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Mistral AI trat mit dem Anspruch an, ein unabhängiger, europäischer und effizienter Akteur im Wettlauf um KI zu sein, das Start-up ist technologisch konkurrenzfähig. Kritiker sehen eine Beteiligung von Microsoft am Unternehmen als Verrat an diesen Idealen, CEO Mensch kontert, es gebe keine europäischen Äquivalente hinsichtlich Rechenleistung und Funding. Statt wie angekündigt allen Code offenzulegen, soll es nun auch kommerzielle Angebote geben.

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Retter oder Verräter?

Fast schüchtern sitzt er da, der Zwei-Milliarden-Euro-Mann. Seine Stimme ist leise, sein Blick wandert am Boden umher, wenn er spricht. „In unserem Geschäft muss man sehr analytisch sein“, sagt er. „Für Emotionen ist kein Raum."
Arthur Mensch hätte Grund zu Gefühlswallungen, so viel hat sich in seinem Leben verändert. Nicht nur dass er Anfang des Jahres Vater geworden ist. Ein paar Monate zuvor, im Frühjahr 2023, hat er ein Unternehmen gegründet, das von Investoren inzwischen mit stolzen zwei Milliarden Euro bewertet wird und bald wohl noch mehr Kapital anziehen wird. Mistral AI, so heißt Menschs Start-up, ist die große Überraschung auf dem Markt der generativen künstlichen Intelligenz (KI) – jener Innovation, die Texte, Computercodes, Stimmen oder Kunstwerke erschaffen kann. Das Unternehmen aus Frankreich gilt als Europas beste Antwort auf US-Marktführer wie OpenAI, Google oder Amazon.
Vor dem Gebäude im Nordosten von Paris, in dem Arthur Mensch seine Firma einquartiert hat, verläuft pittoresk der Kanal Saint-Martin. Im Hinterhof spielen Kinder Fußball. Im vierten Stock kauert Mensch, 31, weiter Pulli und Jeans, auf einer Couch, die viel zu klein ist für seine 1,94 Meter. Beim Denken aber hat er es lieber groß. Dieser Mensch, der auch noch so heißt, tüftelt an der perfekten Maschine: an Sprachmodellen, die Grundlage sind für Chatbots wie ChatGPT. Kurz: Mistral AI entwickelt die Bausteine der KI-Revolution.
Hinter dem scheuen Auftreten des Gründers verbirgt sich unternehmerisches Selbstbewusstsein: „Es wird wenige Akteure geben“, sagt er. „Wir wollen unseren Platz.“
In der jungen KI-Branche tobt ein Kampf um die beste Technologie, die besten Köpfe, das meiste Geld. Es geht darum, die Position in einem Markt zu sichern, der in wenigen Jahren den Alltag der Menschen durchdringen könnte wie heute die Smartphone-Nutzung. Nie zuvor haben Computerprogramme so menschlich, so eloquent gewirkt. Start-ups wie OpenAI, Anthropic oder Mistral AI, aber auch Großunternehmen wie Google und der Facebook-Mutterkonzern Meta basteln die Grundlagenmodelle für neuartige Anwendungen. Chatbots zum Beispiel, die weitgehend selbstständig den Alltag von Nutzerinnen und Nutzern organisieren oder komplexe logistische Abläufe in Unternehmen perfektionieren sollen. Was die Technologie verspricht: Produktivitätsgewinne und Wachstum, Kreativität und mehr Zeit zum Leben.
In diesem Markt gibt sich Mistral ausdrücklich als Europas Gegenmodell zur Konkurrenz aus Übersee und aus Fernost. Als Chance, der Abhängigkeit von OpenAI oder Google zu entgehen. „Mistral ist europäisch und unabhängig“, sagt Mensch. Er wolle einen europäischen Champion schaffen. Das Wort Eigenständigkeit fällt oft, wenn er spricht.
