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Ein afghanischer Teppich

Die Hand des Menschen, eines der Wunder der Natur, besteht aus 27 Knöchelchen, die nur lose verbunden sind durch Gewebe und Sehnen. Das Kahnbein etwa, das Mondbein, das Große Vieleckbein. 14 Fingerknochen. 36 Gelenke. Die Muskeln, die ihr Kraft geben, befinden sich im Unterarm und entsenden nur ihre Sehnen in die Hand. Drei Nervenstränge. Ulnaris, Medianus, Radialis. Zwei Arterien für die Durchblutung. Auf der Handinnenfläche nehmen 17.000 Nervenzellen Druck und Vibrationen wahr. Sie können winzigste Erhebungen von gerade einmal 0,006 Millimeter spüren. Die Hände von Affen können noch viel mehr und sind die besseren Werkzeuge. Sie können kraftvoller zugreifen und sind gelenkiger. Aber eine Bewegung kann nur der Mensch: die Hand zur Faust ballen, wenn er sich wehren will.
Die Hände der 15-jährigen Saliha schnellen nach vorne, drehen nach links, nach rechts, ziehen mit einem Ruck, greifen wieder aus, drehen, ziehen wieder, in einer Geschwindigkeit, in der die vielen Bewegungen für das Auge zu einer einzigen werden. Das Mädchen sitzt in einem Verschlag aus Lehmmauern mit einem winzigen Fenster, in einem Vorort von Herat, einer Stadt im tiefen Westen Afghanistans. Salihas Nacken ist gebeugt, zwölf Stunden am Tag. Vor ihr steigen Tausende weiße Fäden steil wie eine Wand auf, ein Gitter aus Garn, beinahe bis zur Zimmerdecke empor.
"Ich hasse ihn", sagt Saliha.
Unter ihren Händen wächst auf drei mal zwei Metern Länge ein Teppich heran. Ein Rahmen aus Metallstangen steht vor ihr. Darin sind die Webfäden straff gespannt. Mit ihrer Schwester arbeitet sie seit fünf Monaten an dem Teppich. Sie knüpfen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, sechs Tage pro Woche. An manchen Tagen scheint er kaum größer zu werden. "Wir haben am Anfang so viele Fehler gemacht", sagt Saliha und lacht bitter.
Noch vor einem Jahr gingen die Schwestern zur Schule. Die Ältere, Rahima, 20, war in der elften Klasse. Sie wollte nach dem Abschluss persische Literatur studieren und Lehrerin werden. Sie liebt Poesie, sagt sie. Saliha ging in die zehnte. Sie wollte Frauenärztin werden. Sie sind in ihrer Familie die erste Generation Mädchen, die lesen und schreiben lernten, Hoffnung ihrer Familie, Hoffnung auf ein besseres Leben, ganzer Stolz ihrer Mutter, die selbst erst Anfang vierzig ist und Analphabetin.
Dieser Teppich ist alles, was ihnen von der Hoffnung blieb. Der Teppich ist alles, was ihnen die Taliban ließen. Von diesem Teppich handelt diese Reportage.

