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Ex-Wirecard-Vorstand Jan Marsalek führte offenbar jahrelang ein Doppelleben: Von einer Freundin mit dem russischen Geheimdienstmann Stanislaw Petlinski in Kontakt gebracht und durch eine Syrien-Reise radikalisiert, baute er im Auftrag des Kremls und mit Agenten des österreichischen Verfassungsschutzes ein Spionagenetzwerk gegen westliche Kritiker auf, wusch über Wirecards undurchsichtiges Geschäftsmodell russisches Geld und kaufte Söldner für Libyens "Wiederaufbau". Marsalek sei schon immer von Agententum besessen gewesen, die Rolle als Wirecard-Vorstand für ihn die perfekte Tarnung.

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Marsaleks zweites Ich

Nizza im Hochsommer, das Mittelmeer plätschert träge gegen die Kaimauern des Jachthafens. Ein Mann mit kurz geschorenen dunklen Haaren, schwarzem Anzug und blütenweißem Hemd hält strammen Schritts auf einen Kutter zu. Ein zweiter Mann trägt ihm den Koffer. Auf dem Achterdeck der »Poseidon III« läuft nervös lachend eine attraktive Frau auf und ab: groß, blond, im Wind flatterndes Sommerkleid. Ihr Name ist Natalja Slobina, sie ist die russische Geliebte von Jan Marsalek, einem der inzwischen meistgesuchten Männer Europas.

Die Szene, aufgenommen von einer Kamera im Jachthafen, verschwimmt etwas. Der Mann im schwarzen Anzug steigt eine Leiter zur »Poseidon III« hinunter, begrüßt die Blondine, ein Küsschen, sie lacht, er schaut entnervt. Nun erkennt man sein Gesicht, heute bekannt von Fahndungsfotos, mit denen Bahnhofshallen und Flughäfen gepflastert sind: Es ist Jan Marsalek selbst, einst Vorstand des ehemaligen Dax-Konzerns Wire­card. Flüchtig seit Juni 2020.

Der Moment dauert kaum eine Minute, im Video ist zu sehen, wie die Frau schnell zu erkennen gibt: alles nur ein Scherz mit dem Kutter. Das richtige Schiff für Marsalek liegt gleich nebenan, eine große Luxusjacht natürlich, wo schon lachende Männer warten. Später wird Slobina hier ihren 30. Geburtstag feiern. Es ist der 6. Juli 2014. Der Tag, der Jan Marsaleks Leben verändern wird. Der Tag, an dem er einen Mann mit besten Kontakten zum russischen Militärgeheimdienst GRU kennenlernt, an dem wohl sein Zweitleben als Spion beginnt.

Marsaleks Geschichte war bislang ein Wirtschaftskrimi, auch das schon eine fast unglaubliche Story um Betrug und Lügen und Blendwerk: Ein Schulabbrecher steigt auf zum Vorstand des Finanzkonzerns Wire­card, der als größte Hoffnung der deutschen Wirtschaft seit Jahrzehnten gilt, umschmeichelt von Ministern und Regierungschefs. Doch der Erfolg von Wire­card erweist sich als Schwindel: Milliarden Euro Kontoguthaben lösen sich in Luft auf, fast 6000 Mitarbeiter verlieren ihren Job, Topmanager werden verhaftet.

Aber das Drama nimmt nun eine Wendung, die Handlung wird immer irrer. Es wechselt abrupt das Genre, aus dem Wirtschaftskrimi wird ein Agententhriller. Zugleich wandelt sich der Hauptdarsteller: Aus dem charismatischen Trickser wird der Bösewicht einer James-Bond-Verfilmung, zynisch und gefährlich. Bis heute versteckt er sich vor der Justiz. Aber wo? Und wie hat er es geschafft, sich der Strafverfolgung zu entziehen?

Eine gemeinsame Recherche von [Medium] [und 3 anderen Medien] liefert Antworten. Anhand vertraulicher Dokumente, Handy-, Reise- und Labordaten, Ermittlungsberichten, E-Mails und Chats lässt sich der Fall Marsalek erstmals als das erzählen, was er wirklich ist: eine Agentengeschichte. Marsalek ist nicht nur eine Hauptfigur in einem der größten deutschen Wirtschaftsskandale. Er ist, so zeigen es Gespräche mit Geheimdienstlern, Fahndern und Personen aus seinem Umfeld, ein Spion im Auftrag des Kreml. Ein Mann, dessen Agententätigkeit Menschenleben gefährdet: Marsalek beauftragte wohl bulgarische Helfer, Moskaus Kritiker quer durch Europa zu verfolgen, sie auszuspähen und womöglich sogar aus dem Weg zu räumen. Das Komplott wurde gerade noch rechtzeitig vom britischen Inlandsgeheimdienst MI5 aufgedeckt.

Marsaleks Verbindungen zu russischen Geheimdiensten reichen ein Jahrzehnt zurück. Zunächst mutmaßlich von der GRU rekrutiert, soll er in den vergangenen Jahren auch für den KGB-Nachfolger FSB gearbeitet haben. Slobina, seine Freundin, pflegt ebenfalls Umgang mit Männern aus dem Sicherheitsapparat. Über Jahre baute Marsalek als Vorstand eines Dax-Konzerns offenbar ungestört ein Spionagenetzwerk auf, reiste mit sechs österreichischen Pässen und einem ­Diplomatendokument mehr als 60-mal nach Russland.

Vieles deutet darauf hin, dass Marsalek so auch Wire­card in russische Geheimdienst­aktivitäten einspannte. Dass Geld gewaschen wurde, Söldner über das Unternehmen bezahlt wurden. Nutzte Marsalek Deutschlands Vorzeigekonzern zugunsten einer feindlichen Macht? Half eine Dax-Firma dabei, Kriege zu führen? Und wie konnten deutsche Geheimdienste von alldem nichts mitbekommen?

Wer den Spuren Jan Marsaleks folgt, taucht ein in eine Parallelwelt, die mal wie ein schlecht ausgeleuchtetes B-Movie wirkt, mal wie ein greller Horrorfilm. Dabei werden MiG-Kampfjets geflogen und Panzerfäuste in Syrien abgefeuert, Champagner­partys an der Côte d’Azur gefeiert und Söldnerarmeen in Libyen aufgebaut. Es treten auf: Agenten, Nacktmodelle, Söldner, Politiker, Psychopathen und Mörder.

Und ein russischer Priester, der erstaun­liche Ähnlichkeit mit Jan Marsalek hat.

Auf halbem Weg zwischen Moskau und Rostow am Don liegt die Großstadt Lipezk. Gegründet von Peter dem Großen, heute eine halbe Million Einwohner. An einem Kreisverkehr Richtung Zentrum steht eine hübsche, rund 200 Jahre alte Kapelle mit goldener Kuppel und leuchtender Fassade in Gelb, Weiß und Blau. Zweimal am Tag, außer dienstags, hält dort der Priester Konstantin Bajasow einen Gottesdienst. Er hat einen dunklen Bart und kurze Haare. Beobachtet man den Priester während einer seiner Messen, sieht man die Ähnlichkeit zu Marsalek. Auch die Geburtsdaten der beiden Männer liegen nur ein Jahr auseinander. Offenbar fiel das auch den russischen Geheimdiensten auf.

Seit September 2020 nutzt Bajasow seinen Reisepass nicht mehr. Der echte Bajasow. Denn es gibt seither einen zweiten Bajasow, einen falschen. Die Passakte wurde am 5. September 2020 geändert und der Pass mit der Nummer 763391844 neu ausgestellt. Beide enthalten nun ein neues Bild eines grimmig schauenden Mannes: Jan Marsalek.

In der Akte ist auch eine Kontaktperson samt Telefonnummer vermerkt: Jewgenija Kurotschkina. Sie ist eine mutmaßliche Helferin des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB. So telefoniert und reist Kurotschkina laut geleakten Daten aus Russland regelmäßig mit einem Moskauer Agenten der Behörde.

