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Um Konsumenten bspw. vor minderwertigen Brustimplantaten zu schützen, will eine EU-Regelung, dass alle Medizinprodukte regelmäßig neu zertifiziert werden müssen, die Zertifizierung liegt jedoch in den Händen privater Firmen, die den Prozess künstlich verteuern. In der Folge werden Nischenprodukte (bspw. für Kinder) vom Markt genommen, Innovationen gestoppt, vielfach besteht ein Versorgungsdefizit. Eine Änderung der Regelung wird angestrebt.

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Plötzlich ein Loch im Kinderherz - weil ein Teil für ein paar Euro fehlt

Es ist eine Katastrophe in Zeitlupe, von der Mediziner im ganzen Land berichten. Ihnen gehen schleichend Gerätschaften aus, um ihre Patienten zu operieren. Vor allem für die Behandlung von Babys fehlen die passenden Instrumente. Von Todesfällen ist schon die Rede. Der Grund ist eine EU-Regelung.

Nikolaus Haas, Professor für Kinderkardiologie an der Münchner Uniklinik, erzählt in seinem Büro zwischen Büchern und Papierstapeln, wie unlängst ein Routineeingriff an einem Kinderherz fast in einem Desaster endete.

Haas wollte mit einer kleinen Zange ein Stück Herzmuskelgewebe abzwicken, um es untersuchen zu lassen, eigentlich kein Problem. Doch diesmal fehlte ihm die richtige Führungsschleuse. Das ist ein gebogenes Stück Plastik, durch das er die Zange an die richtige Stelle im Herzen schiebt. Die bewährte Schleuse gibt es nicht mehr, sie ist vom Markt verschwunden. Haas musste improvisieren, ein anderes Modell nehmen. Dessen Spitze ist jedoch deutlich härter. "Und dann hat diese Spitze trotz aller Vorsichtsmaßnahmen plötzlich ein Loch ins Herz gemacht."

Ein Loch im Herzen ist ein Notfall, es geht um Leben und Tod. Der Brustkorb des Kindes musste sofort geöffnet, das Loch vernäht werden, unter Hochdruck. Nur weil ein Stück Plastik im Wert von ein paar Euro fehlte.

Es mangele auch an kleinen, für Kinder nutzbaren Gefäßstützen, sogenannten Stents, sagt Haas. Und gerade habe ihn die Leiterin der Intensivstation angerufen. Jetzt gingen auch noch die kleinen Katheter für die Bauchfell-Dialyse zur Neige: dünne, weiche Röhrchen mit Löchern drin. Ebenfalls ein Billigprodukt – aber lebensrettend für Kinder, die frisch am Herzen operiert wurden und deren Nieren vorübergehend nicht funktionieren.

Nachfragen in anderen Kliniken fördern ähnliche Geschichten zutage. Immer wieder geht es um ein EU-Gesetz, das viele der Ärzte "Wahnsinn" oder "Irrsinn" nennen: die europäische Medizinprodukte-Verordnung MDR (Medical Devices Regulation). Die Regelung aus dem Jahr 2017 sieht vor, dass Medizinprodukte alle fünf Jahre neu zertifiziert werden müssen. Nun beginnt sie voll zu wirken, und es zeigt sich: Für viele Hersteller lohnt sich die aufwendige Zertifizierung nicht. Das ist besonders bei selten verkauften Produkten wie jenen für Baby-Operationen so, die deren Hersteller nun reihenweise aus dem Sortiment streichen. Aber es betrifft auch andere Nischenprodukte, zum Beispiel Hüft- oder Kniegelenke in seltenen Größen (was dazu führt, dass bei Verschleiß einzelner Teile das komplette Gelenk ausgetauscht werden muss). All diese Spezialteile verschwinden gerade aus den Krankenhäusern, völlig unkontrolliert.

