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Porträt von Louis aka Sudo, der mit "Deutschland im Deep Web 3" das größte deutschsprachige Forum im Darknet betrieb und des bandenmäßigen Handels mit Betäubungsmitteln angeklagt wurde. Es wird geschildert, wie der Außenseiter der niederbayerischen Enge auf der Suche nach Anerkennung, Zugehörigkeit und Macht ins Darknet entfloh, wo sein anfänglicher Einsatz für freie Meinungsäußerung und seine psychische Gesundheit allmählich zugrunde gingen, bis er schließlich festgenommen wurde. Vorschlag, analog zum Cyber-Choices-Präventionsprogramm in England die meist jungen Täter vor dem Abgleiten in die Darknet-Kriminalität zu bewahren.

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Hausmeister der Finsternis

Sein Leben ist klein geworden. Vielleicht 22 Quadratmeter, schätzt er, misst die Zelle, die er sich mit zwei Häftlingen teilt: drei Betten, zwei Tische, Toilette, Waschbecken, ein Fernseher, der fast durchgehend läuft. Er schläft oben im Stockbett, liest viel. In den zwei Stunden, in denen Wärter täglich seine Zelle aufschließen, stemmt er manchmal Gewichte, so erzählt er es.
Seit zehn Monaten sitzt Louis, 23 Jahre alt, schon in der Justizvollzugsanstalt Bamberg. »Ich vermisse es, rauszugehen und das Gras zu spüren«, sagt er. »Und was Ordentliches zu essen wäre schön.«
Ein Dienstag im Juli. Louis – kurz geschorene Haare, Brille, jungenhafte Gesichtszüge – wartet im Besucherraum der JVA, die Hände auf dem Tisch gefaltet. Von draußen dringen Rufe und Schlüsselklappern ins Zimmer. Es ist ein ungewöhnliches Treffen, denn Untersuchungsgefangene stellen sich selten einem Interview. Aber Louis möchte seine Geschichte erzählen.
Es ist eine Geschichte über die Suche nach Anerkennung. Sie handelt von einem jungen Mann, der besser mit Computern umgehen kann als die meisten Menschen. Der mit diesen Fähigkeiten auch Gutes bewirken wollte und eigentlich begehrt sein könnte, als IT-Spezialist in der Wirtschaft oder im öffentlichen Dienst. Doch er kommt in der echten Welt schwer zurecht und rutscht im Internet in eine kriminelle Szene ab.
Louis, so steht es in der Anklage der Staatsanwaltschaft, soll im Darknet ein Forum mit 16.000 Mitgliedern betrieben haben und des bandenmäßigen Handels mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge schuldig sein.
[Anderes Medium] nannte ihn nach seiner Festnahme im Herbst 2022 einen der »größten Darknet-Bosse Deutschlands«. Louis selbst sagt: »Ich könnte die Hände überm Kopf zusammenschlagen, wie blöd ich war.«
Neben dem Treffen mit Louis hat [das Medium] mit Ermittlern und Menschen aus seinem Umfeld gesprochen, Dokumente gesichtet und Spuren ausgewertet, die er im Netz hinterließ. Auf diese Weise lässt sich sein Weg vom Computer-Nerd zur Darknet-Größe rekonstruieren, der in der JVA Bamberg sein vorläufiges Ende gefunden hat, wo Louis auf seinen Prozess wartet. Es ist ein Weg, den Louis selbst gewählt hat, das ist sicher. Aber es ist auch ein Weg, von dem es Abzweigungen hätte geben können. Wie konnte aus dem Gymnasiasten und späteren Informatik-Studenten Sudo werden, wie er sich im Darknet nannte? Und hätte man das verhindern können?
Eine schmale Landstraße führt zum renovierten Bauernhaus, in dem Louis aufgewachsen ist, umgeben von Feldern und einem Garten mit Obstbäumen und Pool. Vor der Haustür stapeln sich Schuhe, an der Wand rankt wilde Kresse. Läutet man, dann bellen Hunde, wenig später öffnet eine schmale Frau, Louis’ Mutter. Dahinter folgt ihr Mann.
Über die Vorwürfe gegen ihren Sohn wollen die beiden nicht reden. Sie hätten von Louis’ Online-Aktivitäten ohnehin wenig mitbekommen, sagen sie. Aber sie erzählen, wie er als Kind und als Jugendlicher war. Schon als kleiner Junge sei er unglaublich neugierig gewesen. »Er wollte alles wissen, hat alles gefragt«, erzählt der Vater, ein Techniker in Rente. Später habe er sein Wissen andere durchaus spüren lassen.

