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Porträt der erfolgreichen Unternehmensberaterin Christina Henkel (ehem. Carsten), die im fortgeschrittenen Alter von 60 ihre Geschlechtsumwandlung vollendete. Geschildert werden Laufbahn, inneres und äußeres Coming-Out sowie Transition. Besonderer Fokus liegt auf Geschlechterrollen im Arbeitskontext sowie Kommunikationsstrategien.

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Die Reinkarnation

Als Christina Henkel am 3. Juni in Marbella abflog, war sie angekommen. Sechs Jahrzehnte lang hatte ihr Leidensweg gedauert, nun erlebte sie den «intensivsten, anstrengendsten und am Ende vielleicht auch schönsten Moment meines Lebens», so Henkel: «In diesem Moment realisierte ich, dass ich am Ziel war.» Als Carsten Bernd war er nach Marbella geflogen. Als Christina Heidi flog sie zurück. Dazwischen lagen zehn Tage, eine aufwendige Gesichtsoperation und lange therapeutische Gespräche.

Henkel (60), einst Schweiz-Chef der Unternehmensberatung Roland Berger und heute CEO ihrer eigenen Firma Skyadivsory, ist eine trans Frau. Henkel kam als Junge zur Welt, aber wegen einer Hormonstörung im Mutterleib wurde sein Gehirn während der Schwangerschaft weiblich programmiert. Ein Fall, der bei 3 von 1000 Babys auftritt. In einem männlichen Körper mit einem weiblichen Gehirn (oder andersherum) zu leben, ist für die Betroffenen eine ungeheure Last. Viele zerbrechen an ihr: 40 Prozent der trans Personen versuchen oder begehen Selbstmord vor dem 30. Lebensjahr. Wer sich für eine Transition entscheidet, also die physische und psychische Geschlechtsanpassung, hat einen jahrelangen Dornenweg vor sich. Letztes Jahr haben in der Schweiz 1171 Personen amtlich ihr Geschlecht geändert. 82 Prozent davon waren jünger als 35; dass jemand die Transition in so fortgeschrittenem Alter wie Henkel begeht, ist sehr selten. Dass es ein ehemaliger Topmanager und heute erfolgreicher Unternehmer tut, ist in der Schweiz einmalig.

Henkel, in Hannover geboren, weiss schon als Kind, das etwas mit ihm nicht stimmt. Permanent beschäftigen ihn ziellos kreisende Gedanken, Henkel spricht von «Brain Fog», Gehirnnebel, und einer «Grundauslastung meines Prozessors». Die Ursache bleibt trotz aller Bemühungen im Dunklen: In den 1980er, 1990er und 2000er Jahren ist das Wissen über Transidentität gering. Sein Handicap macht er wett «mit einer unglaublichen Willenskraft» (Henkel): Er verdrängt, was ihn im Unterbewusstsein permanent quält, arbeitet umso mehr, verfolgt und erreicht seine Ziele konsequent.

MÄCHTIGER EINFLÜSTERER

Seine Unsicherheit kompensiert Henkel mit Härte: In der Jugend spielt er Handball in der Extremposition Kreisläufer, von den Spielen kommt er regelmässig mit grünen und blauen Flecken zurück. In der deutschen Bundeswehr wird er Offizier der Panzeraufklärer, einer traditionellen Elite-Einheit, die hinter den feindlichen Linien operiert. Die Banklehre muss bei der Deutschen Bank sein und nicht bei der nahe gelegenen Volksbank Hameln, das Studium an der Eliteuni HSG. Doch auch das reicht nicht, er hängt ein Doktorat dran, gesponsert von nicht irgendjemandem, sondern von Carl Hahn, zu diesem Zeitpunkt Vorstandsvorsitzender von Volkswagen und einer der mächtigsten Manager Europas.