Allen Tower Jr., genannt Al, ist die Verzweiflung am Telefon anzuhören. Er ist der Inhaber der Firma NuMed mit 90 Mitarbeitern und Hauptsitz im US-Bundesstaat New York. Er könne nicht mehr schlafen, sagt Tower Jr., weil unschuldige Menschen in den kommenden Monaten unter der europäischen Regulierung leiden und wegen fehlender Spezialprodukte für Notfälle sogar sterben müssten. "Es könnte kein größeres Desaster sein."

Seit 30 Jahren verkauft NuMed Medizinprodukte in Europa, sie werden vor allem bei Herz-OPs an Kindern eingesetzt. Zum Beispiel sogenannte D’vill-Schleusen, kleine Gebilde aus Plastik. Durch sie schieben die Ärzte ihre Instrumente von der Leiste aus in die Gefäße hinein, um möglichst sanft zum Herzen zu kommen. Doch seit zwei Wochen hat Tower Jr. den Verkauf dieser und anderer Produkte eingestellt. Auch einen kleinen Ballon bietet er nicht mehr an, mit dem sich schnell lebensgefährliche Verletzungen der Hauptschlagader abdichten lassen.

"Wir haben neun unserer Produktlinien Ende Mai vom europäischen Markt genommen", sagt Tower Jr. "Es ist wirklich schrecklich, dass wir das tun müssen, aber wir sind dazu gezwungen." Die medizinische Versorgung in Europa werde unsicherer.

Dabei wollte die EU eigentlich das Gegenteil erreichen. Die Verordnung sollte die Sicherheit der Medizinprodukte erhöhen, nachdem im Jahr 2010 ein Skandal um minderwertige Brustimplantate bekannt geworden war. Hunderttausende Frauen wurden damals geschädigt. So etwas sollte die MDR verhindern. Sie schreibt vor, dass alle Medizinprodukte neu zertifiziert werden müssen, nach neuen Regeln, den strengsten der Welt. Dabei spielt keine Rolle, wie lange diese Produkte schon im Einsatz sind und ob es jemals Probleme gab.

Vor wenigen Tagen ist nun eine entscheidende Frist abgelaufen: Wer seine Produkte nicht bis Ende Mai für die neue Zertifizierung angemeldet hat, darf sie nicht länger verkaufen. Der aktuelle Mangel ist wohl nur der Anfang, noch haben viele Kliniken Lagerbestände, die sie rechtzeitig gehortet haben.

Der Kinderkardiologe Haas klemmt sich heute hinters Telefon, um bei anderen Kliniken Material zu besorgen. Inzwischen haben die Ärzte eine Art Nothilfegemeinschaft gegründet. Sie lassen Medizinprodukte notfalls mit dem Taxi von Stadt zu Stadt bringen. "Wir helfen uns aus und machen Tauschgeschäfte wie früher in der DDR", sagt Haas.

Wie gewaltig das Problem ist, schildert Marc-Pierre Möll, der Geschäftsführer des deutschen Medizintechnik-Verbands BVMed. 25.000 neue Zertifikate für eine halbe Million Produkte müssten europaweit beantragt werden, um alle bislang verkauften Produktlinien fortzuführen, sagt er. "Nach letzten Zahlen sind es aber erst rund 20.000." Das heißt: Jede fünfte Produktlinie könnte wegfallen, mit insgesamt Tausenden Medizinprodukten. "Die Situation in den Kliniken wird sich jetzt weiter verschärfen, wöchentlich werden Produkte vom Markt verschwinden", sagt Möll, "und die Konsequenzen werden sich häufen."

Die Konsequenzen sind zum Beispiel zerstörte Gefäße bei Kindern, erklärt Stephan Schubert, Chef der Kinderkardiologie im Herz- und Diabeteszentrum NRW. Eigentlich schiebt er Säuglingen und Kleinkindern bei minimalinvasiven Eingriffen extradünne Katheter in die Gefäße: filigrane Schläuche mit winzigen Ballons an der Spitze, die die Gefäße schonen sollen. Doch viele dieser Katheter gibt es nicht mehr. "Wir müssen jetzt größere und schlechtere Katheter nutzen", sagt Schubert. Das könne zu Schäden führen. "Dann gehen die Gefäße eventuell zu und werden nicht mehr richtig durchblutet." Ist die Blutzirkulation in einem Bein schlechter, wächst es möglicherweise weniger.