Es wird nicht der einzige Moment im Laufe dieser Geschichte bleiben, der sich so anfühlt, als wäre man unvermittelt in einem Agententhriller von John le Carré gelandet.

Marsalek knüpft bereits 2010 erste Verbindungen nach Russland. Kurz zuvor war er in den Vorstand des damals noch wenig bekannten Finanzdienstleisters Wire­card aufgerückt. Wire­card nimmt vor allem Internethändlern die technische Abwicklung von Kreditkartenzahlungen ab. Anfangs sind das meist Porno- und Glücksspielseiten. Doch der Chef des Unternehmens, Markus Braun, strebt nach Höherem. Der gebürtige Wiener hält sich für einen intellektuellen Vordenker und trägt gern schwarze Rollkragenpullover wie einst Apple-Chef Steve Jobs. Braun will einen Weltkonzern leiten.

Marsalek, ebenfalls Österreicher, ist Brauns rechte Hand. Mit 20 hat er bei Wire­card – damals Wire Card geschrieben – angefangen, als »Director Technology« mit einem Startgehalt von 9000 Mark. Nicht schlecht für einen, der gerade die Schule ohne Abitur verlassen hatte. Aber Marsalek kann programmieren und versteht etwas von der neuen Netzwerktechnologie. Das reicht, um den Gründer von Wire­card zu beeindrucken.

Braun und Marsalek erweisen sich als Dream-Team, sie sind ehrgeizig, großspurig. Globale Expansion ist ihr Ziel, Telekom­konzerne, Airlines, Einzelhändler sollen über Wire­card ihre digitalen Zahlungen abwickeln. Der Aktienkurs zieht steil nach oben. Auch wenn die Umsätze und erst recht die Gewinne eher mickrig sind. Im Februar 2010 wird Marsalek befördert zum Chief Operating Officer.

Die beiden lockt auch der russische Markt, ihr Türöffner ist Florian Stermann, Präsident der Österreichisch-Russischen Freundschaftsgesellschaft, eine ebenso schillernde wie windige Figur. Mit seiner Hilfe kommt Wire­card 2011 zunächst mit dem russischen Telekomkonzern Megafon ins Gespräch. Wire­card soll Prepaid-Kreditkarten für Mobilfunkkunden liefern, ein Projekt, das sich zerschlägt. Doch es gibt eine zweite Chance auf einen großen Deal: den Zahlungsverkehr für die Moskauer U-Bahn mit täglich sieben Millionen Passagieren abzuwickeln.

Marsalek soll das regeln. Er beginnt, häufig nach Russland zu reisen. Es gefällt ihm wohl, das Leben des weltgewandten Topmanagers, die Luxushotels, die Gourmetrestaurants. Was für eine Bestätigung für ihn, den Schulabbrecher ohne jede Ausbildung, der es schon immer allen zeigen wollte und alle zurückließ, die ihn dabei zu stören schienen. Einschließlich seiner Mutter.

Marsalek, geboren am 15. März 1980 in Wien, wächst wenige Kilometer weiter in der Stadt Klosterneuburg auf. Er besucht eine französische Privatschule, dann das örtliche Gymnasium. Ein guter Schüler, begabt. »Eloquent« mit »sehr großem Talent in Informatik«, so erzählen es ehemalige Lehrer.

Aber einer, der sich immer schon schwertut mit Regeln und Konventionen. Sagt seine Mutter [dem Medium], wenige Wochen nach Marsaleks Flucht. Im Juli 2020 sitzt sie in einem alten Bauernhaus in der Nähe Wiens und schüttelt ihren Kopf. Wie sie heißt, soll nicht geschrieben werden, vor Jahren hat sie wieder ihren Geburtsnamen angenommen. Mit ihrem Sohn hat sie schon lange keinen Kontakt mehr. Sie nennt ihn »einen präpotenten Zampano«.

Ein paar Fotos aus seiner Kindheit gibt es noch. Eines zeigt ihn mit grauem Anorak und viel zu großem Schlapphut, er sieht aus wie das Klischeebild eines Geheimagenten. Sein Vater sei wegen seines Jobs als Geschäftsführer einer Firma in Tschechien die Woche über kaum zu Hause gewesen. Daheim habe es häufig gekracht, sagt die Mutter.

Im Juni 1999 sei ihr Sohn nach einem Streit Hals über Kopf ausgezogen. Lebenszeichen habe es lange nur in Form von Handyrechnungen und Mahnungen gegeben, erinnert sich die Mutter. Seine Karriere verfolgt sie in der Presse. »Wire­card war mir schon lange suspekt. Dass Jan ohne Abschluss dort so schnell aufstieg, wie ist das möglich?«

»Charisma«, antworten fast alle ehema­ligen Wire­card-Mitarbeiter, die man danach fragt. Genauso ehemalige Lehrer, verflossene Liebschaften und frühere Freunde. Schon als 20-Jähriger strahlt Marsalek Selbstbewusstsein und Intelligenz aus. »Man sieht ihn sofort als erfolgreichen Menschen, der weiß, worüber er spricht und was er tut«, sagt Pav Gill, ehemals Chefjurist von Wire­card in Asien. »Ein Verkaufsgenie, ein Menschenfänger«, so eine frühere Vertraute. »Eloquent, charmant und hochintelligent«, so Jörn Leogrande, der ehemalige Wire­card-Innovationschef.

Marsaleks Lifestyle verstärkt den Eindruck: Partys in Saint-Tropez, Abendessen im Münchner Mandarin Oriental für 15.000 Euro, Champagner und Cognac Rémy Martin Louis XIII. für 2500 Euro die Flasche fließen in Strömen.

Aber er ist sprunghaft. Bald steht der Deal mit der Moskauer Metro vor dem Aus, und Marsalek scheint das Interesse an Russland zu verlieren. In diesem Moment taucht Natalja Slobina auf. Der dubiose russische Geschäftsmann Sergej Lee, so erzählen es Leute, die damals dabei waren, empfiehlt sie mit wärmsten Worten. Slobina könne helfen, den Metro-Deal zu retten, sie verfüge über beste Kontakte in die Moskauer Verwaltung.

Auffallend gute Kontakte für eine 29-Jährige, die bislang vor allem als Modell auf ­Erotikseiten in Erscheinung trat. In dem Horror-Sexfilm »Red Lips 2 – Blood Lust« spielte sie eine russische Geheimagentin, die ihre Opfer mit Nervengift tötet. Die Agentenrolle ist Slobina offenbar vertraut – auch aus dem echten Leben.

Dafür spricht, dass ihre persönlichen Daten besonders geschützt werden. So ist ihre Passakte in einer behördlichen Datenbank zwischenzeitlich gesperrt, stattdessen gibt die Behörde Informationen zu einer ganz anderen Frau aus. Außerdem löscht ein Helfer Slobinas Reisebewegungen aus dem Polizei­system. Das sind Sicherheitsmaßnahmen, die russische Geheimdienste üblicherweise für ihre Mitarbeiter ergreifen.

Wahrscheinlich ist Slobina auch Protagonistin einer »Honeytrap« für Marsalek, einer Honigfalle. So nennt sich im Spionagesprech eine Operation, in der die Zielperson mittels einer Liebschaft eingefangen wird.

Der U-Bahn-Deal zwischen Moskau und Wire­card kommt nie zustande, aber die Beziehung von Marsalek und Slobina geht schnell übers Geschäftliche hinaus. Sie unternehmen Spritztouren nach Barcelona oder Santorini, Marsalek holt seine neue Freundin mit dem Privatjet in Moskau ab. Nachvollziehen lassen sich diese und Dutzende weitere Reisen in vertraulichen Flug- und Einreisedatenbanken, aus internen E-Mails, Chats und Berichten von Bekannten.

Die beiden suchen den Nervenkitzel, so beschreiben Bekannte das Verhältnis. Er nennt sie angeblich »Zebra«. Auch sie soll ihm einen Tiernamen gegeben haben.