Danach steigt Henkel ein in die härteste Branche, die es neben dem Investmentbanking für Hochschulabsolventen gibt: die Unternehmensberatung. Erst bei A.T. Kearney, dann bei der Boston Consulting Group, danach als Schweizer Chef von Monitor. Weil er überall erfolgreich ist, kommt 2006 das Angebot von Beraterlegende Roland Berger, dessen Schweizer Büro zu übernehmen mit 25 Mitarbeitern und dem klaren Auftrag, es innert fünf Jahren zu verdoppeln. Das reicht Henkel nicht, er vergrössert es auf über 80 Mitarbeiter und geschätzt mehr als 35 Millionen Umsatz. Zu diesem Zeitpunkt ist er einer der mächtigsten Einflüsterer der Schweizer Wirtschaft, zu seinen Kunden gehören UBS-Präsident Peter Kurer, CSCEO Oswald Grübel, Sulzer-Chef Ton Büchner oder Swisscom-CEO Carsten Schloter, um nur ein paar zu nennen. Henkel wird Mitglied im renommierten Club zum Rennweg.

Roland Berger Strategy Consultants unter CEO Martin Wittig gilt damals als Inbegriff der Macho-Kultur. Die pflegt auch Henkel: Er fährt Porsche, zum Sommerfest in seiner Villa in Küsnacht lässt er die Mitarbeiter im Wasserball gegeneinander antreten, jener Sportart, die wegen der vielen versteckten Fouls unter Wasser als eine der härtesten überhaupt gilt. «Carsten war der Inbegriff des erfolgreichen, toughen Managers, der auch mal auf den Tisch hauen konnte», sagt Ljubica Pavlovic, heute Henkels engste Mitarbeiterin. «Ich habe zweifelsohne meine Rolle so extrem gelebt, weil ich mir beweisen wollte, dass ich ein Mann bin», sagt Henkel selber. Auch äusserlich entspricht er dem maskulinen Ideal: eckige Kopfform, markante Gesichtszüge, klar definierte Kinnspalte. «Ich war erfolgreich, hatte eine tolle Frau, einen tollen Sohn. Eigentlich war die Welt in Ordnung – wenn ich nicht ständig diesen Brain Fog gehabt hätte», blickt er zurück. Auf der beruflichen Bühne spielt er den eloquenten Redner und Präsentator, doch persönlich bleibt er introvertiert, privat lässt er ausser der Familie niemanden wirklich an sich heran.

So geht es ein Jahr ums andere. Bewegung in die Sache kommt erst, als im Dezember 2010 Henkels Mutter stirbt. Um den Tod zu verarbeiten, aber auch um die Ursachen für sein permanentes Unbehagen zu finden, begibt er sich in Psychoseitherapie. Nach ein paar Sitzungen äussert der Therapeut die Vermutung: «Sie sind im falschen Geschlecht geboren.» Aber es kann nicht sein, was nicht sein darf. «Als ich merkte, dass dieses Thema wahrscheinlich doch viel grösser ist, als ich dachte, beendete ich die Therapie sehr schnell», so Henkel. Nach der letzten Therapiesitzung geht er ins Büro und staucht seine Partner zusammen, warum sie nicht mehr Projekte verkauft hätten. «Ich war damals ein Hard Driving Asshole», sagt Henkel. Doch der Geist ist aus der Flasche.

GUT IM VERSTECKEN

2014 macht sich Henkel selbstständig und baut mit Skyadvisory seine eigene Unternehmensberatung auf. Der Stress der Gründerjahre ist wieder ein guter Grund, sich nicht mit seinem Problem auseinanderzusetzen. Zumal er Erfolg hat, die Firma wächst auf über ein Dutzend Partner. Aus seinem Umfeld bemerkt hat in all dieser Zeit niemand etwas. Wie sollten sie auch? Trans Personen zeigen in der Regel kein auffälliges Verhalten, sondern halten sich an die gesellschaftlich verabredeten Geschlechterrollen. «Hie und da gab es eine Situation, wo man im Nachhinein sagt: Vielleicht war das ein kleiner Wink. Aber damals habe ich nie konkret etwas gemerkt», sagt Jan Wurzbacher, CEO von Climeworks und Kunde von Henkel: «Er hat immer gut verstecken können, dass er innerlich am Kämpfen war.»