Louis versucht alles, um dazuzugehören

Die Eltern sagen, sie verstünden bis heute nicht, warum ihr Sohn in Untersuchungshaft sitzt. Sooft sie dürften, besuchten sie ihn, erzählen sie. Brächten ihm Geld, hätten [Medium] und [anderes Medium II] für ihn abonniert.
Die Eltern berichten auch von der Ablehnung, die Louis früh erlebt habe. Als Kind habe er von seiner Mutter, einer aus Hamburg stammenden Theaterwissenschaftlerin, ihren norddeutschen Dialekt aufgeschnappt. Damit sei er im niederbayerischen Kindergarten negativ aufgefallen. »In der Grundschule hieß es: Wie, der Louis ist nicht getauft? Dann ist er doch gar nicht vorm Teufel geschützt«, erzählt der Vater.
Louis versucht alles, um dazuzugehören. Er geht zur freiwilligen Feuerwehr und hilft mit, wenn die Katholische Landjugend Steckerlfische verkauft oder im Juni die Sonnenwende feiert, trotzdem bleibt er ein Außenseiter.
Als Louis 14 oder 15 ist, schenkt ihm sein Vater einen gebrauchten Laptop. Viele Jungs in seinem Alter verbringen Stunden damit, Videospiele zu zocken. Louis’ Laptop ist dafür zu alt. Also liest er Bücher übers Coden und bringt sich die Programmiersprachen Java und Basic bei.
Seine Fähigkeiten setzt er zunächst ein, um etwas zu verändern. Im Jugendkreistag weist er auf Sicherheitslücken einer Website für Schulmensaessen hin. Er fängt an, eine App zu bauen, mit der er die Auslastung der Schulbusse verbessern will.
Seine Neugier habe ihn angetrieben, erzählt Louis im Besucherraum der JVA. Einmal, als sich sein Computer ein Malware-Programm eingefangen habe, habe er alles über das Virus herausfinden wollen: Wie verbreitet es sich? Welche Strukturen verbergen sich dahinter?
In dieser Zeit hört er zum ersten Mal vom Darknet und beschließt, sich dort umzuschauen. Das Darknet ist das Gegenmodell des normalen Internets: ungebändigt, wild, chaotisch. Die Adressen der Websites, die Louis dort besucht, bestehen aus unübersichtlichen Codes. Es gibt keine Suchmaschine, die ihn schnell ans Ziel bringt. Stattdessen muss er sich umständlich von Link zu Link hangeln.
Im Darknet werden gestohlene Kreditkartendaten genauso gehandelt wie Programme, mit denen man Nutzer auf dem Portal eBay Kleinanzeigen betrügen kann. Und es gibt dort Drogenshops, jede Menge Drogenshops. Einer der bekanntesten heißt Silk Road, Umsatz: 213 Millionen Dollar in vier Jahren. 2013 verhaftete das FBI den damals 29-jährigen Betreiber in einer Bibliothek in San Francisco, ein Gericht verurteilte ihn zu lebenslanger Haft.
Aber Louis fasziniert etwas anderes am Darknet: Dort treffen sich auch Menschen, die sich vor Überwachung und staatlicher Zensur fürchten, die im Verborgenen gegen autokratische Regime arbeiten oder geheime Informationen an Journalisten weitergeben.
Sie nutzen dafür – genau wie die Betrüger und Kriminellen – eine Technologie namens The Onion Router, kurz Tor. Forscher des US-Militärs haben den Prototyp der Software in den Neunzigerjahren programmiert, in den Nullerjahren entwickelten Computeraktivisten sie weiter. Sie glauben an das Recht jedes Menschen, anonym im Netz zu surfen. Dafür leiten sie die Kommunikation von einem Server zum nächsten weiter wie durch die Schichten einer Zwiebel. Ein digitales Verwirrspiel, das es unmöglich macht, die Nutzer zu identifizieren. Tausende solcher Tor-Knoten gibt es heute, betrieben von Freiwilligen.
Einer von ihnen ist Louis. Zu Hause richtet er seine eigenen Knoten ein. Alles, was er braucht, ist ein angemieteter Server. Seine Knoten benennt er nach Wesen der griechischen und nordischen Mythologie: Ganymed, Munin, Ymir. Gut möglich, dass Edward Snowden von da an über Louis’ Knoten mit seinen Unterstützern kommuniziert – oder dass sich Kriminelle darüber zu Betrügereien verabreden.

