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Anhand interner Dokumente erläutert der Artikel, wie russische Oligarchen in u. a. deutsche Start-ups (Flink, Auto1, Delivery Hero) investierten. Die Investitionen wurden über die Venture-Capital-Firma Target Global abgewickelt, die offenbar auch Entscheidungsvollmachten besaß. Mit dem Ukraine-Krieg wurden die zuvor finanziell äußerst attraktiven Strukturen öffentlich sanktioniert und firmenseitig vertuscht.

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Dunkle Deals

Anfang 2021 erlebte die Berliner Start-up-Szene ihren vorerst letzten Rausch. Schnelllieferdienste wie Gorillas expandierten wie auf Steroiden. Die Umsätze und Firmenbewertungen wuchsen so rasant wie in keiner Start-up-Generation zuvor. Als damals auch der frühere Bain-Berater Oliver Merkel (47) eine pinkfarbene Expresslieferflotte auf Elektrorädern durch die Straßen schicken wollte, schleusten Investoren bereitwillig Geld in sein Start-up Flink. Im März 2021 konnte er eine Finanzierung von mehr als 50 Millionen Dollar vermelden, angeführt vom Berliner Starinvestor Target Global.
Danach steckten Geldgeber immer mehr in die Firma. Nicht mal sieben Monate nach der Betriebsaufnahme feierte Merkel, was den meisten Start-ups nie gelingt: Er hatte Einhornstatus erreicht, eine Bewertung über einer Milliarde Dollar. Heute dominiert Flink das Expressliefergeschäft in Deutschland.
Einen solchen Blitzaufstieg hat kaum je ein anderes deutsches Start-up hingelegt. Allerdings: Er birgt ein dunkles Geheimnis. Ein Teil der Millionen, mit denen Merkel seinerzeit das Turbowachstum erkaufte, stammte von einem russischen Oligarchen: Roman Abramowitsch (57), eng verbandelt mit Wladimir Putins (71) Machtapparat und inzwischen aufgeführt auf den Sanktionslisten der Europäischen Union und Großbritanniens. Mit seinem Vermögen speiste der Multimilliardär substanziell eines der Investmentvehikel von Target Global, von wo das Geld dann auf den Konten von Flink landete.
Flink ist dabei nur einer von mehreren deutschen Techstars, in die heimlich das Kapital russischer ­Oligarchen floss. Unter anderem profitierte auch der Lieferdienst ­Delivery Hero (Börsenwert: 8,2 Milliarden Euro), der es später zeitweise bis in den Dax geschafft hat. Oder die Gebrauchtwagenplattform Auto1 (Börsenwert: 1,2 Milliarden Euro), einst eines der am höchsten bewerteten deutschen Start-ups. Oder der Reisevermittler Omio (Bewertung: 1 Milliarde Dollar). Oder die Gastrotech-Firma Choco (Bewertung: 1,2 Milliarden Dollar).
Das Geld strömte dabei stets abseits der Öffentlichkeit, gut verborgen hinter verschachtelten Firmenstrukturen. Recherchen [des Mediums] zeigen nun erstmals, dass und auf welche Weise viele der bekanntesten und gefeierten deutschen Digitalunternehmen auch mit den Millionen russischer Oligarchen hochgezogen wurden. Zu den Finanziers gehören neben Abramowitsch auch die Stahlmagnaten Alexander Abramov (64) und Alexander ­Frolov senior (59), die mittlerweile ebenfalls mit Sanktionen belegt sind.
Nachzeichnen lässt sich das anhand von Dokumenten, die unter anderem [anderem Medium] zugespielt wurden. Seit Monaten werden sie von verschiedenen Medien mit dem International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) ausgewertet, auch [Medium], als Teil [von Medien-Gruppe], hat Zugriff darauf. Sie sind Teil eines riesigen Konvoluts von Daten des zyprischen Finanzdienstleisters ­MeritServus und anderer Firmen, zu deren Kundschaft die reichen Russen zählten. Diese Dokumente ermöglichen es erstmals, der Spur des Geldes zu folgen – bis in die inners­ten Zirkel des deutschen ­Techadels.
Woher genau Start-ups ihr Kapital bekommen, ist nicht nur in Deutschland wenig transparent. Meist sind nur die Wagniskapital­firmen bekannt. Wer deren Fonds aber gefüllt hat, welche Personen und Netzwerke dahinterstecken, ist meist ein gut gehütetes Geheimnis. Seit Langem schon wird daher kri­tisiert, dass die Venture-Capital-Szene notorisch auch Geld zweifelhaften Ursprungs anzieht. Die intransparenten Strukturen, meist verwoben mit diversen Offshore-­Finanzplätzen, laden Schattenfiguren geradezu ein, ihre Millionen in saubere Techfirmen zu schleusen.
Gründerinnen und Gründer, die versuchen, ihre wahren Finanziers herauszufinden, erhalten meist nur vage Antworten – und nicht wenige wollen es auch gar nicht so genau wissen. Devise: besser nicht zu viele Fragen stellen, gerade wenn es da­rum geht, schnell zu wachsen, oder wenn das Kapital knapp wird. Und beides trifft in der Szene eigentlich permanent zu.
Manche der deutschen Techstars wären sicher auch gut ohne das Oligarchengeld ausgekommen, für andere war es ein substanzieller Teil ihres Fundings. Die Milliardäre standen zum Zeitpunkt der Deals noch nicht auf Sanktionslisten, die Beteiligungen verstoßen wohl nicht gegen Gesetze. Heikel waren sie aber schon damals, spätestens nach Putins völkerrechtswidriger Annexion der Krim im Jahr 2014. Schon vor dem Überfall auf die Ukraine im ­Februar 2022 wurden die reichen Russen selbst in den Papieren ihrer Dienstleister mitunter als „high risk clients“ eingestuft.
Target Global antwortete auf einen umfassenden Fragenkatalog [des Mediums] mit einem knappen Statement, in dem der Investor betont, sich „stets in jedem Land, in dem wir tätig sind, an geltende Gesetze“ und „alle Rechts- und Compliance-Regeln“ zu halten. Infolge der russischen Aggression gegen die Ukraine habe man „den Gesellschafterkreis neu geordnet und sich dabei von zwei Gründungspartnern getrennt“. Zudem habe man die Ukraine „in erheblichem Maße unterstützt“. Target-Anwälte erklärten in einem weiteren Schreiben pauschal, dass „an teils falschen Sachverhaltsinformationen anknüpfende Verdächtigungen hinsichtlich geänderter Gesellschafterstrukturen etc. jeglicher Grundlage entbehren“. Worauf sich das bezieht, bleibt unklar.
Abramowitschs Anwälte äußerten sich zu den Start-up-Deals nicht. Abramov und Frolov senior reagierten nicht auf eine Anfrage.
Das zentrale Bindeglied zwischen der glitzernden Berliner Boomwelt und dem Schattenreich der Oligarchen war – wie auch im Fall Flink – die Investmentfirma Target Global. Sie war in den vergangenen Jahren an überraschend vielen Aufsteigerfirmen beteiligt und ist darüber selbst zum Star geworden. Ihren Hauptsitz hat sie in Berlin-Mitte, in einem ausladenden 500-Quadratmeter-Büro in feinster Lage: Schinkelplatz 5, direkt gegenüber dem neuen Stadtschloss. Drinnen dominieren Eichenholz, viel Marmor – und ein Gespür für lukrative Geschäfte.
Über diverse Target-Firmen, das enthüllen die [vom Medium] ausgewerteten Dokumente, wurden allein mindestens 80 Millionen ­Dollar aus dem Vermögen Roman Abramowitschs in Start-up-Investments geleitet (siehe Grafik links). Insgesamt flossen über das Drehkreuz mindestens 150 Millionen ­Dollar von inzwischen sanktionierten Oligarchen in Techfirmen. Die Target-Partner am Schinkelplatz fungierten über mehrere Jahre als Türöffner in die deutsche Szene.