Doch das fortwährende Ringen mit sich selbst fordert seinen Tribut. Schleichend verlassen Henkel die Kräfte. Den einen Moment, als er zum ersten Mal den Gedanken zulässt, an der Theorie des Therapeuten könnte etwas dran sein, gibt es nicht. Es ist ein Prozess: «Ich brauchte den Mut zu erkennen: Da ist was Weibliches in mir.»

2016 fängt Henkel an, systematisch zu recherchieren, er liest wissenschaftliche Artikel, sammelt Daten, geht zu verschiedenen Fachgruppen. Und er spricht zum ersten Mal mit seiner Frau Ilona darüber, mit der er seit 25 Jahren verheiratet ist: «Sie hat mich immer unterstützt, herauszufinden, was mit mir los ist.» Ein Jahr später geht er zum ersten Mal zur Kur nach Deutschland – als geschminkte Frau, mit Perücke, Rock und Damenschuhen. Es ist ein Experiment, um herauszufinden: Wie fühlt er sich, wenn er mal zehn Tage in der weiblichen Rolle lebt, ohne Ablenkung durch Arbeit oder Internet? «Ich war erstaunt, wie gut mir das getan hat, wie wohl ich mich gefühlt habe und wie sicher ich mich damals schon als Frau bewegt habe», blickt er heute zurück. Fünf Jahre lang forscht Henkel intensiv, wiederholt die Kur. Dennoch versucht er zu dem, was er liest, zu den Ergebnissen sei ner Analyse innerlich eine grosse Distanz zu halten. Noch immer befindet er sich in der Denial-Phase, wie es die Wissenschaftler ausdrücken, im Nicht-wahrhaben-Wollen.

Der Tag der Wahrheit kommt im Winter 2021. Im Rahmen seiner Recherchen landet er bei einem Experten der Fachgruppe Trans am Unispital Zürich. Im dritten Gespräch sagt der Professor: «Herr Henkel, Ihr Fall ist sehr klar: Sie sind eine trans Frau.» Beim Test erfüllt Henkel fast alle 42 Kriterien für diese Diagnose: «Da war für mich zum ersten Mal klar, wo der Hammer hängt.» Jetzt gibt es kein Weglaufen mehr. Henkel muss sich entscheiden: Will er den Rest seines Lebens leiden – oder will er den Rest seines Lebens als Frau verbringen?

Der Fachmann ist schonungslos: «Wenn Sie diese Entscheidung treffen, müssen Sie sich bewusst sein, dass Sie möglicherweise alles verlieren: Ihre Familie, Ihre Freunde, Ihren Job, Ihr soziales Umfeld. Aber eigentlich haben Sie gar keine andere Wahl.» Es ist der Moment, den Henkel heute als den schwierigsten des Lebens bezeichnet. «Ich wusste: Wenn ich den Schritt mache, enttäusche ich viele Menschen – oder stelle ihnen zumindest eine sehr schwere Aufgabe, die sie sich nicht ausgesucht haben.»

KEINE VORBILDER

Als Unternehmensberater ist Henkel ein Macher, er weiss, wann Zeit ist zum Handeln für seine Kunden – und auch für sich selbst. Entsprechend schnell entscheidet er sich für die Transition. Zwei bis drei Jahre dauert so ein Prozess, aber eigentlich ist er nie wirklich abgeschlossen. Ausser seine Frau und den 12-jährigen Sohn weiht Henkel niemanden ein. Vorbilder hat er keine: Die meisten trans Menschen vollziehen die Geschlechtsanpassung in einer viel früheren Lebensphase – «es ist beachtlich, wie lange Sie durchgehalten haben», sagt ihm der Professor am Unispital. Klar, es gibt Bruce Jenner als berühmtes Gegenbeispiel. Der ehemalige Zehnkampfweltrekordler und Reality-TV-Star («Keeping up with the Kardashians») unternahm die Transition zu Caitlyn Jenner mit 65 Jahren. Aber Hollywood ist weit weg. Und auch aus Schweizer Unternehmerkreisen gibt es kaum Beispiele. Der einzig prominente Fall war Zattoo-Gründer Beat Knecht, der 2012 die Transition zu Bea Knecht machte. Mit ihr tauscht sich Henkel aus. Aus Liechtenstein bekannt ist noch der Fall Roger/Angela Matthes, 2014 CEO der dortigen Baloise Life.