Ein Schulhack als Wendepunkt

Für Louis ist das Tor-Netzwerk mehr als eine technische Spielerei. Es ist ein Ort, an dem er der niederbayerischen Enge entfliehen kann. Statt mit der »proletenhaften« Dorfjugend abzuhängen, habe er dort Dissidenten aus Syrien und der Türkei kennengelernt, so erzählt er es. Statt von seinen Mitschülern gemobbt zu werden, macht er sich einen Namen als technisch versierter Experte.
Im Besucherraum erzählt er voller Stolz, dass seine Knoten zu den zuverlässigsten weltweit gehört hätten. »Im Tor-Netzwerk habe ich zum ersten Mal in meinem Leben so etwas wie Respekt erfahren.« In der echten Welt bekommt Louis dagegen bald Probleme. Wenige Wochen vor den Sommerferien 2018, Louis ist gerade 18 geworden, überschreitet er zum ersten Mal eine Grenze.
An einem Nachmittag im Juli 2023 wartet vor einem Studentenwohnheim in Landshut ein blasser junger Mann mit müden Augen. Daniel, so heißt er, lernt Louis in der zehnten Klasse des Gymnasiums kennen, so erinnert sich Daniel. Beide interessieren sich für Computer. Und beide fühlen sich von einem Informatiklehrer provoziert: »Der war ein Idiot, der damit geprahlt hat, wie supersicher das Schulnetzwerk sei«, sagt Daniel. »Da haben wir uns gedacht: Das stellen wir doch mal auf die Probe.«
In einer Freistunde findet Daniel auf einem Computer in der Aula zufällig das Admin-Passwort des Lehrers – das Eintrittstor ins Schulnetzwerk. Er und Louis haben plötzlich Zugriff auf den Vertretungsplan, die Firewall, die Passwörter ihrer Mitschüler. Sie haben die Macht über jene Institution, die ihren Alltag bestimmt.
Nachdem sie sich umgesehen haben, schreiben sie dem Informatiklehrer eine Mail: »Hallo Herr F., es war nicht sonderlich klug ihr Administrator-Passwort im Klartext auf jedem Rechner zu speichern. (...) Wir haben außerdem ihr gesamtes Netzwerk infiltriert. (...) Bitte lernen Sie aus den gemachten Fehlern, da man diese Daten auch missbrauchen kann. Mfg, ihre freundlichen Hacker aus der Nachbarschaft.«
Freundliche Hacker? Unter IT-Spezialisten gibt es ein Verfahren namens responsible disclosure: Wer eine Sicherheitslücke entdeckt, nutzt sie nicht aus, sondern informiert den Verantwortlichen und gewährt ihm eine Frist, sie zu schließen. Man könnte also sagen, dass Louis und Daniel das Richtige tun: Sie weisen den Lehrer auf die Lücke hin. Aber sie brechen zugleich eine Regel des verantwortungsvollen Hackens: Auch wenn sie dort nichts verändern, dringen sie immer wieder in das Schulnetzwerk ein.
»Wir wollten ja nichts Böses«, sagt Daniel.
Die Schulleitung sieht das anders. Sie geht zur Polizei. Daneben müssen sich Louis und Daniel einem internen Disziplinarausschuss stellen. Weil Daniel sich entschuldigt, darf er auf der Schule bleiben. Louis fliegt vom Gymnasium. Er habe »keinerlei Anzeichen von Reue oder Bedauern« erkennen lassen und sei »äußerst überheblich und selbstgerecht« aufgetreten, heißt es im Protokoll des Ausschusses.
Im Dezember 2019 verurteilt das Amtsgericht Landau beide wegen des Ausspähens von Daten zu 20 Sozialstunden. »Über mehrere Wochen (...) verschafften sich die Angeklagten im bewussten und gewollten Zusammenwirken Zugang zum Schulnetzwerk des Gymnasiums«, heißt es im Urteil. Für das Gericht ist die Strafe »ein Denkzettel«, denn Louis und Daniel hätten für ihre »jugendliche Neugier« »erhebliche schulische Konsequenzen« erlitten.
Mit dem Informatiklehrer kann man nicht mehr sprechen, er ist gestorben. Aber gerne würde man den Schuldirektor fragen, wie er heute auf den Fall blickt: Warum ging er zur Polizei, anstatt den Vorfall schulintern zu lösen? Hätte er den beiden nicht anrechnen müssen, dass sie auf Sicherheitslücken hinwiesen, die das Gericht später als »eklatant« bezeichnete?
Und dann ist da noch eine Sache, an die sich Louis und Daniel erinnern: Der Schulleiter habe die Hochschule, an der sie später Informatik studierten, über ihren Hack informiert, behaupten sie. Beide glauben, dass sie deshalb dort ihre Nebenjobs als Hilfskräfte verloren. In einem ersten Telefonat bestreitet der Schulleiter, dass er sich bei der Hochschule gemeldet habe.