Auch der Münchner Professor Berthold Koletzko, spezialisiert auf Stoffwechselerkrankungen, klagt. Eine seiner jungen Patientinnen muss einen fest eingepflanzten Venenkatheter tragen, über den sie ernährt wird. Kürzlich ging der dünne Plastikschlauch beim Spielen kaputt. "Bislang hatten wir ein Reparaturset, mit dem wir den Katheter einfach flicken konnten", sagt Koletzko. Dieses Set ist nicht mehr erhältlich. "Deshalb mussten wir dem Mädchen einen neuen Katheter einpflanzen, eine große und eigentlich unnötige Operation", sagt Koletzko. "Die Zahl der Venen, die man dafür nutzen kann, ist begrenzt – irgendwann hat das Kind womöglich keine mehr, über die es ernährt werden kann."

Aber warum nehmen die Hersteller diese Produkte vom Markt? Was ist so abschreckend an der neuen EU-Zertifizierung? Fragt man die Geschäftsführer der produzierenden Unternehmen, wissen sie oft gar nicht, wo sie anfangen sollen.

Zum Beispiel die Kosten. Sie liegen im Schnitt bei insgesamt 350.000 bis 500.000 Euro für ein einziges Zertifikat, sagt der Verbandschef Möll.

Doch die Hersteller können nur schwer kalkulieren, wie teuer die Zertifizierung wirklich wird. Denn für die Bearbeitung ist keine Behörde mit einer klaren Gebührenordnung zuständig, sondern es sind Benannte Stellen, wie es im Gesetz heißt. Das sind Dutzende Privatfirmen, die ihre Kosten nach Aufwand abrechnen. Pro Arbeitsstunde stellen sie meist zwischen 300 und 600 Euro in Rechnung.

Der TÜV und Dekra gehören zu diesen Benannten Stellen und weniger bekannte Firmen wie die SGS-Gruppe oder die British Standards Institution. Was sie gemeinsam haben: Sie prüfen sehr, sehr gründlich, und das kostet viel Zeit, 18 Monate im Schnitt laut dem Branchenverband BVMed. Das sei auch kein Wunder, sagen viele ihrer Kunden: Sie verdienen ja mit jeder Verlängerung des Prozesses eine Menge Geld.

"Völlig haltlos" nennt ein Sprecher des TÜV-Verbands solche Vorwürfe. "Die Arbeit der Benannten Stellen wird klar per Gesetz definiert." Man müsse sich an die strengen EU-Vorgaben halten, um nicht gesetzeswidrig zu handeln. Das Verschwinden von Produkten vom Markt sehe man selbst "äußerst kritisch", die MDR müsse verschlankt werden.

Wie die Prüfung in der Praxis aussehen kann, erzählt Allen Tower Jr. von NuMed. Er wollte seine seit vielen Jahren in Europa verkauften D’vill-Schleusen neu zertifizieren lassen. Bei der früheren Zulassung nach den alten Regeln lief alles problemlos. Doch bei der neuen Zertifizierung hatte seine Benannte Stelle aus Großbritannien plötzlich Nachfragen in 189 Punkten. Nachdem Tower Jr. sie beantwortet hatte, kamen in der nächsten Runde 87 neue Fragen. Es ging um winzigste formelle Details.

Vier Runden lang gehe das so, sagt Tower Jr., und man solle bloß nicht glauben, dass die Prüfer mal keine Fragen mehr hätten. "Das sind Privatunternehmen, die Gewinn machen wollen und die keiner kontrolliert", klagt der Unternehmer. "Und manche von den Benannten Stellen sagen den Herstellern sogar ganz offen: Wenn es für euch finanziell keinen Sinn macht, euer Produkt nach MDR zertifizieren zu lassen, dann nehmt es halt vom Markt."