Lupenreine Familienbande

Die Anfänge von Target Global gehen zurück bis in das Jahr 2012. ­Damals begannen zwei Mittzwanziger, beide Absolventen der London School of Economics, unter dem ­Label Target Ventures in Start-ups zu investieren: Alexander Frolov (35) und Mikhail Lobanov (35). Ihr Wettbewerbsvorteil: Sie hatten ­Zugang zu Kapital.
Lobanov hatte zuvor das Vermögen reicher Russen verwaltet. Und Frolov konnte auf familiäre Verbindungen bauen, er ist selbst Sohn eines Oligarchen. Sein Vater ist der gleichnamige frühere CEO und Großaktionär des Evraz-Konzerns. Mit dem Aufstieg des 1992 gegründeten Stahl-und-Bergbau-Konglomerats wurde Frolov senior enorm reich, sein geschätztes Vermögen beträgt laut „Forbes“ 2,6 Milliarden Dollar. Zu seinen engsten Geschäftspartnern zählen der angeblich sechs Milliarden Dollar schwere Alexander Abramow, Mitgründer von Evraz. Und Roman Abramowitsch, dem die beiden einst einen Großteil ihres Konzerns verkauften und dessen Familie mit einem Vermögen von rund neun Milliarden Dollar nach wie vor zu den 250 reichsten der Welt gezählt wird.
Die Herkunft von „Alex“, wie sich der Oligarchensohn gern nennen lässt, war in der Start-up-Szene nie ein Geheimnis. Einige tuschelten auch über seine Finanzquellen. Doch in welchem Ausmaß Target mit dem Geld der Oligarchen operiert hat, war bislang unklar.
Eine Übersicht aus dem Jahr 2016 zeigt nun, dass Frolov junior gemeinsam mit seinem Vater und dessen Vertrauten Abramov schon bis Mitte des Jahres mindestens rund 70 Millionen Dollar in Start-up-­Investments gelenkt hat: So hielten sie zwischenzeitlich rund 10 Prozent der Anteile an der damals hoch ­gehandelten Kreuzfahrtplattform ­Dreamlines aus Hamburg, stiegen beim HelloFresh-Rivalen Blue Apron aus New York ein und beteiligten sich an der Berliner Reiseplattform Omio.