Eine befremdliche Welt, mit eigenen Regeln und eigener Sprache

Das Gymnasium liegt am Rande der Innenstadt, ein Neubau aus Glas und Beton. Zunächst sagt eine Mitarbeiterin, der Schulleiter sei nicht da. Etwas später kommt er doch aus seinem Büro und stellt sich hinter eine Plexiglasscheibe. Wegen Corona, wie er sagt. Zu Louis und Daniel will er sich nicht äußern. Auf eine schriftliche Anfrage antwortet er: »Ihre Fragen zielen auf personenbezogene Daten von ehemaligen Schülern und schulinterne Abläufe, die meiner Verschwiegenheitspflicht unterliegen.«
Für Louis wird der Schulhack zu einem Wendepunkt. »Ich habe danach einen Hass auf die Polizei entwickelt, auf die Staatsanwaltschaft, auf meine alten Lehrer.« Nach dem Verweis wechselt er das Gymnasium und verliert den Anschluss zu seinem mühsam aufgebauten Freundeskreis. Abends surft er allein im Darknet.
In einer Nacht im November 2018 trifft Louis eine folgenschwere Entscheidung. Er beschließt, ein Darknet-Forum wiederzubeleben, das ein Jahr zuvor offline gegangen war: »Deutschland im Deep Web«. Er mietet einen Server, konfiguriert die Firewall und setzt das Forum anhand eines alten Screenshots neu auf.
»Deutschland im Deep Web« ist nicht irgendeine Seite. Die erste Version, 2013 gestartet, war ein Treff für Drogen- und Waffenhändler. 2016 besorgte sich der damals 18-jährige David S. dort eine Glock-Pistole, mit der er neun Menschen im Münchner Olympia-Einkaufszentrum tötete. Sein Motiv: rassistischer Hass. Der Betreiber des Forums, der online nur Lucky hieß, wurde später wegen fahrlässiger Tötung zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt.
Louis wird Luckys Nachfolger. Doch anders als Lucky stellt er im neuen Forum, dem er den Namen »Deutschland im Deep Web 3« gibt, strengere Regeln auf: »Kein CP/Child Porn. Kein Handel mit Schusswaffen oder Sprengstoffen! Kein Doxxing« – also das Erpressen mit persönlichen Informationen. Alles andere ist erlaubt, auch Drogenhandel. Auf einem Marktplatz bieten Nutzer Cannabis, Psychedelika und Stimulanzien an. In anderen Ecken des Forums wird über so unterschiedliche Dinge wie die Corona-Impfung, Religion und Serien diskutiert.
Es ist eine befremdliche Welt, mit eigenen Regeln und eigener Sprache: Ein »scam« ist eine Betrugsmasche, ein »Uwe« ein Polizist. Viele, die dort aktiv sind, fürchten, dass sich Ermittler undercover im Forum bewegen, und trauen einander nicht über den Weg.
Louis’ Rolle lässt sich mit der eines Hausmeisters vergleichen. Bis in die Morgenstunden kümmert er sich darum, dass alles läuft. Bei Drogengeschäften sichert er ab, dass die Händler ihr Geld und die Käufer ihre Ware erhalten. Er beantwortet Nachrichten, behält Streitigkeiten im Blick.
In einem Interview, das Louis dem Szene-Blog tarnkappe.info unter seinem Pseudonym Sudo gibt, sagen er und sein Moderator Younam, sie wollten ein Forum erschaffen, in dem »(nahezu) ohne Zensur gepostet werden kann und man Dinge schreiben kann, die im Clearnet (CN) sofort zensiert oder sogar zur Anzeige gebracht werden«. Er lässt zum Beispiel zu, dass ein Nutzer den Holocaust leugnet. »Ich war ideologisch verblendet«, sagt Louis heute. »Die freie Meinungsäußerung und der freie Handel mit Drogen, das war für mich eins.«
Vielleicht ist ihm etwas anderes wichtiger: Als Administrator verfügt er über Macht. Er kann einzelne User und das gesamte Forum offline nehmen. Die anderen Mitglieder respektieren ihn. Es ist das Gegenteil von dem, was er im echten Leben erfährt.
Nicht nur das macht seine Geschichte typisch. Viele Cyberkriminelle – fast ausschließlich junge Männer – fingen wie Louis als Teenager an, ihre Grenzen auszutesten, so beschreibt es ein Ermittler. Neugier, Nervenkitzel und Ruhm in der Szene würden sie anfangs oft mehr motivieren als Geld.

