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Reportage aus einem Staat auf dem Weg zur Kriegsdiktatur: Westliche Sanktionen scheinen Russland nicht im Alleingang zu bezwingen, schränken aber seine Handlungsfähigkeit empfindlich ein. Neue Partnerschaften mit China und Zentralasien, letzteres zum Schmuggel von westlichen Gütern, Inflation, Mangel an Arbeitskräften und die Umstellung auf Kriegswirtschaft sprechen für eine durchwachsene Wirtschaftslage, die von den eigenen Reserven zehrt. In der Bevölkerung herrschen Repressionen (Überwachung, Zwangseinberufung und Enteignung), Angst und Apathie; es gebe behutsame Zeichen des Widerstandes.

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Moskaus Macht und ihre Grenzen

Auch heute sind Elena, 57, und ihre Cousine Swetlana, 50, wieder ins Zentrum Moskaus gekommen, um Blumen für Alexei Nawalny abzulegen. Sie versuchen zunächst, die drei Sicherheitsbeamten einzuschätzen, die um das Mahnmal herumstehen, das eigentlich an die politischen Gefangenen der Sowjet-Ära erinnern soll. Fragen andere Anwesende, wie angespannt die Situation sei. „Sie schränken unsere Freiheit immer weiter ein. Hier Blumen abzulegen ist das Einzige, was uns noch erlaubt ist“, sagt Elena.

Und selbst das sei mittlerweile gefährlich. Am vergangenen Wochenende verhafteten Sicherheitskräfte im ganzen Land schätzungsweise über 400 Menschen, die ihre Trauer über den Tod des Oppositionellen im sibirischen Straflager „Polarwolf“ zum Ausdruck brachten. Medienberichten zufolge wurde manchen der verhafteten Männer direkt die Einberufung ausgehändigt.

20 Jahre lang ging Svetlana erst zu den von Nawalny organisierten Demonstrationen, später auf Proteste für seine Freilassung. Nun nimmt sie Abschied vom Oppositionsführer und empfinde dabei große Verzweiflung: „Ich weiß einfach nicht mehr, wohin mit meiner Wut.“

Das Niederlegen von Blumen ist von der Trauerbekundung zum Akt des Widerstands geworden. Nachts stopfen maskierte Männer die Blumen unter den Augen der Polizei in Müllsäcke, am nächsten Morgen liegen neue dort.

Zwei Jahre nach Beginn der groß angelegten russischen Invasion der Ukraine zeigt sich Putin härter denn je, in Russland, in der Ukraine und auf der internationalen Bühne. Zwei Jahre, in denen sich viele Hoffnungen des politischen Westens zerschlagen haben: Die russische Wirtschaft liegt allen Sanktionen zum Trotz nicht danieder, sondern wirkt erstaunlich robust. Der Großteil der Opposition ist im Exil, im Gefängnis oder tot.

Aber stimmt nach zwei Kriegsjahren das Bild von Putin als starker Präsident – oder steckt dahinter ein fragiler Staat, den nur noch Repression und Angst zusammenhalten?

In den frühen Morgenstunden des 24. Februar 2022 überfallen russische Truppen das gesamte Staatsgebiet der Ukraine. Zwei Tage zuvor waren russische Truppen bereits in die seit Jahren umkämpften Gebiete im Osten der Ukraine eingerückt. Die Halbinsel Krim hatte Russland bereits 2014 besetzt.

2022 reagiert die Europäische Kommission nur Stunden nach dem Angriff. Gemeinsam mit den USA und anderen westlichen Staaten will sie es Russland durch bereits vorbereitete Sanktionen erschweren, den Krieg zu finanzieren.

Laut Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen werde man zudem „die wirtschaftliche Grundlage Russlands und seine Modernisierungsfähigkeit schwächen“. Doch die große Hoffnung, Russland durch die Sanktionen zu einem Ende des Krieges zu zwingen, hat sich nicht erfüllt. Zwar wirken die Sanktionen – aber anders und längerfristiger als erhofft.

1. Ein Land lebt von der Substanz - aber das ziemlich gut

Im Moskauer Businessviertel „Moscow City“ wirken Krieg und Sanktionen Lichtjahre entfernt. In den Lobbys der Wolkenkratzer läuft Loungemusik, Anzugträger mit bunten Socken treffen sich nach Feierabend auf den ersten Drink. Junge Männer im Kapuzenpulli bestellen noch einen Espresso, bevor es zurück an den Schreibtisch geht. Besucher – mittlerweile vorwiegend Russen – genießen auf einer Aussichtsplattform den Sonnenuntergang über der Stadt. Im Ticketpreis enthalten: unbegrenzt Eis und Schokolade.