Sein Versprechen war, Unabhängigkeit auch seinen Nutzern zu ermöglichen. Eines seiner besten Argumente lautete bisher: Open Source. Das bedeutet, dass der Quellcode hinter seinen Modellen offen zugänglich war. Mistral AI machte ihn damit transparent für externe Analysen oder Dritte, die ihn weiterentwickeln wollen. Die US-Konkurrenz setzt dagegen mit wenigen Ausnahmen knallhart auf Monetarisierung durch beschränkte Zugänge.
Der Haken ist nur: Im Februar hat Mistral ausgerechnet mit Microsoft einen Vertriebs-Deal geschlossen und den Konzern am Kapital beteiligt. Ist Europas vermeintlicher KI-Retter in Wahrheit sein Verräter?
In den vergangenen Monaten, so sehen es Experten, hat Mistral den deutschen Rivalen Aleph Alpha als stärksten Vertreter des Kontinents in Sachen generative KI überholt. Die Sprachmodelle des Unternehmens mit zurzeit nur rund 60 Mitarbeitern können es mit denen der IT-Großmächte aus den USA aufnehmen. „Mistral ist technologisch absolut konkurrenzfähig“, sagt Sabine Süsstrunk, KI-Expertin an der ETH Lausanne. „Es täte dem Markt gut, wenn sich der Mistral-Code als ein Grundlagenmodell der künstlichen Intelligenz etablieren könnte.“
Nur: „Das Versprechen völliger Unabhängigkeit haben die Gründer mit dem Microsoft-Deal gebrochen.“
Ein Jahr nach Firmengründung ist der Kreis der Kapitalgeber bereits US-dominiert. Vor allem große kalifornische Fonds, der Chiphersteller Nvidia oder der frühere -Google-Chef Eric Schmidt finanzieren heute Mistrals rasantes Wachstum – neben dem französischen Telekom-Milliardär Xavier Niel und Wagniskapitalgebern aus den deutschen Unternehmerfamilien Miele und zu Fürstenberg.
Arthur Mensch kennt den Verrätervorwurf. Er antwortet darauf trotzig: „Wir werden immer darauf achten, unsere Unabhängigkeit zu wahren und weder von Microsoft noch von einem anderen Akteur beherrscht zu werden.“ Es gebe nun mal keine europäischen Anbieter, die Mistral so viel Rechenleistung wie Microsoft zur Verfügung stellen könnten. Bei der Finanzierung gelte das Gleiche. In Europa fänden sich schlicht keine Fonds, die das derzeit laufende KI-Wettrüsten mit den benötigten Summen unterstützten, sagt Mensch. Und räumt dann ein: „Es geht uns auch nicht darum, in einem puristischen Geist Europäer zu bleiben.“
Bereits bei der Gründung im Frühjahr 2023 sorgte Mistral für Aufsehen. Das Unternehmen hatte noch keinen Mitarbeiter und kein Produkt, da sammelten Mensch und seine Mitstreiter Guillaume Lample und Timothée Lacroix schon 105 Millionen Euro ein. Als eine Art Sacheinlage stellten die befreundeten Eigner eines Pariser Versicherungs-Start-ups den Mistral-Machern Platz in ihrem Bürogebäude am Kanal Saint-Martin zur Verfügung. Mensch und seine Kompagnons nutzten in den ersten Wochen nur einen Raum, dann breitete sich die Firma über das ganze vierte Stockwerk aus.
Mehr als ein halbes Jahr nach der Gründung warb Mistral erneut viel Geld ein, um Algorithmen zu entwickeln. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Firma auf etwa zwei Milliarden Euro taxiert. Und nun halten sich hartnäckig Gerüchte, die Investoren wollten bald wieder nachlegen. Mistral werde dann um die sechs Milliarden Dollar wert sein, umgerechnet etwa 5,5 Milliarden Euro, berichtet das „Wall Street Journal“. Mensch sagt dazu nichts. „Irgendwann brauchen wir frisches Kapital, um weiterzuwachsen, das ist sicher“, sagt er. „Wir befinden uns in einem Rennen, alles geht sehr schnell.“
Anderswo kommen den Anlegern angesichts des kostspieligen Kampfs um die neue Technologie Zweifel: Als Meta Ende April eine Steigerung der diesjährigen KI-Ausgaben auf bis zu 40 Milliarden Dollar ankündigte, brach die Aktie des kalifornischen Konzerns um mehr als 13 Prozent ein.