"Stahlgewitter" und "Wehrmacht" kündigen Anschläge an

Der Ermittler erzählt vom 20-jährigen Johannes S., der erst seine Lehrer und Mitschüler hackte, bevor er die Daten Hunderter Prominenter und Politiker ins Netz stellte und damit 2019 das ganze Land in Aufruhr versetzte.
Ein anderer Ermittler sagt: »Louis steht stellvertretend für viele andere junge Cyberkriminelle mit beachtlichem Selbstbewusstsein, die den Staat für unfähig, blind und taub halten.«
Oder die nicht sehen wollen, dass es kriminell ist, was sie tun? Verbrechen im Darknet funktionieren fast unsichtbar, lautlos. Wer einen Raub begeht, bedroht seine Opfer mit Waffengewalt. Wer eine Drogenplattform im Darknet betreibt, tut niemandem weh – zumindest fühlt es sich nicht so an. Vielleicht auch deshalb sahen die Behörden den Aktivitäten dort lange zu. Aber in den vergangenen Jahren haben immer mehr Staatsanwaltschaften eigene Einheiten zur Bekämpfung von Cyberkriminalität gegründet – und greifen nun umso härter durch: Ausschalten durch Einbuchten, Abschrecken durch Bestrafen, lautet die Maxime.
So lief es bei Martin Frost, der die Drogenplattform Wall Street Market betrieb. So war es bei Maximilian Schmidt alias Shiny Flakes, der von seinem Jugendzimmer aus Rauschgift verkaufte und damit die Netflix-Serie How to Sell Drugs Online (Fast) inspirierte. Beide wurden zu langen Haftstrafen verurteilt.
Nach Beginn der Corona-Pandemie – er studiert inzwischen Informatik und lebt in einem Studentenwohnheim in Landshut – versinkt Louis immer tiefer in seiner Online-Welt. »›Deutschland im Deep Web‹ war alles für mich«, erzählt er im Besucherraum. Er schwänzt Vorlesungen und Klausuren. Seine Freundin und sein Umfeld bekommen von seinem Doppelleben im Darknet nichts mit. Auch Daniel, der im Wohnheim eine Etage über Louis lebt, erinnert sich, mehrfach vergeblich an Louis’ Tür geklingelt zu haben.
Louis scheint sein Leben zu entgleiten. »Ich habe meine Wohnung kaum geputzt, nur Wäsche gewaschen, wenn unbedingt nötig, (...) den Müll nicht weggebracht usw.«, gibt er später zu Protokoll. Es ist wohl auch die Zeit, in der er ein Drogenproblem entwickelt. In seiner Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft spricht er über seinen exzessiven Alkoholkonsum und davon, dass er bis zu seiner Verhaftung starke Medikamente gegen Angst- und Schlafstörungen konsumiert habe, dazu MDMA und das Schmerzmittel Codein. Zugleich wird das Forum für ihn mehr und mehr zu einer Belastung. Um die Jahreswende 2019 herum beginnt die Stimmung dort zu kippen.
Zwei User fallen mit Beiträgen auf, in denen sie Anschläge ankündigen. Einer von ihnen, er nennt sich »Wehrmacht«, fabuliert davon, dass er eine »neue Weltordnung« schaffen wolle: »Wir wollen, dass es knallt, nicht nur in Deutschland.« Ein anderer, »Stahlgewitter«, schreibt: »Es gibt eine Menge Leute, die man beseitigen müsste«, Journalisten, Politiker und Polizisten. Die Beiträge liegen [dem Medium] vor.
Heute weiß man: Hinter »Stahlgewitter« steckt André M. Im echten Leben verschickte er über Monate Dutzende Hassbriefe an Gerichte, Politiker, Medien und Prominente. Darin drohte er mit Mord- und Bombenanschlägen. Im Dezember 2020 verurteilte das Landgericht Berlin ihn zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren.
Als Louis in der JVA Bamberg darüber spricht, wirkt er nachdenklich. Er sagt, er habe die Äußerungen von »Wehrmacht« und »Stahlgewitter« »verabscheut«. Er selbst stehe politisch »sehr, sehr links«. Spuren im Internet stützen das. Einmal, Louis ist noch Schüler, kommentiert er einen Facebook-Post der AfD-Politikerin Beatrix von Storch: »FCKAFD«.
Warum ließ er die Beiträge dann stehen? Eine »brutale Gratwanderung« sei das gewesen, aber er habe sie »im Rahmen der Meinungsäußerung« für vertretbar gehalten, sagt er.
Erst als die Drohungen konkreter werden, ändert er seine Meinung und sperrt den Account von »Wehrmacht«. Danach habe er das Forum eigentlich offline nehmen wollen, behauptet Louis heute. »Das ist mir über den Kopf gewachsen«, sagt er. »Aber dann waren die Leute so: Lass dich doch von diesen Spinnern nicht unterkriegen.« Also macht er weiter.