Im September 2013 reist das Paar gemeinsam in die tschetschenische Hauptstadt Grosny, offenbar um Verwandte des Diktators Ramsan Kadyrow kennenzulernen. So erzählen es Zeugen. Kadyrows Clan habe rund 100 Millionen US-Dollar auf Konten in Hongkong geparkt und suche einen Weg, das Geld nach Westeuropa zu bringen – sauber gewaschen.

Slobina, so heißt es, präsentiert Marsalek als denjenigen, der das Problem lösen könne. Wire­card vollzieht jeden Tag große Finanztransaktionen. Vielleicht fallen ein paar Millionen mehr nicht auf?

Zeugenangaben und Reisebewegungen Slobinas sowie eines Kadyrow-Vertrauten zeigen, dass die Beteiligten sich später noch zweimal treffen: in Wien und in Asien. Ob ein Geschäft zustande kommt, ist unklar. Aber offenbar bewährt sich Marsalek auf die eine oder andere Art.

Ein paar Monate später, im Sommer 2014, an jenem heißen Juliabend im Jachthafen von Nizza, wird es Zeit für den nächsten, entscheidenden Schritt. Zu Slobinas Geburtstagsfeier kommt ein besonderer Gast. Slobina stellt ihn Marsalek als »Stas« vor, der ein »General« sei, wie sich andere Partygäste erinnern.

Sein voller Name lautet Stanislaw ­Petlinski, eine ebenso illustre wie verschwommene Gestalt aus der Schattenwelt des russischen Sicherheitsapparats. In den Neunzigern diente er den russischen Spezialkräften Speznas, später arbeitete er in der Präsidialverwaltung im Kreml. So berichten es Vertraute. Danach wird es undurchsichtig, was genauen Rang und Rolle angeht. Westliche Agenten betrachten Petlinski als verlängerten Arm verschiedener russischer Geheimdienste.

Marsalek jedenfalls ist von Beginn an hingerissen, wie sich Zeugen erinnern, die in diesen ersten Tagen einer besonderen Männerfreundschaft dabei waren. Andere sagen, man könne Marsalek aus zwei Perspektiven betrachten: den Marsalek vor Stas und jenen danach.

Marsalek interessiert sich für Waffen? Stas bietet an, ein Schießtraining für ihn zu organisieren. Jan hat Fragen zur geheimen Welt russischer Geheimdienste? Stas scheint alle Antworten zu haben.

Petlinski erzählt in kleiner Runde später, er habe Marsalek nach dem ersten Treffen einfach an die GRU übergeben. Dieser wäre damit vom Sommer 2014 an ein Werkzeug russischer Geheimdienste gewesen. Davon gehen auch westliche Agenten aus.

Slobina weiß, dass Marsalek ein Adrenalinjunkie ist. Sie fliegen als Passagiere Kampfjet. Ein Foto zeigt Marsalek in einer MiG-29 sitzend, mit Pilotenhelm und Sauerstoffmaske, den Daumen hochgereckt. Ein Fiebertraum von »Top Gun«.

Petlinski führt Marsalek in die Welt der russischen Geheimdienste ein. Weggefährten erzählen, Marsalek habe sich in dieser Zeit als Agent inszeniert. Andere sprechen davon, wie er sich über Jahre damit befasst habe, spurlos verschwinden zu können, mit falschen Identitäten, mit möglichen Fluchtrouten: »Das war ein Dauerthema, fast eine Obsession«, sagt ein Vertrauter.

Petlinski stellt Marsalek auch einen bulligen Mann vor, der gelegentlich im Hells-Angels-Sweatshirt auftritt. Er nennt ihn »Wladimir, meinen Söldner«. In Moskau kennt man ihn als »Biker«, wohl wegen seines Faibles für Klamotten einer Rockerbande. Eigentlich heißt er Anatolij Karasi. Er soll als GRU-Spezialkräfte-Offizier mit Petlinski in Tschetschenien gedient haben. Nach seinem Abschied vom Militär schließt sich Karasi den berüchtigten Söldnern der Wagner-Gruppe an. Die paramilitärische Organisation ist so mächtig, dass sie ihren eigenen Geheimdienst hat – den Karasi spätestens ab 2017 leitet.

Am 5. Mai 2017 fliegt der Wagner-Geheimdienstchef Karasi eigens von Moskau nach München, um sich mit Marsalek zu treffen. Zusammen reisen sie weiter, zunächst mit dem Privatjet nach Beirut – wo sie Petlinski treffen. Von dort aus geht es über die Berge bis nach Syrien in die antike Stadt Palmyra. Dort kämpfen die russische Armee, Wagner-Söldner und die Truppen des syrischen Diktators Baschar al-Assad gegen den »Islamischen Staat« und Aufständische. Wagner-­Milizionäre foltern in dieser Zeit Zivilisten zu Tode.

Marsalek und seine beiden russischen Begleiter bleiben für mehrere Tage. Fotos zeigen den Wire­card-Vorstand mit Fliegerbrille, Splitterweste und Kampfhelm. Auf einem Foto erkennt man ein Schnellfeuergewehr, auf einem anderen im Hintergrund das antike römische Theater Palmyras.

Manche berichten, Marsalek habe auf ­isla­mistische Kämpfer geschossen. Anatolij ­Karasi ließ eine Anfrage zu seiner Vergangenheit und Marsalek unbeantwortet.

War die Syrienreise bloß ein weiterer Adrenalin­trip? Oder ging es den Russen, ging es Petlinski darum, Marsalek Dinge tun zu lassen, mit denen man ihn erpressen konnte?

[Das Medium] hat einen Tipp bekommen: Wer nach Stanislaw Petlinski suche, solle es in Dubai versuchen, im Fünfsterne-Strand­resort Jumeirah al-Naseem, auf der Terrasse des Hotelrestaurants Al Mandhar. Zwischen Palmen und Pools werden dort Champagner und Beluga-Kaviar serviert. Im Hintergrund schimmern der Persische Golf und das ­Dubaier Wahrzeichen Burj al Arab. Dort, so heißt es, treffe Petlinski seine Geschäftskontakte.

An einem Freitag Mitte Februar tummeln sich auf der Terrasse junge Russinnen, gekleidet in Luxuslabels, begleitet von muskel­bepackten Männern in olivgrünen T-Shirts. In einem Pavillon sitzt der Oligarch Alexander Lebedew, einst Geheimdienstoffizier. Nebendran seine Frau, Model und Influencerin mit 2,7 Millionen Followern auf Instagram. Im Internet kursiert gerade die Nachricht, dass der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny im Gefängnis ums Leben kam.

Es dauert nicht lange, da betritt tatsächlich Petlinski die Terrasse. Mit Anfang sechzig ist er drahtig und durchtrainiert, er trägt einen taillierten hellgrauen Nadelstreifenanzug, darunter ein eng anliegendes schwarzes T-Shirt. Am Arm blitzt eine silberne Rolex auf, die Augen verschwinden hinter einer verspiegelten Pilotenbrille, die Haare sind militärisch kurz geschnitten. Petlinski nickt dem Oligarchen Lebedew zu, der nickt zurück.

Ja, sagt Petlinski, Marsalek habe er damals auf der Jacht in Südfrankreich kennengelernt. »Wisst ihr, ich war vom ersten Moment an in ihn verliebt«, sagt Petlinski und lächelt.

Wieso?

»Er hat so einen schönen Geist«, sagt Petlinski. »Ich denke immer so klein, in Dimensionen des Machbaren. Jan denkt alles immer groß, ganz, ganz groß.«

Was heißt das?

Das Amt des Bundeskanzlers wäre seinem Freund Jan wahrscheinlich zu unbedeutend, sagt Petlinski. Eine große Sache, wie Europa, China und Russland als Gegengewicht zu den USA zusammenzuführen, so etwas interessiere Jan.

Also ist er ein Fantast?