Berliner Königsinvestments

Alex Frolov vermittelte auch den Einstieg der Oligarchen bei einem der größten Berliner Techstars der vergangenen Jahre: Für rund 19 Millionen Dollar erstanden Frolov senior und Abramov Mitte 2016 indirekt Anteile am Lieferdienst Delivery Hero. Wie später Flink benötigte auch dessen CEO Niklas Östberg (43) immer neue Millionen, um mit seiner defizitären Firma zu expandieren. So stieg später auch der dritte Oligarch heimlich über eine Offshore-Gesellschaft (Target Helium Limited) ein: Roman Abramowitsch investierte mindestens zehn Millionen Euro in Delivery Hero.
Abramowitsch war schon damals eine schillernde Figur. Teil des ­Jetsets, Jachteigner, Besitzer des ­britischen Fußballklubs FC Chelsea – und gleichzeitig Persona non grata. Als er sich Mitte 2016 in der Schweiz niederlassen wollte, erhob das ­Bundesamt für Polizei Einspruch: Wegen des Verdachts auf Geld­wäsche sei er ein Reputationsrisiko für die Schweiz. Abramowitschs ­Anwälte wiesen das zurück und ­verwahrten sich gegen den Geld­wäscheverdacht. In der deutschen Start-up-Welt sah man das nicht so eng. Abramowitsch-Firmen beteiligten sich sogar direkt über den Risikokapitalgeber Impulse VC an Berliner Digitalunternehmen wie Endel Sound oder Showheroes. Zu seinen interessantesten Investments jedoch stellte Target Global die Verbindungen her.
So auch zu Auto1. Unter höchster Geheimhaltung hatten die Gründer Hakan Koç (39) und Christian ­Bertermann (39) seit 2012 den ­Onlinegebrauchtwagenhändler (Wirkaufendeinauto.de) hochgezogen. Potenzielle Nachahmer sollten in den ersten Jahren nichts mitbekommen. Für die Berliner Start-up-Welt markierte der Aufstieg von Auto1 den Beginn einer neuen Ära. Koç und Bertermann hatten sich zwar während ihrer Arbeit für Unternehmen von Rocket-Internet-Gründer Oliver Samwer (51) kennengelernt, der bis dahin die Szene dominiert hatte. Doch bei Auto1 hielten sie den Großmeister heraus. Stattdessen hatten sie sich, wie später die meisten Stargründerinnen und -gründer, Geld zu für sie deutlich günstigeren Bedingungen bei den gerade erst entstandenen neuen Investoren wie Cherry Ventures besorgt – oder eben: Target Global.
Über Target kamen allerdings bald auch die Oligarchen bei Auto1 an Bord – natürlich ohne dass die Öffentlichkeit davon erfuhr. Dokumente zeigen, dass schon 2015 eine Offshore-Gesellschaft, deren mehrheitlich Endbegünstigte Frolov senior, Abramov und Abramowitsch waren, 30 Millionen Euro in Form von Wandeldarlehen in Auto1 pumpte. 12,5 Millionen Euro davon kamen den Dokumenten zufolge von einem Vehikel von Abramowitsch.
Auto1 erklärt dazu, dass Target-Global-Investments „viele Jahre vor den ersten Sanktionen“ gegen die genannten Personen stattgefunden haben. Auch Delivery Hero erklärt zutreffend, dass beim Börsengang 2017 keine Investoren sanktioniert gewesen seien. Beide Unternehmen weisen darauf hin, dass sie seit den Börsengängen nur noch beschränkten Einblick in die Aktionärsstruktur haben.
Der junge Frolov und sein Co-Gründer Lobanov hatten offenbar ein Gespür für Start-up-Hits. Die Investments in Delivery Hero und Auto1 haben den Ruf von Target Global in der Szene begründet. Ab 2015 operierten sie unter dieser Marke, inzwischen oft direkt aus Berlin ­heraus, wo sich Target zunächst in einem Co-Working-Space einmietete. Ihnen war es zudem gelungen, zwei erfahrene Dealmaker zu verpflichten: Shmuel Chafets (41) und Yaron Valler (53), die bestens in der deutschen Szene verdrahtet waren und zuvor für Hasso Plattner Ventures investiert hatten, die Wagniskapitalfirma von SAP-Gründer Hasso Plattner (79).