Die Festnahme im Studentenwohnheim

Im Sommer 2021 arbeitet vier Autostunden von Landshut entfernt ein Team von IT-Experten und Fahndern des Bundeskriminalamts daran, Louis zu finden. Im Jahr 2020 hat das Amt mit Sitz in Wiesbaden eine eigene Abteilung »Cybercrime« gegründet. Ihr Ziel: mit 280 Mitarbeitern Straftaten im Netz zu bekämpfen. Als größtes deutschsprachiges Forum erfüllt »Deutschland im Deep Web 3« ihre Definition eines »high-value target«. Die Beamten interessieren sich vor allem für die Drogengeschäfte im Forum – und für den Betreiber. Ein Dreivierteljahr heften sie sich an die Spuren von Sudo. Im Frühjahr 2022 sind sie sicher: Sie haben ihn.
Louis will von alldem nichts geahnt haben. Selbst als das Forum im März 2022 abgeschaltet wird, kann er sich nicht vorstellen, dass die Ermittler dahinterstecken. Er glaubt an einen technischen Grund.
Dann, am 25. Oktober 2022, schlagen die Beamten zu. Louis sitzt an seinem Computer im Studentenwohnheim – so schildern es die Ermittler und er übereinstimmend –, als sie durch seine Tür stürmen. Bis in die Morgenstunden durchsuchen Beamte die Wohnung und zeitgleich auch sein Elternhaus nach Beweismaterial.
Als sie ihn schließlich auf die Polizeiwache gebracht hätten, sei alles von ihm abgefallen, erzählt Louis. »Ich habe in meinem Leben noch nie so gut geschlafen. Endlich war da nicht mehr dieser Druck.«
Endlich? Hätte Louis’ Leben schon früher eine andere Wendung nehmen können?
Diese Frage ist auch deshalb wichtig, weil es im Land viele junge Männer gibt wie ihn. Mehr als 135.000 Fälle von Cyberkriminalität zählte das BKA 2022. Oft stecken Täter aus dem Ausland dahinter, mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität. Die Aufklärungsquote liegt bei nur 29 Prozent. Wäre es da gut, wenn man einige der Kleinkriminellen dazu bringen könnte, einen anderen Weg einzuschlagen, bevor sie groß werden?
Ein Nachbarort von London. In einem gepflegten Reihenhaus lebt ein junger Mann, dessen Leben Parallelen zu dem von Louis hat. Seine Eltern führen in den Garten, auf dem Tisch stehen Trauben, darüber baumelt ein Schild mit der Aufschrift »Happy«. Dann steht Martin im Garten, in T-Shirt und Schlappen: ein 18-Jähriger, der sich selbst das Programmieren beigebracht hat.