Im Januar 2021 beginnt Henkel die Hormontherapie, von da an werden ihn die Pflaster und Gels für den Rest seines Lebens begleiten. Weil er vorher intensiv Studien zu dem Thema gelesen hatte, bringt er die Ärzte am Zürcher Unispital dazu, Art und Dosierung der Östrogene an seine eigenen Vorstellungen anzupassen. Der Erfolg stellt sich schnell ein: «Nach zwei, drei Wochen spürte ich, wie der Brain Fog in meinem Kopf verschwand. Ich war energiegeladen. Es fühlte sich richtig an.» Auch seine Schwester Hanna Christiane weiss zu diesem Zeitpunkt noch von nichts. Aber bei einem gemeinsamen Lunch fällt ihr auf, dass der sonst so hyperaktive Carsten «plötzlich richtig entspannt war, eins mit sich».

Damit hat Henkel sein Hauptziel erreicht. Aber halbe Sachen macht er nicht, er geht den Weg weiter: «Für mich war klar, ich wurde als Frau im männlichen Körper geboren. Und dann muss ich auch konsequent anstreben, in dieser Rolle zu leben.» Für den Unternehmensberater ist es das grösste Projekt seines Lebens. Also setzt er einen Projektplan auf. Als Zielpunkt peilt er den Mai 2023 an für eine Gesichtsoperation. Und definiert die Schritte dahin: Was sind die einzelnen Streams für das Projekt, wohin auf der Zeitschiene gehören sie?

Etwa das Weight Cycling: erst fünf Kilo abnehmen, dann fünf Kilo zunehmen, dann das Gleiche noch mal. Auf diese Weise wird Fett am Körper erst ab- und wieder aufgebaut. Die Zunahme folgt dann aber wegen der weiblichen Hormone vermehrt dort, wo eine Frau Fettpolster hat – am Hintern, an der Brust oder im Gesicht an den Wangenknochen. Ein weiteres Teilprojekt ist das Stimmtraining: Mehr als eineinhalb Jahre braucht es, um die Sprachmelodie zu feminisieren. Auch eine weibliche Sprechstimme hat Henkel gelernt. Sie klingt, diplomatisch ausgedrückt, irritierend. «Die ist noch nicht stabil», sagt Henkel, «wann und wie ich sie nutze und wie ich sie weiterentwickele, weiss ich noch nicht.» Hinzu kommen Psychotherapie und Haarentfernung als weitere Streams. Und natürlich die Namensgebung: Carsten ist die norddeutsche Version von Christian, doch die weibliche Variante Christiane trägt bereits seine Schwester als Namen. Also entscheidet sich Henkel für Christina. Den Porsche tauscht er gegen einen Mini.

KANTONAL GEREGELT

Zum Coiffeur geht er das letzte Mal vor Weihnachten 2021, seither lässt Henkel, dessen Haupt das Leben lang kurz geschoren war, die Haare wachsen. Letzten Sommer, ein Jahr vor der Operation, beginnt er, den Sonntag daheim in weiblicher Rolle zu verbringen, um die Familie daran zu gewöhnen. Von der Selbsthilfegruppe Transgender Network Switzerland lässt er sich beraten beim juristischen Prozess. Denn der hat es in sich: Weil Henkel den deutschen, aber nicht den Schweizer Pass hat, erfolgen die behördliche Geschlechts- und Namensänderung nach deutschen Regeln. Heisst: Er muss zwei medizinische Gutachten vorlegen, die unabhängig voneinander bescheinigen, dass er die Kriterien für eine Geschlechtsanpassung nach deutschem Gesetz erfüllt und dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit langfristig in der weiblichen Rolle leben wird. Henkel reicht die Papiere im Februar dieses Jahres bei den deutschen Behörden ein.

