamt 45.500 Euro an die SPD. Den größten Teil davon erhält der Kreisverband Mitte, dessen Vorsitzender Johannes Kahrs ist. Die SPD teilt heute mit, man habe diese Spende damals geprüft und für in Ordnung befunden, sie sei auch nach der Berichterstattung über Kahrs’ Engagement für Olearius nicht zurückgezahlt worden. Dem Vorstand sei keine Beratertätigkeit bekannt, teilt die SPD mit.
Doch Olearius muss bald feststellen, dass sein Einfluss außerhalb Hamburgs begrenzt ist. Das Bundesfinanzministerium greift ein, zwingt Hamburg, eine Verjährung von weiteren 43 Millionen Euro zu verhindern. Wieder bestellt der Bankier seine SPD-Emissäre ein. Kahrs, so notiert es Olearius im Tagebuch, will sich in Berlin einen Durchblick über die politische Situation verschaffen. Doch der SPD-Mann kann im Bundesfinanzministerium nichts ausrichten. Olearius notiert, Kahrs habe vorgeschlagen, die Angelegenheit in Berlin wieder anzusprechen, sobald die SPD nach erfolgreichen Koalitionsverhandlungen den Finanzminister stellt.

Scholz ist nun auf dem Sprung zurück nach Berlin, gilt als möglicher neuer Vizekanzler. Anfang Januar 2018 wagt Pawelczyk einen letzten Vorstoß, spricht laut Olearius’ Aufzeichnungen mit Scholz über die Weisung. Offenbar ohne Erfolg. Im Tagebuch notiert Olearius, jetzt sei nur noch der Rechtsweg möglich.Vier Wochen später wird öffentlich, dass Olaf Scholz Finanzminister wird. Hilfe von ihm könne er sich nun nicht mehr vorstellen, schreibt Olearius in sein Tagebuch. Scholz würde sich sonst dem Vorwurf der Begünstigung aussetzen.
Doch Vorwürfe muss sich Scholz nun dennoch von der Opposition für seine Hamburger Zeit machen lassen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass der SPD-Kanzlerkandidat und die Stadt lange gemauert haben bei dem Thema. Im November 2019 stellt die Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft dem Senat die Frage, ob es Treffen zwischen Warburg-Verantwortlichen und Olaf Scholz gegeben habe. Der Senat verneint. Im Februar 2020 berichten die Wochenzeitung „Die Zeit“ und das ARD-Magazin „Panorama“ von dem Treffen zwischen Scholz und Olearius im November 2017. Zweimal wird Scholz daraufhin im Finanzausschuss des Bundestags befragt zu seinen Kontakten zu Olearius und der Warburg Bank. Zweimal verschweigt er die beiden weiteren Treffen. Im September berichten „Die Zeit“ und „Panorama“ über diese Treffen.
Wenig später wird in Hamburg mit den Stimmen der Opposition der Parlamentarische Untersuchungsausschuss eingesetzt. Dort soll Scholz Ende April erstmals aussagen.

Den chronologischen Überblick über den Fall Warburg lesen Sie hier.

[Chronologischer Überblick vom 5. Juni 2015 bis 6. November 2020]

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Bildunterschriften:

Oberste Instanz in Steuerfragen in Hamburg: Die Finanzbehörde am Gänsemarkt

Arbeitsplatz der Prüfer: Die Privatbank M.M. Warburg an der Alster

Trutzburg: Das Hamburger Finanzamt für Großunternehmen

Chefin: Als Sachgebietsleiterin war Frau P. so etwas wie die persönliche Kundenberaterin der Bank

Sicheren Schrittes: Die Finanzbeamtin Frau P.

Ort der Aufklärung: Am Landgericht Bonn werden derzeit die Cum-ex-Geschäfte der Warburg-Bank aufgearbeitet

Idylle mit Elbblick: Der Hamburger Stadtteil Blankenese

Institution an der Alster: Die Privatbank M.M. Warburg

Keine Wendemöglichkeit: Im Finanzamt für Großunternehmen gab es viel Zoff um den Fall Warburg

Beeindruckende Kulisse: Das Bundesfinanzministerium in Berlin

Ort der Aufklärung: Sitzung des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses im Hamburger Rathaus

Kurze Wege: Vom Hamburger Rathaus zur Warburg-Bank sind es nur wenige Hundert Meter

Arbeitsplatz von Frau P.: Das Finanzamt für Großunternehmen in Hamburg

Ort der Entscheidung: Die Hamburger Finanzbehörde

Angespannt: Olaf Scholz muss sich im Bundestag Fragen zu seinem Verhältnis zur Warburg Bank anhören

Treffpunkt im Abendlicht: Das Hamburger Rathaus

Stadt der kurzen Wege: Die Warburg Bank liegt nur einige Hundert Meter vom Rathaus entfernt unweit der Binnenalster

Sie nennen ihn „General“: SPD-Urgestein Alfons Pawelczyk

Retter: Bankier Christian Olearius (l.) besiegelt 2008 mit Logistikunternehmer Klaus-Michael Kühne und dem damaligen Tui-Vorstandsvorsitzenden Michael Frenzel den Hapag-Lloyd-Deal

Stolzer Bürgermeister: Olaf Scholz präsentiert im November 2016 die fast fertige Elbphilharmonie

Zu Diensten: Der damalige Bundestagsabgeordnete Johannes Kahrs

Muss nun aufklären: Der Untersuchungsausschuss in Hamburg

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