Mit 14 Jahren versteht er so viel von Computern, dass er das Admin-Passwort seines Schulnetzwerks ausspäht. Wie Louis dringt er dort ein. Entzieht Lehrern ihre Benutzerrechte, sucht nach Klassenarbeiten und schaltet alle Server ab. Für ihn seien die Hacks eine sportliche Herausforderung gewesen, erzählt er im Garten seines Elternhauses. »Es war wie ein Katz-und-Maus-Spiel.«
Es dauert Wochen, bis die Schule ihm auf die Spur kommt. Von da an nimmt seine Geschichte eine andere Wendung als die von Louis. Zwar fliegt Martin von seiner Schule – aber nur für einen Tag. Die Schulleitung erstattet auch keine Anzeige, sondern informiert eine Einheit der britischen National Crime Agency, kurz NCA, die sich Cyber Choices nennt.
Im Gegensatz zum deutschen BKA sind die Mitarbeiter von Cyber Choices keine Strafverfolger, sondern Strafverhinderer. Sie kümmern sich mit Informationskampagnen um jugendliche Täter – auch, weil die NCA in Zusammenarbeit mit Hochschulen seit Jahren erforscht, wie Menschen zu Hackern werden. Schon 2017 stellten die Kriminologen in einer Studie fest, dass Cyberkriminalität besonders junge Menschen anziehe: Die Verdächtigen seien im Schnitt 17 Jahre alt und damit deutlich jünger als Wirtschaftskriminelle oder Drogenhändler. In einer Studie aus dem Jahr 2022 hat das NCA ermittelt, dass etwa jeder achte kleinkriminelle Hacker später ernste Cyberstraftaten begehe. Aber: Von 188 Tätern, bei denen Lehrer oder Eltern das NCA einschalteten, seien 95 Prozent nicht rückfällig geworden.
Auch Martin und seine Eltern telefonieren immer wieder mit dem Präventionsteam von Cyber Choices. Es ist eine heikle Phase seines Lebens: Auch er sei schon im Darknet unterwegs gewesen und habe eine Versuchung gespürt, in diese Welt abzutauchen, sagt Martin. Stattdessen vermittelt ihn die Mitarbeiterin von Cyber Choices an eine IT-Sicherheitsfirma. Dort fängt Martin als freiberuflicher Programmierer an. Er wird vom Täter zum Verteidiger. »Die Leute von Cyber Choices kamen zur richtigen Zeit«, sagt Martins Mutter, die neben ihrem Sohn im Garten sitzt. Nun träumt er davon, einmal seine eigene IT-Firma aufzubauen.