In Moskaus Luxuskaufhäusern sind die Boutiquen großer westlicher Marken weiterhin geöffnet. Wer es sich leisten kann, shoppt bei Swarovski, Chanel oder Hugo Boss. In manchen Supermärkten ist die Auswahl deutscher Biere größer als am Kiosk in Deutschland.

Einige Marken sind nun durch russische Pendants ersetzt, „Wkusno i totschka“ (übersetzt etwa: Lecker und basta) statt McDonald’s, „Stars Coffee“ statt Starbucks. In einem sibirischen Restaurant im Zentrum der Stadt essen Geschäftsleute Bärenfleisch, nicht aus Mangel an Alternativen, sondern aus Prinzip. Wer sucht, findet echte Coca-Cola oder Fanta – geliefert über Aserbaidschan, Japan oder China.

Händler von Luxusautos bieten immer mehr chinesische Modelle an – aber auch weiterhin BMWs oder Mercedes, obwohl Autos mit einem Wert über 50.000 Euro klar unter die Sanktionen fallen. Die Hoffnung, dass sich die Oberschicht gegen Putin auflehnt, weil der Champagner in Moskau und St. Petersburg nicht mehr fließt (natürlich fließt er weiterhin), ist längst verpufft.

Man könnte meinen, die russische Wirtschaft trotze allen Einschränkungen. Diese wahrgenommene Resilienz verdankt Russland unter anderem der Tatsache, dass die Zentralbank schnell auf die Sanktionen reagierte, unter anderem den Leitzins massiv anhob und es direkt im März 2022 verbot, größere Summen Bargeld auszuführen.

Die Führung des Landes verstärkte Partnerschaften, die die Beziehungen zum Westen ersetzen sollten, etwa zu China und Indien. Der Arbat, Moskaus wichtigste Touristenstraße, war früher voller Touristen aus aller Welt.

An diesem Februarvormittag folgt nur eine asiatische Reisegruppe ihrer Stadtführerin über die dünne Schneeschicht. Auch in vielen Hotels kommen vermehrt Reisende aus China oder Indien unter, um Westler wird kaum noch geworben. Vor einem Souvenirgeschäft blickt den Besuchern nicht nur ein lebensgroßer Papp-Putin entgegen, sondern direkt daneben der chinesische Staatspräsident Xi Jinping.

Groß feiert Moskau im Februar das chinesische Neujahrsfest, ganze Straßen sind gesäumt von Büdchen mit chinesischem Essen, geschmückt mit roten und goldenen Lampions. Die „erste große Feier des chinesischen Neujahrs in der russischen Hauptstadt“ sei ein „Meilenstein“ in der Beziehung zwischen beiden Ländern, meldete der Moskauer Tourismusausschuss. Doch die Freundschaft ist keine auf Augenhöhe.

„Der russisch-chinesische Handel hat seit Beginn von Moskaus Invasion stark zugenommen“, analysiert Janis Kluge von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. „Dagegen sind die chinesischen Investitionen in Russland, die ohnehin schon gering waren, seither weiter geschrumpft.“

Das macht Russland verletzlich, wenn es hakt: Erst vor zwei Wochen stellte die Zhejiang Chouzhou Commercial Bank, die russische Importeure für den Handel mit China nutzen, ihre Russlandtransaktionen ein. Grund dafür sind die sekundären US-Sanktionen. Also Strafmaßnahmen, die die USA ihrerseits gegen manche Firmen verhängt, die Russland unterstützen.

Darüber hinaus verlässt sich Russland vor allem auf zentralasiatische Staaten und die Türkei, wie das Wirtschaftsforschungsinstitut Ifo analysiert. Auch Güter, die kritisch für die russische Rüstungsproduktion sind, wie etwa Kugel- und Rollenlager, finden häufig über Armenien, Kasachstan, Usbekistan, Kirgisistan oder die Türkei ihren Weg nach Russland, so die Ifo-Analyse. Diese Länder hätten 2022 „fünfzigmal mehr Güter nach Russland exportiert, die kritisch für die russische Wirtschaft oder wichtig für die Militärindustrie sind, als sie 2019 an allgemeinen Gütern in alle Zielländer exportiert haben“.