Genau das tun die Hersteller. Vor allem kleine Firmen wie die Familienunternehmen in Süddeutschland, die mit ihrer Freude am Tüfteln bislang dafür gesorgt haben, dass Europa bei vielen Medizinprodukten weltweit führend ist. Zum Beispiel AndraTec aus Koblenz, neun Beschäftigte, knapp fünf Millionen Euro Umsatz. "Auch wir haben entschieden, mehrere Produkte vom Markt zu nehmen", sagt Andreas Kohl, der Geschäftsführer. "Bei Nischenprodukten ist der Aufwand zu hoch, wir bekommen das einfach nicht mehr gestemmt." Er will noch drei seiner sechs Produktgruppen im Markt halten, zum Beispiel Stent-Implantate für Patienten mit angeborenen Herzfehlern. Um sie zertifizieren zu lassen, müsse er den Gewinn von drei Geschäftsjahren ausgeben, sagt Kohl.

Zwei Produktlinien für die Behandlung von Kindern fallen jetzt weg. Mit ihnen hat Kohl nie große Gewinne gemacht. "Da war man froh, wenn man wirtschaftlich einigermaßen die Kurve kriegt", sagt er, denn Produkte für kleine Patientengruppen werden oft nur in kleinen Stückzahlen verkauft. Seine Firma produzierte sie, so hört sich das an, auch aus gutem Willen. Aber den kann Kohl sich jetzt nicht mehr leisten.

Bei einem dritten Produkt zögert Kohl noch: Soll er auch eine winzige Fangschlinge vom Markt nehmen, eine Art Lasso, mit dem Ärzte im Notfall minimalinvasiv etwas im Körper bewegen können, zum Beispiel ein abgerissenes Kabel eines Herzschrittmachers? Falls AndraTec auch dieses Produkt streicht und die drei anderen Hersteller ebenfalls, bliebe den Ärzten in solchen Fällen nur die große Operation.

Um so ein Produkt zertifizieren zu lassen, müssen die Unternehmen nicht nur viel Geld auftreiben. Die EU verlangt für viele Produkte auch klinische Studien mit drei- oder vierstelligen Patientenzahlen. So oft müssen Ärzte in den Kliniken dann den Einsatz der Produkte beobachten und dokumentieren. Doch wie soll ein Hersteller derart viele Patienten zusammenbekommen, wenn er sein Produkt europaweit nur wenige Dutzend oder Hundert Mal im Jahr verkauft? "Das ist für viele Spezialprodukte praktisch unmöglich", sagt der Münchner Professor Haas.

Und selbst wenn die Firmen das schaffen, müssen sie das Zertifikat laut dem EU-Gesetz alle fünf Jahre erneut beantragen. Dann geht der ganze Aufwand von vorne los. Rezertifizierung heißt das.

Die EU will mit ihrem Gesetz Verbrecher stoppen. In der Praxis bringt sie kleine Unternehmen damit an den Rand ihrer Existenz. Und zwar genau die, die bisher Nischenprodukte hergestellt und dabei wenig aufs Geld geschaut haben. Sie werden gezwungen, zum ersten Mal ganz kalt zu rechnen.

"Wir machen keine Kinderprodukte mehr", sagt der Vorstand eines schwäbischen Familienunternehmens, das für seine Innovationsfreude bekannt ist – und nun 23 seiner 26 Produktlinien gestrichen hat. Aus Angst um seinen Ruf möchte er anonym bleiben. "Der ganze Spirit von Unternehmen wie uns wird komplett gekillt", sagt er. In der Schublade seiner Entwicklungsabteilung liege eine fertige Weltneuheit: eine winzige Gefäßstütze für Neugeborene, auf die Ärzte dringend warteten. Aber die Firma wird sie nicht auf den Markt bringen. Weil das der wirtschaftliche Untergang wäre bei einem Produkt, das sich europaweit vielleicht 40-mal im Jahr verkaufen würde. "Es ist zum Heulen", sagt der Vorstand.