Über seinen Freund Jan will Petlinski nichts Schlechtes sagen. »Jan hat sich immer unter Kontrolle gehabt.« Er habe gewollt, dass sein Gehirn auf Hochtouren laufe. »Jan war nach nichts süchtig«, sagt Petlinski, »außer vielleicht nach Macht.«

Marsalek sei »ein Nerd«, immer »superpräzise, ein bisschen autistisch sogar«. Und dann sagt der Mann, der beste Kontakte zu Söldnerführern unterhält: »Menschliche Beziehungen sind nicht Jans größte Stärke. Ihm fehlt es an Empathie.«

Man merkt Petlinski an, dass dieses Gespräch länger dauert, als er will. Ein paar ­Tische weiter wartet ein Mann mit Spiegelbrille und Golfershorts. Eine junge Frau kommt vorbei und möchte Aufmerksamkeit. »Moscow people«, sagt Petlinski.

Arbeitet Marsalek für russische Nachrichtendienste?

Nein. Aber er sei »besessen von der Spionagewelt«.

Hat Petlinski ihn vielen Menschen in Russland vorgestellt?

Ja. Darunter »hohe Entscheidungsträger«, auch in der Duma.

Auch Agenten?

Themawechsel. Petlinski ist offensichtlich geübt darin, falsche Fährten zu legen, Wahrheit und Falschinformation miteinander zu verweben.

Ist Petlinski selbst derzeit bei der GRU, in welchem Rang?

Dafür gebe es keine Belege. Er selbst sei »Sicherheitsberater«, sagt Petlinski. Um dann später von Treffen mit Präsident ­Wladimir Putin zu erzählen. Und wie er einst einen korrupten FSB-Offizier durch die Welt gejagt und in Montenegro aufgespürt habe. Er lästert, wie unprofessionell der ­Berliner Tiergartenmord gelaufen sei, als ein FSB-Killer einen Feind Russlands erschoss und geschnappt wurde. Und Petlinski betont, dass er das Mordopfer am liebsten selbst umgelegt und dann noch auf es gespuckt hätte.

Auf der Terrasse tauchen tätowierte, militärisch wirkende Männer auf, manche sprechen ihn an. Manchen gibt er die Hand. Ein »Held«, sagt er einmal und zeigt auf einen bulligen Typen, der kommandiere 3000 Mann in der Ukraine. Petlinski scheint fast jeden hier zu kennen. Die Dubaier Hotel­terrasse wirkt wie eine Drehscheibe für russische Söldner, Geschäftsleute und sehr viel jüngere Frauen.

»Wie war das in Syrien?«

Das Thema findet er anscheinend unbedenklich und bestätigt freiherzig. Der Trip mit dem Wagner-Kommandeur sei ein Traum Jans gewesen, den er ihm erfüllt habe.

Und was ist damit, dass Marsalek herumerzählte, er habe auf Islamisten schießen dürfen?

Petlinski grinst. Jan habe sich wohl einen Helikopterflug mit geöffneter Seitentür, lauter Musik und Ray-Ban-Sonnenbrille vorgestellt. Eine Handgranate habe er Jan schnell abgenommen.

Und die Schüsse auf Menschen, mit welchen Waffen?

Petlinski sagt erst nichts. Dann lässt er eine Abkürzung fallen: RPG, zu Deutsch: Panzerfaust. Es sei »cool für Jan« gewesen, wenn ihm jemand beim Liegendschießen die richtige Beinhaltung erklärt habe. »Vielleicht haben wir ihm auch gesagt, in welcher Richtung ungefähr jetzt die Front sein könnte.« Später wird er schriftlich mitteilen, dass Schießtraining ein »standardmäßiger Teil der Vorbereitung bei Reisen in Krisengebiete« sei.

Petlinski will das Gespräch nun beenden. Vielleicht, weil das Thema ungemütlich für ihn ist: Eine Angestellte Petlinskis hat Marsalek nach seiner Flucht einen russischen Pass besorgt. Er und Jan waren wohl anschließend gemeinsam unterwegs in Russland.

»Wer hat euch das gesagt?«, fragt er. »Ich habe großen Respekt vor eurer Arbeit, aber vielleicht macht auch ihr Fehler.«

Was ist mit dem Spionagering, den Marsalek offenbar hochgezogen hat, mit den angeblich geplanten Entführungen oder Attentaten, die westliche Geheimdienste verhindert haben?

Bestürzend sei das. Aber Morde seien sicher nie geplant gewesen, das werde falsch interpretiert. Petlinski lächelt.

Man kann ihm nun mehrfach sagen, dass er offensichtlich lügt, dass es Beweise gibt. Er zieht die Mundwinkel nach unten, zuckt mit den Schultern. Er muss weiter. Ein Foto lehnt er ab. Sorry, guys.

Viele, die Marsalek im Sommer 2017 kurz nach seiner Rückkehr aus Syrien in München treffen, beschreiben ihn als »völlig aufgekratzt«. In der Wire­card-Zentrale vor den Toren Münchens ist derweil Partystimmung angesagt. Das Unternehmen ist rasant expandiert, nach Afrika, Australien, Asien, Nordamerika. Der Hype ist groß. Deutschland hat nach Jahrzehnten endlich einen neuen Global Player, ein Unternehmen, das allem Anschein nach auf Weltniveau spielen kann, während sich die deutschen Banken nach der Finanzkrise jahrelang im Niedergang befinden: die Commerzbank fast pleite, die Deutsche Bank nur noch ein Schatten ihrer selbst.

Bei Wire­card dagegen, so scheint es, wird das Banking der Zukunft entworfen. Softwarelösungen für Zahlungsprozesse, die ­Onlineshopping erst möglich machen. Der Konzern wickelt so, nach eigenen Angaben, Zahlungen für 279.000 Kunden pro Jahr ab, darunter Aldi und TUI.

Doch es kursieren Gerüchte. Es heißt, Wire­card erfinde Gewinne, frisiere Bilanzen und sei überhaupt eine schmierige Veranstaltung. Es gehe auch um Geldwäsche.

2015 durchsucht die Münchner Staatsanwaltschaft für US-Behörden Wire­card-Geschäftsräume. Auch in den USA gibt es weitere Untersuchungen. Was sie zutage fördern, bleibt unbekannt.

Braun und Marsalek kontern die Vorwürfe kaltschnäuzig: alles nur böswillige Kursmanipulation von Hedgefonds und Journalisten. Sie lassen Kritiker von Detektiven ­beschatten und bedrohen.

2018 steigt Wire­card in den Dax auf, den Börsenindex der damals 30 wertvollsten und wichtigsten Unternehmen Deutschlands. Mit mehr als 270.000 Kunden werden 125 Milliarden Euro an Transaktionen abgewickelt und 560 Millionen Euro erzielt. Angeblich, laut Bilanz. Später wird sie für nichtig erklärt. Entweder gab es viele der Umsätze gar nicht, das vermutet die Staatsanwaltschaft. Oder sie wurden von Marsalek in dunkle Kanäle geschleust, so stellt es Braun dar, der seit mehr als drei Jahren in Untersuchungshaft sitzt und alle Vorwürfe bestreitet. Damals aber durchschaut niemand das Blendwerk. Braun und Marsalek planen unter dem Codenamen »Panther« sogar, die Deutsche Bank zu übernehmen.

Marsaleks Hauptjob ist es, Wire­card so schnell wie möglich noch größer zu machen. Dennoch wird er in der Wire­card-Zentrale in Aschheim zunehmend zum Phantom, weitgehend unsichtbar selbst für führende Mitarbeiter. »Eigentlich wusste niemand, was er genau macht«, sagt eine Kollegin. Sein 110 Quadratmeter großes Büro in Aschheim betritt Marsalek in den vergangenen Jahren nur noch selten.

Stattdessen baut er sich rund zehn Kilometer weiter mitten in München seine eigene Operationszentrale. Dort verschmelzen seine beiden Leben, das offizielle und das geheime.