Personal treibt die Kosten, so kennt man das aus der analogen Wirtschaft. In KI-Unternehmen verschlingt vor allem das „Compute“ Unsummen, also die angemietete Rechnerleistung, die für Training und Betrieb der Programme benötigt wird. Die Entwicklung eines Sprachmodells kostet etwa eine Milliarde Dollar, schätzt Anthropic-Gründer Dario Amodei. Seine KI-Firma wird unter anderem vom Techriesen Amazon unterstützt.
Allerdings ist auch gutes Personal teuer, ohne menschliche Intelligenz gibt es keine künstliche. Experten mit spezieller KI-Kompetenz sind rar. Bei Mistral muss Mensch ihnen teils Jahresbezüge bieten, die eine Million Euro übersteigen, rechnet man Aktienoptionen mit ein.
Für den Gründer ist KI nicht einfach nur Informatik, sondern ein Vektor kulturellen und politischen Einflusses. In China etwa erlässt die Regierung scharfe Vorgaben für KI-Sprachmodelle. Sie dürfen nichts verbreiten, was den „Grundwerten des Sozialismus“ widerspricht. Die Angebote der US-Firmen wiederum seien „amerikanozentriert“, sagt Mensch. Sein Anspruch ist, global akzeptierte Sprachmodelle anzubieten, die sich durch das auszeichnen, was Mensch als europäische Stärke sieht: Mehrsprachigkeit und interkulturelle Kompetenz. Seine KI mache den „erweiterten Menschen“ möglich, eine Art computergestützten Europäer.
Es ist ein elitärer Blick. Mensch wuchs in einem der besseren Pariser Vororte auf, als Kind einer Physiklehrerin und eines Unternehmers. Mit elf Jahren lernte er zu programmieren. Später studierte er Mathematik und Informatik an Spitzenunis, darunter die berühmte École Polytechnique. Dann sammelte er Praxiserfahrung bei DeepMind, einer KI-Tochter von Google. Lacroix und Lample, die mit ihm Mistral steuern, haben ähnliche Werdegänge. Sie arbeiteten vorher bei Meta.
„Wir haben unsere alten Arbeitgeber verlassen, weil wir von innen gesehen haben, dass sie an Beweglichkeit und Effizienz verloren hatten“, sagt Mensch. Größe sei nicht alles, glaubt er. Im Gegenteil, oft sei sie ein Hindernis. „Kreativität entsteht nicht in Teams, die aus 300 Personen bestehen, sondern eher aus 4 oder 5.“
Im Pariser Großraumbüro sitzen Menschs hoch bezahlte Mitarbeiter vor ihren Bildschirmen. Im Durchschnitt sind sie 27 Jahre alt. Sie stammen aus einem Dutzend Ländern, nicht nur aus Europa. Ende dieses Jahres werden es um die 100 Leute sein. Dann, sagt Mensch, werde es auch für seine Firma darum gehen, agil zu bleiben.
Mistral wollte immer etwas kleiner sein, schneller, effizienter. Auch Mistrals Sprachmodelle benötigen weniger Parameter und damit weniger Rechenleistung als die der Konkurrenz. Die Kunden – darunter BNP Paribas, die größte Bank der Eurozone – behalten stets die Kontrolle über ihre Daten. So jedenfalls lautet Menschs Verkaufe.
Das Bild, das er von sich und seiner Firma zeichnet, erinnert an die Comicfigur Asterix: Mistral in der Rolle des tapferen Galliers, der sich tugendhaft und schlau gegen böse IT-Übermächte stemmt.