Mit vollem Engagement setzten sich fortan mitunter auch die Neuen an der Target-Spitze für die Interessen der Oligarchen ein. So versuchte Valler bei Zusammentreffen im Juli und August 2016, persönlich die britische Firma Compound Photonics Group zu unterstützen. Sie war zwar keine Portfoliofirma von Target Global. Doch sie drohte damals zu einer Investitionsruine der so wichtigen Target-Geschäftspartner Frolov senior, Abramov und Abramowitsch zu werden, die mindestens 135 Millionen Dollar in das Unternehmen gesteckt hatten. Um möglichst viel des eingesetzten Kapitals der Oligarchen zu retten, sollen Yaller und Frolov junior den Dokumenten zufolge unter anderem versucht haben, eine Fusion mit einem anderen Techunternehmen zu organisieren. Alles, um Frolov senior „zu hofieren“, wie es in einem Urteil des Londoner Royal Courts of Justice vom Oktober 2022 heißt, wo die Details später in einem Prozess um die Techfirma auftauchten.
Öffentlich rühmten sich die vier Partner damals, mit Target Global „flexibel“ und „auf verschiedenen Wegen Kapital und Liquidität“ bereitzustellen. Es war genau das, was die Start-ups der neuen Generation in Berlin brauchten. Target Global gelang in der Folge ein kometenhafter Aufstieg. Die Partner konnten bis heute rund 1,5 Milliarden Dollar für ihre Fonds einsammeln (siehe Grafik Seite 38).
2018 bezogen sie das Büro am Schinkelplatz in Berlin – und auch sonst begannen sie, sich repräsentativ zu schmücken. So engagierten sie Gerhard Cromme (80), ein Urgestein der alten Deutschland AG, als Vorsitzenden ihres Advisory Boards. Cromme, der ein halbes Jahrhundert bei Konzernen wie Siemens oder Thyssenkrupp die mächtigste Figur war, hatte im hohen Alter angefangen, sich für Start-ups zu interessieren. Von Auto1-Mitgründer Koç ließ er sich begeistert die Geheimnisse des digitalen Gebrauchtwagenhandels erklären und wurde dort Aufsichtsratschef.
Es dauerte nicht lange, bis „Gerhard Dotcom“, wie er in der Szene genannt wird, auch für Target Global auftrat. Auf einem Branchenevent erzählte er etwa Mitte 2019 begeistert von „dem Biss“ der Gründer, „dem Dampf“ und „der Energie“. Von den Oligarchen im Hintergrund sei ihm nichts bekannt gewesen, erklärt er heute. Seine Aufgabe sei es gewesen, den Fonds in Hinsicht auf Start-ups zu beraten.
Frolov und die anderen Target-Partner konnten mit Cromme auf jeden Fall ihren Anspruch als respektable Investmentfirma untermauern. Bei potenziellen Investoren warben sie damit, dass Cromme sie unter anderem zu „Governance“-Aspekten berate, natürlich mit Logos von Thyssenkrupp und Siemens in den Investorenunterlagen. Auch den einstigen General-Motors-Manager und früheren Opel-Aufsichtsratschef Stephen Girsky (61) engagierten sie. Er wurde Beirat bei einem Target-Fonds.
In der Szene selbst manifestierte indes eine andere Spitzenpersonalie den wachsenden Einfluss von Target Global. 2016 heuerte Delivery-Hero-Mitgründer Lukasz Gadowski (46) an. Es war ungefähr so, als würde ein Bundesligaaufsteiger Lionel Messi verpflichten. Gadowski war damals ein absoluter Megastar, vielleicht neben Oliver Samwer der ­bekannteste Start-up-Kopf Berlins. Wie Samwer stand er im Ruf, Geld durch die Wand zu riechen. Ga­dowski hatte nicht nur Delivery Hero mitgegründet, sondern auch den Facebook-Klon StudiVZ für viel Geld an Holtzbrinck verkauft und sich früh an einem Shoppingclub beteiligt, der für 150 Millionen Euro von Ebay übernommen wurde.