Die vierstöckige Jugendstilvilla in der Prinzregentenstraße 61 zählt zu den besten Adressen der bayerischen Landeshauptstadt, mehr als 1600 Quadratmeter gefüllt mit italienischen Möbeln, Bronzeskulpturen und Gemälden historischer Schlachten. 1903 erworben von Prinz Alfons von Bayern als repräsentativer Adelssitz, später bewohnt von Conrad Röntgen. Ab 2016 dient die Villa dem Wire­card-Manager als Drehscheibe für Geheimoperationen. Die 680.000 Euro Jahresmiete werden zumindest teilweise über Umwege von Wire­card bezahlt. Auf der anderen Straßenseite liegt damals das russische Generalkonsulat.

Marsalek hat sich sein Büro im ersten Stock eingerichtet, Besucher empfängt er im edel eingerichteten Besprechungszimmer. An eine Wand gelehnt, steht dort die gerahmte Kriegserklärung Österreichs an Sardinien von 1859. Es gehen ein und aus: Politiker, Banker, Agenten. Darunter ein ehemaliger libyscher Geheimdienstchef, ein früherer Abteilungsleiter des Verfassungsschutzes in Österreich – und einmal auch der einstige Staatsminister im deutschen Bundeskanzleramt von Helmut Kohl, Bernd Schmidbauer. Und natürlich Petlinski, immer wieder Petlinski.

»Es war ein reges Kommen und Gehen«, sagt Johanna Singer, langjährige Vertraute und Mitarbeiterin von Marsalek. Sie war schon dabei, als er es 2010 in den Wire­card-Vorstand schaffte. Johanna Singer heißt eigentlich anders, aber unter ihrem echten Namen möchte sie sich nicht äußern.

Auch Petlinski lernte sie in der Prinzregentenstraße 61 kennen. »Ich fand ihn total nett«, sagt sie. Er habe von seinen Enkelkindern erzählt. Singer organisiert eine Geburtstagsfeier für ihn im Münchner Gourmetrestaurant Tantris. Ein Foto zeigt ihn lachend am Tisch mit Marsalek, zwischen ihnen eine sternförmige Geburtstagstorte.

Wer da sonst noch alles an zwielichtigen Gestalten auftauchte, habe sie in vielen Fällen erst später von der Staatsanwaltschaft erfahren, sagt Singer. Fand sie das wirklich normal? Dass Marsalek die Villa mit Medikamenten, Krankenhausbetten und Gasmasken ausstattete? Dass er einen Sicherheitsexperten aus Israel anrücken ließ, der das Haus nach Wanzen absuchte? »Wie ich heute weiß, hatte Jan sehr viele Persönlichkeiten.«

Sie zeichnet das Bild eines sprunghaften Grenzgängers, der sich nach Feierabend im maßgeschneiderten Brioni-Anzug Agentenfilme im Kino anschaute. Eines Adrenalinjunkies mit hypochondrischen Zügen, für den sie nach London jettete, um seinen Lieblingshustensaft zu besorgen.

Manche Ermittler ziehen die Augenbrauen hoch, wenn sie auf Johanna Singer angesprochen werden. Sie wurde mehrfach vernommen – als Zeugin, nicht als Beschuldigte, betonen Fahnder. Genauso wahr sei, dass Singer wohl kaum alles erzähle, was sie wisse. Dafür sei sie zu lange zu dicht dran gewesen.

Schwer zu glauben ist etwa, dass sie in all den Jahren nicht mitbekommt, wer da in der Prinzregentenstraße zu einem der wichtigsten Gehilfen wird. Für Singer ist er nur »ein ehemaliger Beamter aus Österreich« und nun »als Berater in der freien Wirtschaft tätig«. Doch Martin Weiss war nicht irgendein Beamter, sondern hat jahrelang die Abteilung II im österreichischen Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) geleitet – zuständig für Informationsgewinnung, Ermittlungen und Analyse. Ein Topagent, betraut mit dem operativen Kerngeschäft des Geheimen. Alle nachrichtendienstlichen Informationen, die das BVT sammelt, landen in seiner Abteilung. Auch sämtliche Informationen, die Partnerdienste wie die CIA, der deutsche Verfassungsschutz oder der israelische Mossad nach Wien schicken.

Marsalek heuert ihn als »Berater« an, nachdem Weiss den Verfassungsschutz offiziell verlassen hat. Aber die beiden kennen sich vermutlich schon mindestens seit 2015. ­Marsalek braucht Weiss wohl nicht für Wire­card-Geschäfte, sondern offenbar vor allem als Handlanger für Agenten-Drecksarbeit.

Zum Beispiel um Personen auszuforschen, für die sich Marsalek und insbesondere auch der Kreml interessieren. Leichtes Spiel für Weiss mit seinem Netzwerk in westlichen Nachrichtendiensten. Mehr als zwei Dutzend Personen ließ Weiss in internen Datenbanken abfragen, um herauszufinden, was Behörden über sie wissen. Darunter sind Marsaleks eigene Familie und Petlinski, aber auch in Europa lebende Journalisten und ein kasachischer Oppositioneller.

Einiges wird Weiss später nach seiner Verhaftung zugeben in Vernehmungen mit der Sonderermittlungseinheit des österreichischen Innenministeriums.

»Auffällig« sei, heißt es in den Ermittlungsunterlagen, dass besonders häufig Personen »augenscheinlich im Interesse der Russischen Föderation« ausgeleuchtet wurden. Auffällig ist auch, dass dem österreichischen Geheimdienst Marsalek lange nicht auffällt. Eine Wiener Sonderermittlungseinheit, abgekürzt AG Fama, die zu möglichen russischen Maulwürfen im BVT ermittelte, stößt erst nach Marsaleks Flucht auf ihn. Heute umfasst die Ermittlungsakte Tausende Seiten. Ihr Fazit: Weiss und Marsalek seien Teil einer »nachrichtendienstlichen Zelle, derer Kapazitäten und Fähigkeiten sich russische Nachrichtendienste bedient« hätten.

Marsaleks Treiben hätte früher entdeckt werden können. Zu ihr gehört nämlich noch ein weiterer Agent. Ein gerissener Veteran des BVT mit dem klingenden Namen Egisto Ott. Eine schon länger umstrittene Figur in der österreichischen Geheimdienstszene. Bereits 2017 schlagen ausländische Nachrichtendienste – vermutlich die amerikanische CIA und der britische MI6 – Alarm. Ott schicke wiederholt Daten von seiner offiziellen E-Mail-Adresse beim BVT an seinen privaten Account. Mutmaßlich spioniere er für die Russen. Sein Vorgesetzter beim BVT ist damals Martin Weiss.

Ott wird suspendiert, aber sein Netzwerk funktioniert weiter. Er nutzt es, um für Weiss und Marsalek sensible Informationen zu Zielpersonen zusammenzutragen. Dafür spannt er offenbar Zuträger im In- und Ausland ein, die für ihn am Dienstcomputer Abfragen machen. Ott soll dafür Tausende Euro von Weiss bekommen haben, wie Ermittler später herausfinden werden. Ott bestreitet das.

Trotz der massiven Vorwürfe ist er nach kurzer Untersuchungshaft inzwischen wieder auf freiem Fuß. Wer dieser Tage mit ihm sprechen will, muss sich ein wenig umtun in Österreich. In seiner Wohnung in Wien haben Nachbarn ihn schon länger nicht mehr gesehen. Doch in Otts Heimat Kärnten erstrahlt in einem Tal nahe dem Wörthersee ein schmuckes Anwesen in der Wintersonne.

Nach ein paar Stunden erscheinen die ­Eheleute Ott zum Gassigehen mit ihrem Hund. Ott, ein stämmiger Mann mit grüner Steppjacke und festem Händedruck, erklärt sich bereit zu einem Spaziergang mit [dem Medium].