Auch andere Firmen berichten, dass sie praktisch keine Innovationen mehr auf den Markt bringen. "Wir hatten zwei Jahre Entwicklungsstillstand", sagt Christian Keller, Geschäftsführer des schwäbischen Herstellers Joline aus Hechingen. Die Ingenieure der Entwicklungsabteilung waren nur noch damit beschäftigt, "neue Akten anzulegen für Produkte, die seit 20 Jahren auf dem Markt sind und ihre Sicherheit und Wirksamkeit längst nachgewiesen haben".

Wer denkt sich ein Gesetz aus, das in der Praxis derart verheerende Folgen hat? Peter Liese war dabei. Der promovierte Arzt ist seit 1994 Europaabgeordneter und will nach der Wahl am kommenden Wochenende ein weiteres Mal ins Parlament einziehen, als Spitzenkandidat der CDU in Nordrhein-Westfalen. Er hat die MDR mit verhandelt, ehe sie vom Parlament, der EU-Kommission und den nationalen Regierungen beschlossen wurde.

Liese war damals für eine Neuregelung, weil es aus seiner Sicht zu viele Skandale gab. Nicht nur die von Kriminellen produzierten Brustimplantate aus Billig-Silikon in Frankreich. Auch einen HIV-Test, der jahrelang auf dem Markt war und falsch negative Ergebnisse zeigte. Oder ein Mandarinen-Plastiknetz aus dem Supermarkt, das sich eine niederländische Reporterin als Medizinprodukt registrieren ließ, um auf lasche Kontrollen hinzuweisen. Mehr Sicherheit fand Liese gut.

"Aber wir sind weit über das Ziel hinausgeschossen", sagt der Politiker heute. "Ich muss ganz ehrlich zugeben: Ich habe nicht geahnt, dass die Folgen so dramatisch werden, dann hätte ich mich damals noch stärker engagiert." Schon während der Verhandlungen für das Gesetz bemerkte er, wie etwas aus dem Ruder lief. Wie Abgeordnete von anderen Parteien, von den Skandalen emotionalisiert, immer radikalere Forderungen aufstellten. Zum Beispiel, dass sich bei den Herstellerfirmen nur noch Mitarbeiter mit Hochschulabschluss um die Zertifizierungen kümmern dürfen. "Ich habe schon damals gesagt, das ist Wahnsinn", sagt Liese. "Aber wir waren mit unserer Abwehrschlacht nur sehr begrenzt erfolgreich."

Dazu kam, dass die Bundesregierung unter den Gesundheitsministern Daniel Bahr (FDP) und Hermann Gröhe (CDU) die Sache lange laufen ließ. Sie war der Meinung, es brauche keine Neuregelung. Damit habe sich Deutschland in Europa aber "völlig isoliert", sagt Liese. Die anderen Staaten hätten das Gesetz dann eben ohne Deutschland verhandelt. Bei der Abstimmung im Europäischen Rat enthielt sich die Bundesregierung.

Jetzt kämpft Liese dafür, das Gesetz zu verändern. Kürzlich schrieb er mit einem Anwalt sogar selbst einen Gesetzentwurf für eine große Überarbeitung. Obwohl nur die EU-Kommission ein Vorschlagsrecht für Gesetze hat. "Aber irgendjemand muss jetzt mal was tun", sagt der Abgeordnete.

Was passieren müsste, da sind sich viele Praktiker einig: Die Hersteller von Nischenprodukten müssten massiv entlastet werden von Kosten und Pflichten. Ein Register müsste geschaffen werden, damit es überhaupt eine Übersicht gibt darüber, welche Geräte gerade vom Markt verschwinden. Die Privatfirmen, die die Zertifikate ausstellen, müssten staatlich kontrolliert und die Preise gedeckelt werden. Und die Vorschrift, dass alle Zertifikate nach fünf Jahren erlöschen, müsste gestrichen werden.

Im Grunde müsste die komplette MDR ausgesetzt und neu geschrieben werden.