Doch das Bild hat Kratzer bekommen, seit im Februar der Deal mit Microsoft bekannt wurde – und weil Mistral den Zugang zum Quellcode seines leistungsstärksten Sprachmodells Mistral Large verweigert hat. Das wirkt wie die Wiederholung der Geschichte. Auch Marktführer Open AI ist nicht mehr so offen, wie sein Name behauptet: Der kalifornische KI-Pionier hatte Open Source versprochen. Inzwischen hat er sich davon verabschiedet.
Mensch hat noch Mitte Februar die fehlende Transparenz der US-Techriesen bemängelt; sie sei unvereinbar mit den „wissenschaftlichen Werten“ der Mistral-Gründer. Kaum zehn Tage später folgte sein eigener Schwenk.
In der Entwicklerszene sorgte das für Empörung. Die verbraucherorientierte US-Denkfabrik Open Markets kritisierte, Mistrals Partnerschaft mit Microsoft vertrage sich nicht mit dem Anspruch der Unabhängigkeit. Und in Brüssel leitete die EU-Kommission eine Prüfung ein, weil sie sicherstellen will, dass der Wettbewerb auf dem KI-Markt nicht im Keim erstickt wird.
Spricht man Arthur Mensch auf diese Kritik an, wirkt es für einen Augenblick, als könnte er seine stoische Ruhe verlieren. Er fährt sich durch die Haare, rutscht auf dem zu kleinen Sitz herum. Er bestreitet, dass Mistral seine Unabhängigkeit verloren habe. Der Vergleich mit OpenAI nervt ihn sichtlich. „Microsoft hat 13 Milliarden Dollar in OpenAI gesteckt. Bei Mistral haben sie 15 Millionen Euro investiert, in einer Finanzierungsrunde im Umfang von 385 Millionen Euro“, sagt er.
Außerdem könne Mistral unmöglich alle Sprachmodelle im Open-Source-Modus anbieten, wenn es sich finanzieren wolle. In der Tat: Der Strategieplan des Start-ups sieht das Nebeneinander von frei zugänglichen und veränderbaren Angeboten einerseits und kommerziellen Produkten andererseits vor.
Für die Verteidigung seiner Interessen in Brüssel kann Mensch auf Unterstützung von höchster Stelle vertrauen. Staatspräsident Emmanuel Macron sieht Mistral als Beleg für ein speziell „französisches Genie“. Ganz im Sinne des Unternehmens wetterte Macron vor einigen Monaten gegen eine zu strenge KI-Regulierung in Europa. Seine Emissäre verhinderten solche Pläne der EU-Kommission im vergangenen Herbst.
Mensch kann sich auf einen bestens verdrahteten Lobbyisten verlassen: Zum Gründerkreis seines Start-ups gehört ein Mann namens Cédric O, ein Vertrauter Macrons, der dem Präsidenten bis 2022 als Staatssekretär für Digitales diente.
Sabine Süsstrunk, die KI-Expertin aus der Schweiz, hat Respekt für das, was Mistral in nur einem Jahr geschafft hat. „Mistral beweist, dass es in Europa genauso kluge Köpfe gibt wie in den USA“, sagt sie. Doch die kurze Firmengeschichte zeige auch, wie schnell europäische KI-Start-ups an Grenzen stießen. Sie müssten sich entscheiden zwischen Freiheit und dem Anspruch, allumfassende Lösungen zu schaffen. „Vielleicht ist es für die Europäer letztlich der bessere Weg, auf kleinere, spezialisierte Modelle zu setzen, die echten Mehrwert schaffen, zum Beispiel in der Krebserkennung“, sagt Süsstrunk.
Der KI-Markt beginnt bereits, sich zu lichten. Auch Mensch leugnet das nicht. Es gehe darum, „diese Konsolidierungsphase zu überstehen“, sagt er. Aber er denkt nicht daran, sich von seinen Visionen zu verabschieden. Auch wenn das Klima so rau ist wie der frische Nordwind, nach dem das Start-up benannt ist.

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