Das Amtsgericht Berlin-Schöneberg, zuständig für Auslanddeutsche, gibt dem Antrag am 3. Mai statt. Es ist für Henkel der Tag der Reinkarnation. Mit dem Beschluss kann er eine neue Geburtsurkunde anfordern und mit dieser bei der Deutschen Botschaft in Bern einen neuen Pass. Mit diesem wiederum bei den Schweizer Behörden einen neuen Ausländerausweis, bei den Banken neue Kreditkarten etc. Für Personen mit Schweizer Staatsbürgerschaft ist das Verfahren deutlich einfacher: Den amtlichen Geschlechtseintrag kann man seit letztem Jahr jederzeit auf jedem Zivilstandsamt unbürokratisch än dern. Die Gebühr beträgt 75 Franken, Voraussetzungen dafür gibt es nicht, die Änderung ist sofort gültig – der behördliche Prozess der Geschlechtsänderung ist einfacher, schneller und billiger, als etwa eine Anwohnerparkkarte zu beantragen. Kantonal geregelt ist hingegen die Vornamensänderung. Häufig wird eine ärztliche Bestätigung gefordert, dass eine Transidentität vorliegt.

Auch einen Kommunikationsplan legt sich Henkel zurecht. Familie, engste Freunde und Mitarbeiter weiht er im Dezember letzten Jahres ein, ab dem Frühjahr den erweiterten Freundes- und Bekanntenkreis sowie die Kunden. Rund 90 Gespräche führt er, das Vorgehen ist meist das gleiche: Er bittet zum Lunch oder zum persönlichen Treffen, erzählt seine Geschichte und seine Pläne, drückt dem Gegenüber zwei Bücher in die Hand: Biografien von Caitlyn Jenner und von Ulrika Schöllner, einer deutschen IT-Beraterin und trans Frau. Alle Gesprächspartner reagieren völlig überrascht auf Henkels Coming-out, selbst die eigene Schwester. Für die allermeisten ist es der erste Berührungspunkt mit dem Thema Transidentität. Höhepunkt in der Kommunikation sind im Juni eine Rund-Mail und ein LinkedIn-Post, der über 17 000 Impressions einbringt. «Ehrlichkeit und Transparenz des Coming-outs hatten einen sehr positiven Effekt auf das Team und die Kunden», sagt Mitarbeiterin Pavlovic.

IM NEUEN GEWAND

Einen Monat vor der Operation lässt sich Henkel neue Visitenkarten drucken und eine neue E-Mail-Adresse einrichten. Stephanie Schoss, Direktorin der HSG Executive School und eine der ersten Eingeweihten, mailt in dieser Zeit regelmässig an beide Accounts. «Ich habe schnell gemerkt, da antworten mir zwei unterschiedlichen Persönlichkeiten», sagt sie: «Carsten kam schnell zur Sache, die Mails waren professionell kurz und knapp. Mit Christina war der Austausch viel ausführlicher, es ging auch mal um Modetrends oder wurde philosophisch.»