Louis sagt, er müsse jetzt die "Quittung" kriegen

Natürlich lässt sich nicht sagen, ob Martin ohne die Intervention der britischen Behörde kriminell geworden wäre – oder ob Louis heute vielleicht als IT-Spezialist für die Polizei oder einen Konzern arbeiten würde, wenn es in Deutschland eine Einheit wie Cyber Choices gäbe. Das will er jedenfalls mal vorgehabt haben, erzählt er beim Gespräch in der JVA. Aber eines lässt sich mit Gewissheit sagen: Niemand hat versucht, ihn von seinem Weg abzubringen.
Dieser Weg nimmt eine weitere Wendung. Dass dies im Dezember 2022 auffliegt, hat mit einem Zufall zu tun.
Während Louis im Gefängnis auf seinen Prozess wartet, müssen sich ganz in der Nähe vor dem Landgericht Bamberg zwei Männer verantworten. Julian F. und Dennis R. haben kiloweise Rauschgift übers Internet verschickt. 2151 Drogengeschäfte haben die Ermittler ihnen über einen Zeitraum von drei Jahren nachgewiesen, sie sollen über eine halbe Million Euro verdient haben. Die beiden sind geständig, das Gericht verurteilt sie im Januar 2023 zu sieben Jahren und zwei Monaten Haft. Julian F. und Dennis R., so sieht es die Staatsanwaltschaft, sind zwei Kriminelle, die vor allem eines wollten: reich werden.
Anders als Louis.
Anders als Louis?
Weil die zuständige Staatsanwältin an einem der Prozesstage verhindert ist, vertritt sie ein Kollege, der auch die Ermittlungen gegen Louis leitet. Er bemerkt bei der Vorbereitung auf die Verhandlung, dass die Angeklagten für ihren Drogenhandel mit jemandem gechattet haben, der ihm gut bekannt ist: Sudo alias Louis.
Die Ermittler glauben, dass Louis den beiden im September 2021 angeboten hat, für sie einen Drogenshop im Darknet zu programmieren. Dafür sollen sie ihm 10.000 Euro versprochen haben, plus eine Gewinnbeteiligung von vier Prozent. Louis behauptet, er habe die Seite nie fertiggestellt.
Was Louis einräumt: Übergangsweise baute er für die beiden Männer einen Drogenshop im Internet. Noch heute findet man Spuren davon. Zu sehen ist ein grinsender Mann mit Schlapphut und Joint, der in einem Cabrio zwischen Ecstasy-Tabletten herumfährt. Darüber sollen Julian F. und Dennis R. 1,6 Kilogramm MDMA, mehr als 17.000 Ecstasy-Tabletten und fast 7000 LSD-Trips verkauft haben. Die Staatsanwaltschaft sieht Louis als deren Komplizen und wirft ihm bandenmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge vor. Mindestfreiheitsstrafe: fünf Jahre.
Warum diente er sich den beiden Drogenhändlern an – er, dem Materielles doch angeblich nichts bedeutete? »Ich brauchte Geld«, sagt Louis. Für Drogen? »Vielleicht«, sagt er. Man merkt, wie es in ihm arbeitet. »Ich weiß nicht, was für Menschen ich zu den Drogen geführt habe«, Menschen, die vielleicht durch ihn zu härterem Zeug gegriffen oder sogar eine Überdosis genommen hätten. Louis sagt: »Es tut unglaublich weh, mir das einzugestehen.«
Im Besucherraum der JVA ist es Nachmittag geworden, dreieinhalb Stunden lang hat Louis geredet, fast jede Frage beantwortet. Da kommt er auf seine Zukunft zu sprechen: »Das, was ich getan habe, war falsch, das bereue ich. Und dafür muss ich jetzt die Quittung kriegen.« Er hoffe auf ein Urteil, »mit dem ich danach ein normales Leben führen kann. Aber die Anklageschrift hört sich nicht gut an.« Er würde gern irgendwann wieder der Louis von früher sein: »weltoffen, tolerant, einfach ein netter Kerl, der nicht so in die Extreme verfällt«.
Dann geht eine Justizbeamtin dazwischen, Louis muss zurück in seine Zelle. Zurück in sein Leben auf 22 Quadratmetern, die von der großen Welt des Darknets übrig geblieben sind.

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