Für Feodora Teti, stellvertretende Leiterin des ifo Zentrums für Außenwirtschaft, deutet das mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auf eine Umgehung der Sanktionen hin. Mikroschaltkreise aus Deutschland fanden sich nach ukrainischen Angaben beispielsweise in russischen Kampfhubschraubern.

Trotz der Sanktionen steigerte Russland 2023 seine Militärproduktion und lieferte laut dem Jahresbericht des Verteidigungsministeriums unter anderem über 1500 Panzer und 22.000 Drohnen an seine Streitkräfte. Und dennoch: „All das trotz der Sanktionen zu erreichen schafft zusätzliche Kosten, raubt Energie und Zeit“, sagt der russische Politökonom Konstantin Sonin, der an der University of Chicago lehrt. Die Sanktionen würden Russland durchaus bei der Kriegsführung einschränken – „im Rahmen dessen, was Sanktionen leisten können“.

Was Sonin damit meint, hat der Historiker Nicholas Mulder bereits 2022 so formuliert: „Erwartet nicht, dass Sanktionen den Ukrainekrieg gewinnen.“ Sie könnten nur Teil einer größeren außenpolitischen Strategie sein.

2. Oberste Priorität: Produzieren für den Krieg

Lange hatte der Kreml versucht, den Krieg aus dem europäisch anmutenden Großstadt-Lebensgefühl von Moskau und St. Petersburg fernzuhalten. Dass der Krieg auch der Hauptstadt näherkommt, zeigt sich am Ende der Metro-Linie 15, wo die östlichste Station des riesigen Moskauer U-Bahn-Netzes liegt.

Wegen der Kläranlagen in der Gegend schrieb ein Moskauer Stadtmagazin 2020, der Stadtteil Nekrasowka sei „wortwörtlich auf Scheiße gebaut“. Auch jetzt weht ab und zu ein strenger Geruch durch die Straßen, aber die Wohnungen sind günstiger als im Zentrum. Rund um die Metro-Station ragen gleichförmige Hochhäuser in den Himmel, so weit das Auge reicht.

Auf dem zentralen Platz steht eine orthodoxe Kirche, wichtigster Treffpunkt ist aber der lokale Burger King (die Betreibergesellschaft hat sich im Unterschied zu McDonald’s nicht zurückgezogen). Die Regale im Minimarkt auf der anderen Straßenseite sind voll, an Lebensmitteln mangelt es im Land nicht. Doch was das Viertel verändert: Nicht einmal 500 Meter entfernt vom Wohngebiet hat der Staat gerade eine neue Rüstungsfabrik fertiggestellt.

Die militärische Produktion treibt Russlands Bruttoinlandsprodukt (BIP) in die Höhe. „Aber das BIP ist kein passender Indikator für eine Kriegswirtschaft“, sagt Sonin. „Wenn Russland noch fünf Jahre so weiter wirtschaften kann, wäre das ein Wunder. Zwei Jahre wären schon großzügig bemessen.“

So weiter wirtschaften, damit meint Sonin, dass in Russlands Wirtschaft der Krieg gegen die Ukraine oberste Priorität hat. Durch die Rüstungsproduktion würde aber kein echter Wert geschaffen. Die Lebenszeit eines Panzers im Kriegsgebiet liegt deutlich unter der eines Autos, neuer Möbel oder Computer.

Der Ökonom Sergei Guriev, der Russland ebenfalls längst verlassen hat, ist sich sicher: Putin sei wirtschaftlich „viel schwächer“ als vor Beginn der Vollinvasion in der Ukraine. „Stellen Sie sich Putins Militärmaschinerie ohne Sanktionen vor – uneingeschränkter Zugang zu westlicher Technologie, ein unbegrenzter Staatsfonds und Fähigkeit, von hohen Ölpreisen zu profitieren.“

3. Ein Staatshaushalt, der Geheimdienste interessiert

Russlands Budget für den Sicherheits- und Verteidigungssektor ist mittlerweile enorm. Dafür sind 2024 fast 40 Prozent aller Staatsausgaben vorgesehen, das entspricht einem Plus von 70 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Dennoch rechnet die russische Regierung mit einem Haushaltsdefizit von nur einem Prozent des BIP.