„Next big thing“: E-Scooter

Gadowski äußert sich nicht dazu, was er wann über die Verbindungen ins Schattenreich der Oligarchen wusste. Aber der Starinvestor trat als General Partner des Geldgebers auf, vermeintlich in zentraler Rolle also. Und gemeinsam mit Target Global startete er dann 2018, zwei Jahre vor dem Hype um die Expresslieferdienste, ins E-Scooter-Geschäft, das damals als „next big thing“ galt.
Dank der Target-Connection fehlte es Gadowski nicht an Kapital, um anzugreifen. Anfang 2019 verkündete seine Firma Circ eine 55-Millionen-Euro-Spritze, eine der größten frühen Finanzierungsrunden (Series A), die es bis dahin je gegeben hatte. „Die Höhe der Finanzierung zeigt unsere Entschlossenheit, auf diesem Markt mitzuspielen“, tönte Gadowski damals in der „Financial Times“.
Was bis heute nicht bekannt ist: Ein substanzieller Teil des Geldes kam von Abramowitschs Investmentgesellschaft Norma. Umgerechnet rund 15 Millionen Dollar flossen über die zyprische Target Lanthanum Limited. Für ­Gadowski war das Geld des Oligarchen relevant. Abramowitschs Finanzierung ent­sprach rund einem Fünftel der Summe, die Circ laut der Datenbank Pitchbook vor dem Verkauf an den US-Rivalen Bird Anfang 2020 eingesammelt hatte.
Gadowskis E-Scooter-Start-up erhielt zudem, auch das zeigen die Dokumente, noch auf anderen Wegen Oligarchengeld: indirekt über den „Mobility 2.0“-Fonds von ­Target Global. Auch dort war Abramowitsch substanzieller Geldgeber: Als „Ankerinvestor“ sicherte seine Investmentfirma Norma 25 Millionen Dollar zu, rund ein Fünftel des Fondskapitals.
Über diesen Fonds landete das Geld von Abramowitsch später auch beim Express­lieferdienst Flink, bei Choco sowie einem Autoabo-Anbieter, der vom Auto1-Rivalen Cazoo übernommen wurde. Auch das Londoner Versicherung-Start-up Zego oder das Gastro-Einhorn Reef Technology aus Miami wurden so finanziert.
Für Target Global war die Oligarchenverbindung höchst attraktiv. Sie machte es den Newcomer-Investoren nicht nur einfacher, rasch hohe Millionenbeträge aufzutreiben. Die Berliner verdienten selbst auch prächtig daran und ließen sich die Funktion als klandestine Kapitaldrehscheibe ordentlich bezahlen.
Bei dem von Abramowitsch mitfinanzierten „Mobility 2.0“-Fonds etwa bekommen die Target-Leute grob zusammengefasst nicht nur eine Managementgebühr in Höhe von rund 2 Prozent des Fondskapitals pro Jahr. Hinzu kommt auch eine Beteiligung an den Fondsgewinnen, die rund 20 bis 25 Prozent des Profits betragen kann.
Auch an den Beteiligungen, die über die gesonderten und oft extra von Target eingerichteten Offshore-Firmen in die Start-ups fließen, kann Target Global potenziell viel verdienen. So wird in einem Vertrag über die Investments in Gadowskis E-Scooter-Firma festgehalten, dass Target nach Rückfluss des investierten Abramowitsch-Geldes 10 Prozent der Erträge erhalten soll.