»Dass ich ein russischer Spion bin, sieht man ja schon allein daran, dass ich immer noch meine alte Handynummer habe«, scherzt er. Die Vorwürfe seien haltlos, eine große Verschwörung einflussreicher Kontrahenten in Politik und Geheimdienst, weil er zu viel gewusst habe. In langen Monologen erzählt Ott abenteuerliche Geschichten über angeblich verschwundene Lösegelder bei Geiselbefreiungen, die in die Taschen seiner Feinde geflossen seien. »Ich habe bei Regelverstößen nie mitgemacht, sondern immer exzellente Arbeit geleistet«, so Ott. Man wolle ihn kaltstellen.

Berge an Ermittlungsakten zu Otts Machenschaften lassen daran zweifeln. Wie der Informationsfluss über Ecken und Banden wohl funktionierte, zeigt der Screenshot eines Chats, den Ott am 10. September 2019 auf seinem iPhone 8 abspeichert. In der Nachricht wendet sich Petlinski mit einem Problem an seinen Freund Marsalek. Die Geliebte des russischen Milliardärs Arkady Rotenberg und ihre Schwester hätten ständig Ärger bei Grenzübertritten nach Europa. Marsalek, damals noch Wire­card-Vorstand, leitet die Nachricht an seinen Helfer Martin Weiss weiter und fragt, »ob wir da unterstützen könnten«. Petlinski bestätigt den Vorgang. Die Anfrage sei jedoch bloß ein Gefallen für die beiden Frauen gewesen.

Der Auftrag landet bei Ott. Wie weitere Textnachrichten nahelegen, bittet Ott offenbar einen Polizeikollegen in Italien um diskrete Hilfe. Der Italiener meldet sich zwei Wochen später mit einem Treffer zurück. Die Frauen hätten einen Eintrag im europäischen Grenzfahndungssystem SIS – ausgeschrieben von Lettland zur verdeckten Kontrolle wegen »Terrorismus«. So gelangen wohl sensible Fahndungsdaten zurück an Petlinski und damit nach Moskau.

Frage an Ott beim Spaziergang: Wie soll dieser Auftrag einen dienstlichen Hintergrund gehabt haben? Er sagt: »Das habe ich nicht bei uns abgefragt. Das ist überprüfbar: Da gibt es nichts.«

Die Ausforschungen von Ott und Weiss können für Betroffene mitunter höchst bedrohlich werden. Das zeigt der Fall eines ausgespähten Journalisten. Seit vielen Jahren beschäftigt sich [Name] mit den Machenschaften russischer Geheimdienste. [Name] war Leiter der renommierten Rechercheplattform Bellingcat, inzwischen arbeitet er für [das Medium] und hat auch an diesem Artikel mitgewirkt.

[Name] Investigativrecherchen enthüllten schon schrecklichste Geheimnisse des russischen Staates, darunter die Hintergründe des Tiergartenmords. Veröffentlichungen über die Geheimdienstmänner, die den inzwischen verstorbenen Politiker Alexej Nawalny 2020 vergifteten, sorgten weltweit für Aufsehen. Und auch Jan Marsalek stand mehrfach in [Name] Fokus: Ein [Medium]-Text zeichnete seinen Fluchtweg nach Minsk in Belarus nach und legte erstmals Dutzende Russlandreisen des Ex-Managers in den Vorjahren offen.

Entsprechend steht [Name] schon länger gefährlich weit oben auf der Fahndungsliste des Kreml. Anfang vergangenen Jahres warnen westliche Sicherheitsbehörden den in Wien lebenden [Name] plötzlich, er solle Österreich so schnell wie möglich verlassen. Man habe konkrete Erkenntnisse zu Anschlagsplänen russischer Dienste. [Name] siedelt um.

Bereits rund zwei Jahre zuvor, am 15. Dezember 2020, schickt Weiss eine verschlüsselte Nachricht an Ott. Sie lautet: »Könnten wir in Ö mal eine Abfrage zu einem Hr. [Name] machen?« In einer späteren Nachricht schreibt Weiss an Ott: [Name] unterstütze eine Operation »gegen die Causa«. Daraufhin liefert Ott die Anschrift von [Name] Privatwohnung.

Ott bestätigt den Vorgang während des Gesprächs in Kärnten. »Ich war lediglich auf dem Meldeamt und hab dort 3,40 Euro bezahlt für die Auskunft, wo er wohnt.« Es könne auch sein, dass er ein paar Fotos von [Name] Haus gemacht habe. Das sei ja nicht illegal. Warum wollte Weiss unbedingt wissen, wo [Name] wohnt? Kam der Auftrag von Marsalek? Darüber habe er sich keine Gedanken gemacht, so Ott. Dass er dabei womöglich Putins Spionen geholfen hat, einen Feind zu lokalisieren, weist er weit von sich: »Ich habe den russischen Nachrichtendienst in meiner Karriere immer bekämpft.«

Überhaupt seien die Ermittlungen gegen ihn schlampig und nicht rechtsstaatlich. Auch deshalb sei er aus der Untersuchungshaft ­entlassen worden. Tatsächlich lässt eine Anklage der Staatsanwaltschaft trotz jahrelanger Ermittlungen auf sich warten, genauso wie bei Weiss. Hochrangige Beamte glauben deshalb, dass irgendjemand in Wien auf die Bremse tritt. Ist der Einfluss von Marsaleks Netzwerk in Österreich immer noch so groß, dass Ermittlungen gegen mutmaßliche Helfer versanden?

Mittlerweile wurde der Verfassungsschutz zwar reformiert, umbenannt und ein Großteil seines Personals ausgetauscht. Doch gegen einige Agenten, die als eng mit Marsalek und Weiss galten, liege nicht genug vor, um sie aus dem Amt zu entfernen, klagt ein Nachrichtendienstler. Die Gefahr sei real, dass Marsalek im Auftrag russischer Dienste auch heute noch österreichische Behörden, Politiker und Unternehmen ausspioniere, heißt es.

Warum hatte Moskau überhaupt ein Interesse daran, Marsalek anzuwerben? Viel spricht dafür, dass es sein Posten als operativer Wire­card-Vorstand war, der das russische Interesse weckte.

Ein Agent in einem Unternehmen, das involviert ist in den globalen Zahlungsverkehr: wie praktisch.

Spätestens mit dem Aufstieg zum Dax-Konzern landen allerlei sensible Informationen in Aschheim. Dutzende internationale Konzerne wickeln Teile ihrer Finanzgeschäfte über Wire­card ab. Auch das Bundeskriminalamt ist Kunde und nutzt regelmäßig die Zahlungstechnologie des Konzerns. Einmal beauftragt Marsalek Untergebene, einen Jahressatz Kundendaten zusammenzustellen. Angeblich, wie er sagt, für den Bundesnachrichtendienst (BND). Später stellt sich heraus, dass der BND diese Daten nie angefordert hat. Stattdessen landen die vertraulichen Informationen womöglich in Moskau.

Ebenfalls höchst nützlich: Wire­card organisiert sein Geschäft in Asien über sogenannte Drittpartner. Milliardentransaktionen für Kunden werden außerhalb von Wire­card abgewickelt, die Umsätze aber dem Konzern gutgeschrieben, die angeblichen Provisionseinnahmen auf Treuhandkonten verbucht. Selbst für die Bilanzprüfer bleiben die Geldflüsse schwer durchschaubar. So bleibt auch lange unentdeckt, dass Milliarden Euro an Wire­card-Geldern gar nicht auf den Konten sind, auf denen sie angeblich liegen. Die ganze Konstruktion ist wie gemacht für Geldwäsche.

Manche in der Geheimdienstszene raunen, Marsalek habe über Wire­card sogar geholfen, Agenten und Informanten der russischen GRU zu bezahlen. Überprüfen lässt sich das nicht.

Aus mehreren Quellen hingegen wird dieser Vorgang bestätigt: Marsalek kauft wohl mit Wire­card-Mitteln über Strohleute eine eigene Söldnerfirma, die er in Krisengebieten einsetzen will, ganz im Sinne Moskaus.