Auch die Staatsverschuldung ist gering, im dritten Quartal 2023 lag sie in Russland laut IWF-Schätzungen nur bei 15,7 Prozent des BIP. In der Euro-Zone sind es 89,9 Prozent, in Deutschland 64,8 Prozent.

Der britische Militärnachrichtendienst ist der Ansicht, dass Russland zu optimistisch plant. Das Land will seine Ausgaben 2024 um 26 Prozent erhöhen, was aber auf den „Erwartungen eines Anstiegs der Einnahmen um 22 Prozent und einem erwarteten Anstieg der Öl- und Gaseinnahmen um fast 25 Prozent“ basiere. Stattdessen gehen die Briten davon aus, dass Russland die Beiträge zu seinem Staatsfonds reduzieren, Steuern erhöhen und neue Schulden machen müsse – was wiederum dazu führen dürfte, dass die Inflation weiter steigt.

Fast die Hälfte der liquiden Reserven in dem Staatsfonds, der als „Nationaler Wohlstandsfonds“ eigentlich der Bevölkerung als Ganzes dienen soll, hat Moskau seit Februar 2022 aufgebraucht. Von Januar 2022 bis Dezember 2023 sank deren Wert von 8,9 Billionen auf fünf Billionen Rubel, umgerechnet rund 50 Milliarden Euro.

„Und Russland baut zugleich keine neuen Reserven mehr auf“, sagt Janis Kluge, Experte für Russlands Wirtschaft bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Er sieht die russische Wirtschaft zwar nicht vor dem Zerfall, aber sie sei anfälliger für Schocks, beispielsweise wenn der Ölpreis massiv sinken sollte.

Neben den offensichtlich durch Sanktionen verursachten Sorgen gibt es weitere Probleme, die durch den Krieg verursacht wurden. Dazu zählt vor allem der Mangel an Arbeitskräften, weil Männer an der Front stehen – oder das Land verlassen haben, aus Angst, eingezogen zu werden. Das wiederum treibt die Löhne in die Höhe.

Derzeit warnen viele Experten vor einer Überhitzung der russischen Wirtschaft. Um der entgegenzuwirken, hob die Zentralbank den Leitzins zuletzt auf 16 Prozent an, die Inflation liegt bei 7,4 Prozent, Ziel der Notenbank sind 4,0 Prozent.

Die Preise für viele Nahrungsmittel sind deutlich stärker gestiegen als der Durchschnittswert, das macht Durchschnittsverdienern und ärmeren Menschen besonders zu schaffen. „Die Zufriedenheit mit dem allgemeinen Lebensstandard hat abgenommen“, ermittelte eine aktuelle Umfrage des renommierten Meinungsforschungsinstituts Levada.

4. „Immer weniger Luft zum Atmen“ - Repressionen und kein Ende

In Moskau lässt sich leicht vergessen, dass in weniger als einem Monat die sogenannte Präsidentschaftswahl ansteht, bei der sich Wladimir Putin aller Wahrscheinlichkeit nach im Amt bestätigen lässt. Wahlplakate existieren – doch sie sind spärlich gesät, manchmal nur auf ein Blatt im A4-Format gedruckt – und fordern in den allermeisten Fällen nicht einmal dazu auf, einen bestimmten Kandidaten zu unterstützen, sondern schlichtweg zur Wahl zu gehen.

Ebenso wenig aufregend sind die eintönigen Wahlaufrufe per Lautsprecher in U-Bahn-Stationen. Eine hohe Wahlbeteiligung ist dem Kreml wichtig, um Putin als legitimen Sieger darzustellen. Berichten zufolge möchte man über 80 Prozent erzielen.

Alle oppositionellen Kandidaten, die nicht de facto kremltreu sind und nur zum Schein antreten, sind von der Wahl vorab ausgeschlossen worden. So wie Putin-Herausforderer Boris Nadeschdin, der sich offen gegen den Krieg ausspricht. Er hatte 105.000 Unterschriften eingereicht, womit er die Voraussetzung für die Kandidatur erfüllt hätte, doch 9000 davon wurden für ungültig erklärt. Verschiedene Berufungsanträge Nadeschdins wies der Oberste Gerichtshof wiederholt ab.

Größtenteils ist die russische Opposition nun tot, im Gefängnis, im Exil, verstreut über verschiedene Länder und kaum organisiert. Mit dem Tod Nawalnys im Straflager hat die Repression der Behörden gegen Oppositionelle nun einen neuen Höhepunkt erreicht.