Vollmacht der Oligarchen

Und die Berliner Helfer boten den reichen Geschäftspartnern im Hintergrund noch weitere Dienste an. Target-Global-Mitarbeiter agierten mitunter anscheinend sogar als Vertreter von Abramowitschs Investmentfirmen. Im März 2020 etwa wurden zwei damalige Investmentmanagerinnen von Target Global beauftragt, „die Interessen“ der in Zypern ansässigen Abramowitsch-Firma Ervington Investments Ltd., die damals von einer Target-Gesellschaft direkt Auto1-Anteile erworben hatte, bei Verhandlungen mit dem Auto1-Management zu vertreten.
Die Target-Mitarbeiterinnen genossen dabei offenbar sogar bei brisanten Themen das volle Vertrauen des Abramowitsch-Unternehmens. So ermächtigte die Vollmacht sie unter anderem, in deren Namen über „Fremd- und/oder Eigenkapitalfinanzierungs­- instrumente“ zu entscheiden und über finanzielle Anreize für den Auto1-Finanzchef Markus Boser (56). Ihre Dienste für die Oligarchen­firmen gingen also weit über das bloße Vermitteln interessanter Beteiligungen hinaus. Target fungierte fast schon als deren Start-up-Filiale in Berlin.
Das Geld sprudelte. Und die möglichen Verstrickungen mit Russland und Alex Frolovs Vater interessierten lange Zeit niemanden so genau. Das ­änderte sich schlagartig mit Russlands Überfall auf die Ukraine im Februar 2022. Plötzlich wurde mit Putin in Verbindung stehendes Kapital zum gefährlichen Makel. Wo sich Verbindungen nachweisen ließen, waren die Folgen für die Start-ups mitunter drastisch: Der New Yorker Expresslieferdienst Buyk etwa, der unter anderem von der sanktionierten Sberbank finanziert wurde, musste Mitte März 2022 Insolvenz anmelden.
Im Fall von Target Global gab es kein sicheres Wissen, aber plötzlich viele unangenehme Fragen. Die vermeintlichen Starinvestoren wirkten auf manche in der Szene nun wie Geldgeber zweiter Klasse. In Berlin prophezeiten hinter vorgehaltener Hand erfahrene Investoren, dass Start-ups, die es sich aussuchen können, besser kein Geld mehr von Target Global annehmen würden. Einigen Gründerteams wurde von Mitinvestoren geraten, Deals mit dem Fonds zu stoppen.
Im Umfeld von Target Global wurden die Verbindungen nach Russland heruntergespielt. Die Partner selbst beauftragten Anwälte, um unliebsame Berichterstattung zu verhindern. Ein Podcast des Portals „Deutsche Start-ups“, bei dem über Verbindungen zwischen Target und Oligarchen spekuliert wurde, wurde gleich abgemahnt. In einem Schreiben, das auf den 7. März 2022 datiert ist, behauptet Targets Kanzlei unter anderem, es sei „unwahr“, dass Investoren von Target Global „konkret von Sanktionen bedroht“ wären. Dafür gebe es „keine Anhaltspunkte“. Drei Tage später wurden Sanktionen gegen Abramowitsch verhängt.
Der russische Oligarch selbst war schon zuvor dabei gewesen, sein Imperium in Windeseile umzustrukturieren – Devise: retten, was zu retten ist. Bei einer Abramowitsch-Stiftung, die hinter der Investmentgesellschaft Norma stand, über die das Geld via Target dann zu Flink, Auto1 und Delivery Hero geflossen war, waren seine Kinder als Begünstigte eingesetzt worden. Am Tag des Überfalls auf die Ukraine wurde Norma dann an einen engen Partner Abramowitschs verkauft: David Davidovich (61), der später selbst mit Sanktionen belegt wurde. Abramowitsch und Frolov senior sollen laut ICIJ-Recherchen nach Kriegsbeginn versucht haben, rasch dreistellige Millionensummen zwischen ihren Offshore-Firmen zu verschieben.
Bei Target Global wurde hinter den Kulissen ebenfalls fleißig umstrukturiert. Alex Frolov und sein früher Kompagnon Mikhail Lobanov übertrugen bereits kurz nach Kriegsausbruch unter anderem ihre Anteile an einer Target-Global-Firma an ihren Co-Partner Yaron Valler. Im Mai 2022 dann gab Alex Frolov auch seinen Posten als CEO von Target Global auf, verließ den Investitionsausschuss und trat von den Verwaltungsratsmandaten in den Portfoliounternehmen zurück.
Die Oligarchen, die jahrelang ihr Geld über Target gestreut hatten, wurden derweil mit Sanktionen belegt. Im Frühjahr schon traf es Roman Abramowitsch, die damalige britische Außenministerin warf ihm vor, „Blut an seinen Händen“ zu ­haben. Abramowitschs Anwälte ­weisen dies zurück und führen sein humanitäres Engagement in der ­Ukraine an. Sie gehen gegen die Sanktionen auch rechtlich vor. Seine Geschäftspartner Frolov senior und Abramov sind seit November 2022 ebenfalls mit Sanktionen belegt, die britische Regierung wirft ihnen vor, indirekt Putins Militärapparat und den Krieg gegen die Ukraine zu ­finanzieren.