Offenbar will Marsalek sich in immer größerem Stil nützlich machen für seine russischen Freunde. Was er tun könne? Petlinski, so schildern es Weggefährten, hat ein paar Ideen. Das vom Bürgerkrieg zerrüttete Libyen müsse wiederaufgebaut werden. Russland hat großes Interesse an dem nordafrikanischen Land, das reich an Öl- und Gasvorkommen ist – und in der Lage, Flüchtlingsströme nach Europa zu steuern. Wie wäre es, soll Petlinski vorgeschlagen haben, in ­Zement zu machen, der werde schließlich für den Wiederaufbau gebraucht? Prompt investiert Marsalek demnach in libysche Zementfabriken.

Es gebe da auch eine erfahrene russische Firma, die im Graubereich zwischen Söldnertum und Sicherheitsdienstleistern operiert: die RSB Group. Sie habe Erfahrung in Antiterroreinsätzen, dem Schutz vor Piratenangriffen und vor allem eine Lizenz zum Minenräumen. Marsalek ist angetan, aber er heuert die Truppe nicht bloß für einen Einsatz in Libyen an. Er kauft offenbar gleich ihr operatives Geschäft. Über eine verschachtelte Konstruktion besitzt Marsalek nun wohl seine eigene Söldnerfirma. Petlinski bestreitet später, Marsalek zu den Investments geraten zu haben.

Und Marsalek hat noch größere Pläne. Er schildert sie am 28. Juni 2017 in der Münchner Käfer-Schänke dem Krisenexperten Kilian Kleinschmidt, der lange für die Vereinten Nationen gearbeitet hat.

Kleinschmidt soll für Marsalek eine Studie erstellen, für 200.000 Euro, wie Libyen wiederaufgebaut werden könnte. Die Rechnung sei übrigens an das »Russisch-Libysche Kulturinstitut« in Moskau zu stellen gewesen, sagt Kleinschmidt heute. Anfangs habe er gedacht, es gehe darum, Libyen für die Menschen wieder lebenswerter zu machen.

Doch bei einem zweiten Treffen, diesmal in der Villa in der Prinzregentenstraße, habe Marsalek die ersten Vorschläge von Kleinschmidts Team als »Kinderkram abgetan« und seine eigentliche Idee offenbart: ein militärisches »Konversionsprogramm«, das 15.000 bis 20.000 libysche Milizionäre ausbildet. Nach dieser Idee sollte die Privatarmee die Südgrenze Libyens und somit die Migrationsströme kontrollieren.

Kleinschmidt will da nicht mitmachen, er ist verstört. Auch weil Marsalek in einer Kaffeepause von neuer Ausrüstung schwärmt, die Söldner im Einsatz tragen. Und von »geilen Bodycams«, die Videos in Topqualität produzierten. Dahinter steckt eine grausige Idee, die Marsalek auch Petlinski vorstellt. Wagner-Söldner könnten mit diesen an der Uniform befestigten Kameras ihren Kampf gegen die Islamisten ins Internet übertragen. Morden im Livestream. Wem es gefällt, der solle im Gegenzug an die Miliz spenden können. Das Dumme sei nur, soll Marsalek gesagt haben, dass man die vorhandenen Wagner-Videos »nicht als Werbung verwenden kann, weil die Jungs ja alle Gefangenen erschießen«.

Kleinschmidt will mit alldem nichts mehr zu tun haben, beide Seiten beenden die Zusammenarbeit. Von den zugesagten 200.000 Euro bekommt Kleinschmidt nur 80.000 Euro.

Und die deutschen Sicherheitsbehörden? Warum haben sie zu diesem Zeitpunkt nicht längst einen Schwarm von Agenten auf Marsalek angesetzt? Aus ihrer Perspektive, heißt es in Berlin, sei Marsalek bloß ein Geschäftsmann gewesen. Sie hätten schlichtweg keine Anhaltspunkte dafür gehabt, dass er für russische Geheimdienste arbeite. Überhaupt könnten sie schlecht anfangen, Dax-Vorstände zu überwachen, die nach Moskau flögen, das sei wirklich nicht ihre Aufgabe.

Ähnlich klingt es in einer offiziellen Stellungnahme des Kanzleramts. Es hätten »keine Erkenntnisse« vorgelegen, »die ein Tätigwerden der Nachrichtendienste gerechtfertigt hätten«.

Ein Teil des Problems: Die Abteilung für Spionageabwehr im Verfassungsschutz ist klein. Der BND muss seine Gegenspionage sogar gerade erst jetzt wieder aufbauen. Seit Ende des Kalten Kriegs stehen Terroristen im Fokus der deutschen Sicherheitsbehörden, nicht Spione. Manche Berliner Agenten beklagen außerdem, sie würden inzwischen derart streng kontrolliert und reguliert, dass sie kaum noch handlungsfähig seien.

So konzentrieren sich die Beamten auf die Überwachung registrierter Agenten in Botschaften, mit denen Marsalek allerdings wohl nie zu tun hatte. Er begegnet seinen Geheimdienstkontakten in Moskau, an der Côte d’Azur oder in Tripolis, weit weg von deutschen Beobachtern.

Und: Viele Politiker reißen sich um die Münchner Wire­card-Manager. Auch das trägt dazu bei, dass niemand genauer hinschauen mag, im Gegenteil.

Als Wire­card 2019 auf den chinesischen Markt für digitale Zahlungsabwicklungen drängt, hilft vor allem die Beratungsfirma des ehemaligen Wirtschafts- und Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) mit Unterstützung in höchsten politischen Kreisen. Eingespannt werden enge Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Noch im September 2019, als Merkel nach Peking reist, setzt sie sich in China für Wire­card ein.

Auch das damals von Olaf Scholz (SPD) geführte Finanzministerium hilft. Selbst als die Betrugs- und Geldwäschevorwürfe gegen Wire­card immer lauter werden.

Scholz habe sich als Finanzminister nie mit Wire­card-Vorständen getroffen, heißt es heute in seinem Umfeld. Wire­card sei international von der Bundesregierung nicht stärker unterstützt worden als andere deutsche Unternehmen.

Das mag stimmen. Allerdings standen »andere deutsche Unternehmen« nicht bereits in Betrugsverdacht.

Kaum neun Monate nach Merkels China­reise meldet die Wire­card AG am 25. Juni 2020 Insolvenz an, weil fast zwei Milliarden Euro von Treuhandkonten verschwunden sind. Oder nie existiert hatten. Marsalek taucht unter. Ein Privatjet wird mit dem Ausweis eines Geschäftspartners von Petlinski gemietet, ein Kontakt von Ex-Agent Weiss organisiert zwei vertrauenswürdige Piloten. Falsche Spuren Richtung Asien werden gelegt, sogar philippinische Einwanderungsbeamte bestochen, die Marsaleks Einreise vortäuschen.

In Wirklichkeit landet Marsalek in der Nacht zum 20. Juni in Belarus, dann geht es mit dem Auto weiter Richtung Moskau. So erzählen es Vertraute, die mit den Fluchtplänen befasst waren. Organisiert wird die Überführung demnach von einem politischen Funktionär, der sich ansonsten um die russisch-libyschen Beziehungen kümmert. Er besitzt neben seiner russischen Staatsbürgerschaft auch einen Pass aus Belarus. Und er ist, wie könnte es anders sein, ein guter Bekannter von Petlinski.

Dann Stille für einige Wochen. Marsalek wartet auf seine neue Identität, sein russisches Ich mit dem Namen des Priesters Konstantin Bajasow. Am 5. September 2020 wird das Dokument abgeholt, die Petlinski-­Vertraute und mutmaßliche FSB-Helferin Jewgenija Kurotschkina mietet einen Minibus und fährt Richtung Krim. Das zeigen unter anderem Positionsdaten ihrer Mobilfunknummer, an [anderes Medium] gelangte. Petlinski ist höchstwahrscheinlich dabei. Wo Slobina zu diesem Zeitpunkt ist? Unklar.