Am 22. Mai fliegt Henkel nach Marbella, drei Tage später wird er operiert. Zehn Stunden, acht davon unter Narkose, dauert der Eingriff in einer weltweiten Topklinik für Gesichtsfeminisierung. Es ist das volle Programm, vom Glattfräsen des Vorderkopfes, der Augenbrauenknochen und des Adamsapfels über das Versetzen des Haaransatzes nach unten bis zum Lip Lift, das Ganze für 55 000 Euro. Die zahlt keine Krankenkasse, anders als die Kosten für Hormon- oder Psychotherapie. Ob Henkel auch Eingriffe an tiefer gelegenen Körperbereichen gemacht hat, bleibt ein Geheimnis. Nach der Operation sieht Henkel «aus wie ein Monster» (Eigenaussage). Viel wichtiger aber: Es ist der letzte Schritt in die weibliche Rolle, psychisch wie physisch: «Meine soziale Transition ist abgeschlossen.» Was Ende Jahr noch kommen wird – Facelift, Neck Lift, Fetttransfer an verschiedene Stellen im Gesicht –, ist nur noch Kosmetik. Mitarbeiterin Pavlovic ist die Erste, die Henkel knapp drei Wochen nach der Operation zum Lunch trifft: «Ich habe sie zuvor noch nie so happy, zufrieden und ausgeglichen gesehen», sagt sie. Seither wiederholt Henkel ihre Gesprächstour bei Freunden, Bekannten und Kunden – «in neuem Gewand».

Henkel ist in der Schweizer Wirtschaft bestens vernetzt, die Reaktionen auf ihre Transition sind zahlreich – und ausschliesslich bestätigend. Wobei sie das selber richtig einzuschätzen weiss: «Wie viele vordergründig positiv reagiert haben, in Wahrheit aber ein Problem damit haben, werden wir sehen.» Und es gibt jene, die gar keine Reaktion zeigen: «Ich muss damit rechnen, dass ich Leute verliere, von denen ich glaubte, sie würden mir nahestehen.» Denn auch wenn eine Geschlechtsanpassung kein Tabuthema mehr ist, liegt sie für viele ausserhalb des Vorstellungsrahmens.

EXTROVERTIERTER ALS FRÜHER

Claus Martini, Geschäftsführer der Medizinaltechnikfirma IVF Hartmann in Neuhausen SH, ist der Erste, der Christina Henkel nach der Transition für ein Projekt engagiert: «Sie war entsprechend nervös, aber alles hat wunderbar geklappt», sagt er: «Die Erfahrung in der Zusammenarbeit war genau so positiv wie zuvor.» Auch die anderen Klienten, sagt Henkel, hätten positiv reagiert, weil sich zwar das Äussere geändert habe, nicht aber die Persönlichkeit und ihre Fähigkeiten. Aber sie weiss auch: «Es wird vielleicht Kunden geben, die ein Problem damit haben, und ich werde es nicht merken. Diesen Preis werde ich bezahlen müssen, aber ich kann ihn heute noch nicht beziffern.» Letztendlich ist es Henkel egal: «Mein Glück als Mensch hängt nicht davon ab, wie viel Aufträge oder LinkedIn-Likes ich bekomme.» Als Arbeitgeber jedenfalls hat Skyadvisory nicht an Attraktivität verloren: Soeben konnte Henkel Carlos Ammann als neuen Associate Partner gewinnen. Das Urgestein der Schweizer Beraterszene gilt als einer der erfahrensten Consultants des Landes.

Christina Henkel ist noch immer dabei, sich in ihre neue Rolle einzufinden. «Aber es fällt mir unglaublich leicht», sagt sie. Männer seien ihr als Frau gegenüber respektvoller, freundlicher und zuvorkommender. Sie geniesst es, dass ihr die Tür aufgehalten wird, die Geschäftspartner nun den Tisch im Restaurant reservieren, sie dort die Speisekarte zuerst in die Hand gedrückt bekommt. «Aber ich schlafe weniger, weil ich jeden Morgen mindestens eine Dreiviertelstunde länger brauche, um mich fertig zu machen und zu schminken.» Statt weissem Hemd, blauem Anzug und Krawatte trägt sie jetzt weisse Bluse, blaue Hose oder Rock. Henkel hatte schon immer eine hohe emotionale Intelligenz, aber im Laufe der Transition, sagt Pavlovic, habe sich auch das Führungsverhalten ihrer Chefin verändert: «Sie ist feinfühliger geworden, hat mehr weibliche Intuition, auch in Kundensituationen.» Und Henkel ist extrovertierter als früher.