„Wenn es wirtschaftlich nicht mehr weiter bergauf geht und Unruhe aufkommen könnte, verschärft sich hier die Repression“, sagt ein Manager mit besten Verbindungen innerhalb der Moskauer Geschäftswelt. „Früher gab es eine Art Gesellschaftsvertrag in Russland: Die Politik sorgt dafür, dass alles zum Leben da ist. Im Gegenzug kümmert sich die Gesellschaft nicht groß um die Politik.“ Doch seit Beginn des Kriegs werde zunehmend von der Bevölkerung überdacht, wie dieses Modell in Zukunft noch aussehen kann. Er sagt auch: „Es gibt immer weniger Luft zum Atmen.“

Angst und Apathie der eigenen Bevölkerung sind Putins stärkste Verbündete. Noch im Januar gaben 85 Prozent der Russinnen und Russen in einer Umfrage des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Levada an, mit den Aktivitäten des Präsidenten einverstanden zu sein. Kritiker halten entgegen, dass auch die vom renommierten Institut erhobenen Daten fehleranfällig seien, da Meinungsäußerungen gegen den Präsidenten Konsequenzen haben können. Ob der Tod Nawalnys an diesen Werten etwas ändert, werden erst die kommenden Erhebungen zeigen.

Russlandexperte Kluge sagt: „De facto steht Putin jetzt politisch niemand mehr im Wege.“ Mehr und mehr Medienhäuser, Menschenrechtsorganisationen, Nichtregierungsorganisationen oder Wissenschaftler wurden zu sogenannten ausländischen Agenten erklärt, weil sie Unterstützung aus dem Ausland erhielten oder Verbindungen ins Ausland pflegten.

Die Rechte von Schwulen, Lesben, Queeren und Transmenschen wurden immer weiter eingeschränkt. Selbst Ehefrauen von Soldaten, die die Heimkehr ihrer Männer von der Front forderten, wurden jüngst festgenommen.

Gerade Männer haben Angst, wegen Kleinigkeiten ins Visier der Behörden zu gelangen, denn nicht selten erhalten sie noch auf der Polizeiwache einen Einberufungsbescheid.

Und selbst in der Hauptstadt, von der die Behörden das Kriegsgeschehen lange so fern wie möglich halten wollten, hängen an den Eingängen von Cafés oder an Bushaltestellen Poster mit Werbung für den Dienst in der Armee, trifft man auf Männer in Uniform, einige von ihnen mit dem Z-Symbol der Kriegsunterstützer am Arm.

Auf der Touristenstraße Arbat stehen zwischen Souvenirläden Tafeln mit Bildern, sie zeigen den Blick heimischer Künstler auf die „militärische Spezialoperation“ – so nennt Russland den Krieg in der Ukraine offiziell immer noch. „Wir bringen Frieden“, steht auf einem der Plakate, in den Ecken Logos des Verteidigungsministeriums und der Armee. Zwei Soldaten schauen darauf in den Sonnenuntergang, die Sonne ist in „Z“-Form dargestellt.

Ein Laden im Viertel Chamowniki bietet Kriegsausrüstung an. Immer wieder berichten Soldaten, die für Russland an die Front ziehen, dass sie ihre eigene Ausrüstung mitbringen müssen, weil die Armee nicht alles zur Verfügung stellt.

Viele potenzielle Soldaten sind allerdings gar nicht mehr im Land. Schätzungen gehen von bis zu einer Million Menschen aus, die geflohen sind, als es im September 2022 zur ersten großen Mobilmachung kam. Lokale Medien berichten immer wieder über Fälle von gewöhnlichen Bürgerinnen und Bürgern, die sich gegen den Krieg aussprechen, in sozialen Netzwerken kritische Posts teilen oder ein Like an unerwünschter Stelle setzen und dafür Geld- oder Gefängnisstrafen bekommen.

Im russischen Alltag sind die Sicherheitskräfte stets präsent: Kaum eine Metrofahrt vergeht, ohne auf eine Gruppe von Männern in Uniform der Polizei oder Sicherheitsdienste zu treffen. Das Metrosystem wird vollständig videoüberwacht, Gesichtserkennung inklusive. Und auch im Exil wächst die Angst: Russen, die im Ausland leben und sich aus Behördensicht der „Diskreditierung der Armee“ schuldig machen, können jetzt in Russland enteignet werden.