Kein Zugang zum Büro

In Berlin hatte das weitreichende Folgen. Laut der E-Mail eines Target-Mitarbeiters wurde damals auch das Arbeitsverhältnis mit dem Oli­garchensohn einvernehmlich be­endet. Frolov junior habe keinen Zugang zu den Räumlichkeiten von Target und keine Kontrolle über die Geschäfte von Target, heißt es in der E-Mail, die an einen Geschäftspartner geschickt wurde, offenbar zur Beruhigung. Yaron Valler kontrolliere nun Target Global. Dass auch er sich schon Jahre zuvor persönlich für die Interessen der Oligarchen eingesetzt hatte, war öffentlich nicht bekannt.
Inzwischen sind auch andere in Deckung gegangen. Die Bilder der Co-Partner Valler und Chafets sowie das prominente Boardmitglied Cromme findet man nicht mehr auf der Target-Global-Website. Die gesamte Teamvorstellung wurde gelöscht. Die wilde Zeit der potenten Investoren scheint vorbei.
Ob Frolov junior über andere Unternehmen weiter an dem Target-Geschäft profitiert, ist unklar. Target und Frolov junior äußern sich nicht dazu.
Mindestens für einen jedoch, der einstmals mit den Millionen der ­Oligarchen zum Star wurde, brachten die Sanktionen auch Chancen. Auto1-Mitgründer Hakan Koç nutzte den Wirbel für einen Deal: Im ­Januar 2023 konnte er zusammen mit einem Geschäftspartner das Telekomunternehmen Truphone, zeitweise eine halbe Milliarde Dollar wert, übernehmen – und zwar für gerade mal ein symbolisches britisches Pfund.
Truphone, wo auch Yaron Valler bis Ende 2022 als Direktor agierte, war in Bedrängnis geraten, unter anderem weil die US-Aufsichtsbehörde FCC darauf gedrungen hatte, dass es sich von seinem Investor ­Abramowitsch trennen müsse. Wer Koç über den Deal sprechen hört, kann leicht glauben, dass der ­Oligarch für Truphone eigentlich unbedeutend war. Abramowitsch sei nur „einer von 150 Minderheits­gesellschaftern“ gewesen, erörterte Koç kürzlich im Digitalpodcast OMR. Was er dabei nicht erwähnte: Als „Minderheitsgesellschafter“ hielt Abramowitsch über eine Firma rund 23 Prozent an Truphone. Weitere 73 Prozent der Anteile gehörten: Frolov und Abramov.
Man kann sie eben leicht unterschätzen: die Bedeutung der Oligarchen für die Start-up-Deals.

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