NEUE AUSSICHT AUF VR-MANDATE

Knapp 60 Jahre hat Henkel gebraucht, um sich für eine Transition zu entscheiden. Für den Familienmenschen kam der Zeitpunkt dennoch nicht zu spät: «Es liegt auf der Hand zu sagen, ich hätte das viel früher machen müssen. Aber das ist unreflektiert und auch nicht wahr», sagt sie: «Wäre ich mit 30 transitioniert, hätte ich meine Frau nicht kennengelernt und geheiratet. Wäre ich mit 40 transitioniert, hätte ich keinen Sohn.» Für die Familie aber ist es nicht leicht: Ehefrau Ilona trauert noch dem alten Carsten nach. «Meine Frau respektiert mich und nennt mich weiter mit meinem Kosenamen, der Sohn sagt immer noch Papa», so Henkel. Die Erfahrung zeigt: Eine Transition ist eine riesige Herausforderung für den Ehepartner, nicht selten steht am Schluss die Trennung. «Wir verarbeiten diesen Prozess weiterhin gemeinsam», so Henkel: «Da gibt es noch kein Ergebnis und auch keine Prognose.»

Auch wenn sie nun formell als T in der LBGTQ-Gemeinschaft gilt: Mit dieser Szene hat sie keine Berührungspunkte. «Ich verstehe mich auch nicht als Aktivistin», sagt sie. Als Ansprechperson für trans Menschen in Führungspositionen hingegen schon. Stephanie Schoss hat für Henkel mehrere Vorlesungsprogramme an der HSG eingerichtet zu den Themen «Transition in Life» und «Inclusive Leadership»: «Da gibt es ein ganz grosses Interesse an authentischen Geschichten», sagt sie. Mit dem Vorlesungsthema Unternehmensstrategie, das Henkel vor der Transition vorgeschlagen hatte, «hätte er sich als Mann über 50 nicht differenzieren können», so Schoss. Henkel kann auch vermehrt mit VR-Mandaten rechnen. Schon als Carsten hatte er Einsitz in Boards genommen. In Zeiten, in denen die Headhunter händeringend nach Frauen suchen für derartige Positionen, dürfte es Christina noch leichter fallen. Soeben hat sie das Angebot erhalten, in den Beirat einer deutsch-amerikanischen Familienfirma einzutreten.

Weltweit sind trans Personen bisher rar in den Teppichetagen. Sue Y. Nabi, CEO der Kosmetikfirma Coty, identifiziert sich als solche, internationale Aufmerksamkeit erregte 2019 die Transition von Michael zu Maeve DuVally, Kommunikationschef von Goldman Sachs. In Schweden gibt es das Beispiel von Carl bzw. Caroline Farberger, CEO des Versicherungskonzerns ICA, aus den USA jenes von Seriengründerin Martine Rothblatt. Dabei wären trans Personen besonders geeignet für Führungspositionen: Wegen ihres ständigen inneren Kampfes haben sie sich eine sehr hohe Belastbarkeit und Resilienz zugelegt. Sie verfügen häufig über hohe emotionale Intelligenz. Sie können Sachverhalte aus der Perspektive beider Geschlechter anschauen. Und sie bringen Mut mit, weil sie selber Mut aufbringen mussten, um ihre schwierige Situation zu erkennen und zu akzeptieren und den Weg in die andere Rolle zu gehen.

Henkel ist den Weg gegangen. Ganz Unternehmensberaterin, hat sie die Kosten für das Projekt Transition ermittelt. Geschätzt über 1800 Stunden hat sie im Lauf der Jahre investiert, bei ihrem Tagessatz von 5000 Franken entspricht das überschlagsmässig einer knappen Million Franken. Plus die Kosten für die Operationen, die neue Garderobe und die, wie sie sagt, «sicher mehr als 60 Paar Schuhe».

Für Christina Henkel, da ist sie sich sicher, war es die beste Investition ihres Lebens.

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