Am Abend des 8. September loggt sich das Handy von Kurotschkina in Sewastopol auf der Krim ein. Die von Russland ­annektierte Halbinsel scheint beliebt zu sein, wenn jemand schnell verschwinden muss. Kaum ein Jahr zuvor, im August 2019, wurde hier bereits die Familie des Tiergartenkillers versteckt, begleitet von einem FSB-Agenten.

Nun also Marsalek mit seinen Freunden.

Am nächsten Morgen, es ist der 9. September, bestellt die Truppe laut geleakten Telefondaten mehrere Taxis und klappert Hotels an der Südküste der Krim ab. Marsalek checkt offenbar in eine der Übernachtungsmöglichkeiten ein. Dort legt er seinen neuen Pass zur Registrierung vor, ein Mitarbeiter scannt ihn ein. [Dem Medium] liegt das Dokument vor: Es ist der Reisepass des Priesters Bajazov mit dem Bild von Jan Marsalek.

Indizien weisen darauf hin, dass Marsalek in Moskau später wohl noch die Identität eines Alexander Schmidt annahm, wahrscheinlich auch die eines zweiten russischen Priesters, Witalij Malkin.

Die Fluchttruppe bleibt zunächst für einige Tage auf der Krim. Petlinski, das belegen Buchungsdaten, chartert für den 12. September einen Privatjet vom Flughafen Simferopol auf der Krim zurück nach Moskau. Doch es gibt wohl ein Problem, er tritt den Flug nicht an. Petlinski reist schließlich einen Tag später zurück. Die Spur zu Marsalek verliert sich.

Petlinski bestätigt [dem Medium], zu dem Zeitpunkt in der Gegend gewesen und mit einem Privatjet zurückgeflogen zu sein. Doch er bestreitet, Marsalek bei der Flucht geholfen zu haben. Jewgenija Kurotschkina, die Passkurierin, sagte auf Anfrage zu den Vorwürfen, Interaktionen zwischen Fremden sollten »für beide Seiten von Vorteil« sein – Informationen gebe es nur gegen Geld. Natalja Slobina ließ eine Anfrage zu sämtlichen Vorwürfen unbeantwortet. Nach Marsalek gefragt, antwortet Priester Bajasow am Telefon, er könne dazu nichts sagen: »Warum weigern Sie sich, das zu verstehen?« Marsaleks Verteidiger ließ einen umfangreichen Fragen­katalog unbeantwortet.

Endet damit auch die Agentengeschichte des Jan Marsalek? Nein. Marsalek sucht offenbar andere Wege, sich für seine russischen Herren nützlich zu machen. Noch extremere. Die Fährte führt nach Großbritannien.

In London regnet es an diesem grauen Herbsttag im Oktober 2023, wie könnte es in einer Agentenstory anders sein. Drinnen: Ein holzvertäfelter Saal, der Richter in Robe und Perücke thront auf einem Polstersitz. »My Lord«, sagen die Rechtsanwälte, wenn sie ihn ansprechen. Bänke, Stühle, Treppen – alles quietscht und knarzt im Old Bailey, dem berühmtesten Strafgerichtshof Großbritanniens. Per Video zugeschaltet aus verschiedenen ­Gefängnissen verfolgen drei Männer und zwei Frauen mit grimmiger Miene die Voranhörung.

Die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft wiegen so schwer, wie die Luft dick ist im Saal. Demnach habe sich Jan Marsalek mit den Angeklagten zwischen dem 30. August 2020 und dem 8. Februar 2023 »verschworen, um Informationen zu sammeln, die direkt oder indirekt nützlich für einen Feind sind und damit dem Interesse und der Sicherheit des Staates schaden«, heißt es in einem Gerichts­dokument.

Wie britische Agenten und Kriminalbeamte herausgefunden haben, soll Marsalek die fünfköpfige Gang beauftragt haben, dem Kreml missliebige Personen auszuspähen, quer durch Europa zu verfolgen – und am Ende vermutlich zu kidnappen oder sogar zu beseitigen. Im Februar 2023 verhaftet die Londoner Polizei die bulgarischen Beschuldigten wegen Spionageverdachts. Der Inlandsgeheimdienst MI5 hatte sie schon länger überwacht.

Neben den gefälschten Pässen und Massen an Reisedaten der Gruppe dienen nach Angaben der Staatsanwaltschaft rund 80.000 Chat­nachrichten als zentrale Beweismittel. Demnach sollen die Ausspähungen Teil von Entführungs- oder Attentatsplänen russischer Dienste gewesen sein. Die genauen Anweisungen für die Bulgaren sollen per Telegram-Nachrichten von Marsalek gekommen sein. Bezahlt wurden sie offenbar per Kryptowährung und über einen Mittelsmann in bar.

Wie genau die Spionageabwehr auf die Gruppe aufmerksam wurde, ist nicht bekannt. Die Aktion war aber ein Volltreffer. Angeblich fanden Ermittler elektronische Überwachungsausrüstung und 19 gefälschte Dokumente, darunter Presseausweise und Kleidung mit Aufschriften der US-Fernsehsender Discovery Channel und National Geographic. Offenbar waren die Verdächtigen in ihren geheimen Operationen zum Teil als Journalisten aufgetreten.

Als Rädelsführer der Agententruppe gilt der Geschäftsmann Orlin Roussev, 46, ein Überwachungsspezialist. Über Roussev kamen die britischen Ermittler wohl auf die Spur von Jan Marsalek. Roussev ist ein alter Bekannter aus Wire­card-Zeiten. Wie aus E-Mails zwischen ihm und Marsalek hervorgeht, verschaffte er dem Manager wohl schon vor Jahren besonders gesicherte Handys. Er kenne einen chinesischen Anbieter, der »mehr als fähig« sei, »maßgeschneiderte Lösungen« für Smartphones und andere elektronische Geräte zu liefern, schrieb Roussev einst an Marsalek.

Wie ernst die deutschen Behörden mittlerweile die Gefahr nehmen, die von Marsalek ausgeht, ließen sie Anfang Februar erkennen. Da wurde der Kronzeuge im Wire­card-Prozess, Oliver Bellenhaus, nach rund dreieinhalb Jahren unter Auflagen aus der Untersuchungshaft entlassen. Der frühere Dubai-Statthalter von Wire­card hat Braun, aber auch Marsalek im Prozess schwer belastet.

Seitdem kann man beobachten, wie Bellenhaus von zwei schweren Wagen zum Hoch­sicherheitsgerichtssaal in München-Stadelheim eskortiert wird. Aufgrund der Veröf­fentlichungen [des Mediums] und anderer Medien zu den mutmaßlich von Marsalek geführten, von London aus operierenden Agenten, halten Staatsanwaltschaft und Polizei es für geboten, Bellenhaus Personenschutz zu gewähren.

Der Prozess in London gegen die bulgarische Spionagegang soll Ende dieses Jahres beginnen. Manche der Zielpersonen leben bis heute gefährlich, weil Moskau sie im Fadenkreuz hat.

Der mutmaßliche Auftraggeber und Anführer Jan Marsalek wird höchstwahrscheinlich nicht mit auf der Anklagebank sitzen. Er bleibt verschwunden, gut versteckt von seinen russischen Beschützern, weitgehend unsichtbar.

Es ist ein wenig wie mit dem Monster von Loch Ness: immer wieder angeblich gesichtet, aber nie erwischt. Er sei in Thailand, vermuten manche Quellen, andere reden von Indien. Dann wieder weisen digitale Spuren nach Caracas in Venezuela. Der Kreml schreibt an die deutsche Justiz, sie solle sich doch mal in Kasachstan umhören. Und das »Wall Street Journal« meldet, Marsalek halte sich in Dubai auf.

Wo auch Petlinski ist.

Was sagt er auf die Frage, wo Marsalek steckt? »Ich weiß es nicht, wir haben über die Pandemie den Kontakt verloren«, sagt ­Petlinski an diesem warmen Februartag in der Wüstensonne von Dubai.

Er lächelt. »Wahrscheinlich irgendwo, wo es nett ist.«

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