Aber die europäische Bürokratie ist zäh. Was einmal beschlossen wurde, steht da, wie in Stein gemeißelt. Die zuständige Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides aus Griechenland lässt eine Sprecherin ein Statement schicken. Die verweist auf verlängerte Übergangsfristen. Außerdem habe man "die nötigen vorbereitenden Schritte eingeleitet, um die existierende Regulierung zu evaluieren und zu überdenken". Was auch immer das heißen mag: An den akuten Problemen ändert das kaum etwas. Die längere Übergangsfrist zum Beispiel gilt nur für Unternehmen, die eine Zertifizierung beantragt haben. Sie verhindert nicht, dass viele sich die Kosten und den Aufwand schlicht nicht leisten können.

Der Europaabgeordnete Liese hat auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) einen Brief geschrieben, sagt er. Aber es sei nie eine Antwort gekommen. Auf [Medium]-Anfrage teilt eine Sprecherin des Gesundheitsministeriums mit, man habe die EU-Kommission gebeten, "bald nach den Europawahlen im Juni und dem Zusammentritt der neuen Kommission voraussichtlich Ende 2024" einen Änderungsvorschlag für die MDR zu entwickeln. Und kurzfristig seien Sonderzulassungen nötig, um Versorgungsdefizite zu vermeiden.

Solche Notzulassungen gibt es inzwischen für einige Produkte. Vor allem für solche, bei denen es um Leben und Tod geht.

Kommt ein Kind bei der Geburt mit blau angelaufener Haut auf die Welt, zählt jede Sekunde. Dann liegt oft eine sogenannte TGA vor, eine Transposition der großen Gefäße. Das kleine Herz ist falsch herum an die großen Blutgefäße angeschlossen, es pumpt sauerstoffarmes Blut zurück in den Kreislauf. Das Gehirn droht abzusterben. "Ein klassischer Notfall", sagt der Münchner Professor Nikolaus Haas.

Dann muss er sofort handeln. Er benötigt dafür einen Katheter mit einer speziellen Biegung und einem bestimmten Ballon an der Spitze. Damit muss er noch im Kreißsaal zum Herzen des Neugeborenen vordringen. An der richtigen Stelle pustet er den Ballon auf und reißt ein Loch in die Trennwand zwischen linkem und rechtem Herzvorhof, damit sich das Blut vermischt und wieder Sauerstoff in den Kreislauf kommt. Rashkind-Manöver heißt die Rettungsaktion, dank ihr überlebt das Kind.

Doch vor zwei Jahren seien auch diese Katheter für kleine Kinder plötzlich in ganz Europa nicht mehr verfügbar gewesen, sagt Haas, mehrere Firmen hätten sie vom Markt genommen. "Ich weiß von europäischen Kollegen, dass in dieser Zeit mehrere Kinder gestorben sind, weil es diese Katheter nicht mehr gab", sagt der Professor.

Die Eltern dieser Kinder wissen bis heute wohl nichts von dem Mangel. Denn Ärzte reden in der Regel nicht darüber. Sie sagen nur: Wir haben alles versucht. Und sie behelfen sich, soweit es geht, mit irgendwelchen Ersatzprodukten, das Improvisieren üben sie schon in der Ausbildung.

Inzwischen wird ein solcher Ballonkatheter in Deutschland wieder verkauft, aber nur per befristeter Notzulassung. "Eine vernünftige Lösung ist das nicht", sagt Haas.

Es ist ein Katheter der US-Firma NuMed, eine verbesserte Neuentwicklung. Ihr Chef Allen Tower Jr. hat die Zertifizierung in Europa schon beantragt, macht sich aber keine Illusionen: "Bis ich sie bekomme, wird es wohl mindestens noch ein Jahr dauern, im besten Fall." Und einen sechsstelligen Betrag kosten.

Er hat den lebensrettenden Katheter auch in den USA angemeldet, bei der zuständigen Behörde FDA, die ein Förderprogramm für Nischenprodukte hat. Die Zulassung dauerte 29 Tage. Und sie kostete nicht einmal 4.000 Dollar.

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