Fälle von ausgereisten Wissenschaftlern, Unternehmern und Journalisten, die in Abwesenheit verurteilt werden, häufen sich. Medien und Ärzte verdächtigen die russische Regierung, Gegner im Ausland vergiften zu lassen.

Die Umstellung Russlands auf eine Kriegsdiktatur ist nicht kurzfristig gedacht, sondern auf Generationen ausgerichtet. Das zeigt ein Besuch bei der Ausstellung „Russland – Land der Möglichkeiten“, eine Art russischer Expo.

Zum einen präsentieren sich hier die russischen Regionen mit eigenen Ständen, auch die aus russischer Sicht „neuen Regionen“, das sind die besetzten Gebiete im Osten der Ukraine und auf der Krim. Zum anderen sollen Themenpavillons das Russland der Zukunft zeigen. In einem eigens für Kinder errichteten Pavillon namens „Armee der Kinder“ sollen sich schon die Kleinsten spielerisch für Berufe bei der Armee begeistern, ob als Drohnenpilot oder Krankenschwester.

Alles konzentriert sich auf den Krieg. „Putin hat politisch wie wirtschaftlich einen Weg eingeschlagen, den er nicht mehr verlassen kann“, sagt Experte Kluge. Aktuell laufe es noch gut für ihn. „Aber was, wenn in Russland ein richtiger Schock kommt? Ist Putin dann noch in der Lage, Krisen unabhängig vom Krieg zu bekämpfen, zum Beispiel im Fall einer Naturkatastrophe?“ Die Antwort lässt er offen.

5. Auf der Suche nach den Rissen im System

Auch im System Putin gibt es Risse. Der letzte große Riss war die Meuterei von Ex-Söldnerchef Jewgeni Prigoschin im vergangenen Sommer. Ein etwas kleinerer Riss zeigt sich nur für zwei Stunden: Um an einem Freitagabend die Neuadaptation von Michail Bulgakows Literaturklassiker „Der Meister und Margarita“ im Kino sehen zu können, müssen Moskauer fast eine halbe Stunde aus dem Zentrum herausfahren – überall sind die Kinosäle ausgebucht.

Mit Produktionskosten von rund 17 Millionen Dollar ist der Film eine der teuersten Produktionen der russischen Geschichte – und schon jetzt mit Abstand eine der erfolgreichsten. Dass Regisseur Michael Lockshin, ein in der Sowjetunion aufgewachsener US-Bürger, erklärter Kriegsgegner ist und der Film sich kritisch mit der Rolle des Staates in einer Diktatur auseinandersetzt, sorgt unter sogenannten Z-Bloggern und patriotischen Aktivisten für Empörung.

Im Zentrum des Films: ein Schriftsteller, der von seinen Zensoren geplagt wird – und der Teufel, gespielt vom Deutschen August Diehl, der dessen Feinde bestraft. Gedreht wurde der Film noch vor der Invasion der Ukraine. Die aktuelle Beliebtheit des Streifens legt nahe, dass viele Kinobesucher tatsächlich einen Zusammenhang mit der aktuellen Repression sehen. So etwa Elena, die am Gedenkort für Nawalny sagt: „,Der Meister und Margarita’ im Kino anzuschauen, das ist jetzt schon Protest.“

Wer genau hinschaut, erkennt immer wieder solche kleinen Zeichen des Ungehorsams. Auf einer Parkbank auf dem Neuen Arbat, nicht weit der alten Touristenstraße, steht mit Edding geschrieben „Njet Woinje“, „Nein zum Krieg“. Ende Januar wurde eine 71-Jährige wegen zweier kritischer Social-Media-Posts zum Krieg verurteilt. Ihre Strafe: fünfeinhalb Jahre Gefängnis.

Gerade wegen der rabiaten Repression gibt es Zweifel am langfristigen Fortbestand des Systems. Russlandexperte Kluge überzeugt: „Das Ende der Ära Putin ist mit Beginn des Krieges nähergekommen, nicht weiter weggerückt.“ Und der Manager, der anonym bleiben will, gibt der Nachhaltigkeit des wirtschaftlichen und politischen Systems „noch fünf Jahre, vielleicht sieben“.

Elena will jetzt Nawalnys Witwe Julija Nawalnaja unterstützen. Die hat angekündigt, die Arbeit ihres Mannes weiterzuführen.

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