Vor etwas mehr als einem Jahr haben die Taliban erneut die Macht in Afghanistan übernommen. Eine ihrer ersten Amtshandlungen war es, die weiterführenden Schulen für Mädchen zu schließen. Die Sprecher der Taliban gaben dafür keine Begründung. Der Koran verbietet Bildung für Frauen nicht, sehr wohl aber der Kodex vieler Stämme Afghanistans. Die Schließung der Schulen, versicherten die Taliban, sei nur vorübergehend. Sie würden wieder geöffnet, wenn der Schulweg sicher genug sei, hieß es zunächst. Sie würden geöffnet, hieß es Monate später, wenn das Bildungsministerium über die Frage der Schuluniformen entschieden habe. Bis heute ist die Frage der Schuluniformen nicht gelöst. Es ist auch nicht absehbar, ob sie das je sein wird. Erst vor wenigen Wochen haben die Taliban einen Mullah auf den Posten des Bildungsministers berufen, der als noch konservativer gilt, als es sein Vorgänger ohnehin schon war. Afghanistan ist damit das einzige Land auf der Welt, das Frauen höhere Bildung verwehrt.
"Die Stimme einer Frau", verkündete der stellvertretende Direktor der Akademie der Wissenschaften in Kabul, seit einem Jahr ebenfalls ein Taliban, "darf nur im Privaten von ihrer Familie gehört werden." Würde jemand, der kein Familienmitglied sei, ihre Stimme vernehmen, begingen sie eine Sünde.
Das Leben für Hunderttausende Mädchen, niemand weiß, für wie viele genau, hat sich drastisch verändert. Nachdem sich die internationale Gemeinschaft von dem Land am Hindukusch abgewandt hat, versuchen sich die Schülerinnen und ihre Familien in den neuen Verhältnissen einzurichten, in einer Welt mit noch engeren Grenzen, so eng wie die Knoten eines Teppichs.

"Warum hast du uns diesen Teppich ins Haus gebracht?", wirft Saliha oft ihrer Mutter vor. Sie weiß natürlich, warum. Der Winter naht, die Nächte werden kälter. Zu viert lebt ihre Familie in einem kleinen Mietshaus ganz am Rande der Großstadt. Mutter, zwei Töchter und ein Sohn, der noch keine zehn Jahre alt ist. Sie haben drückend hohe Schulden. Erst vor einem Jahr sind sie hier eingezogen. Das Haus, in dem sie davor, nur zwei Straßen weiter, wohnten, mussten sie verlassen; sie konnten die Miete nicht mehr zahlen. Der Vater verdingt sich als Landarbeiter in weit entfernten Dörfern. Für nur wenige Wochen im Jahr lebt er bei ihnen, selten bringt er ihnen Geld. Vermutlich hat er anderswo eine neue Frau geheiratet, muss eine andere Familie finanzieren. Erneut droht ihnen jetzt der Rauswurf. Sie sind mit der Miete wieder im Rückstand. So wie fast alle Familien, die in ihrer Nachbarschaft wohnen.
Also wissen sie nur zu genau, warum sie Teppiche knüpfen, die beiden Schwestern, Saliha auf der rechten Hälfte der Holzbank, Rahima auf der linken. Sie knüpfen gegen das Elend an.
An diesem Tag, es ist ein Dienstag Mitte Oktober, fehlen Saliha und Rahima bis zur Fertigstellung noch 40 Zentimeter. "Ich bin müde", sagt Saliha. "Ich will nicht mehr." Sechs Monate Arbeit liegen hinter ihnen. Sechs Monate für zweieinhalb Meter. Fast pausenlos saßen sie auf der Holzbank. Je eher der Teppich fertig wird, desto eher bekommen sie das Geld.
"Mir tut der Rücken weh", klagt Saliha und lässt die Hände sinken, schaut zu ihrer Schwester, die schweigend weiterknüpft. Rahima leidet ebenfalls unter Schmerzen, Zahnweh, seit Monaten. Erst der Erlös des Teppichs wird sie davon befreien. Dann endlich wird sie sich einen Zahnarzt leisten können.
"Du denkst zu viel nach", sagt Rahima zu ihrer Schwester. "Wie sollen wir so je fertig werden?" Saliha wirft ihr einen kurzen bösen Blick zu, nimmt dann aber wieder den Knüpfhaken auf, spannt damit den Hinterfaden nach vorne, zieht mit der linken Hand den Wollfaden um ihn, führt den Faden um den Vorderfaden, zieht ihn zwischen beiden hindurch, zieht straff, klopft den Knoten fest. Ein neuer Knoten. Dann der nächste. Dann der nächste. 30 Knoten in der Minute, so haben Forscher einmal in Indien errechnet, produziert ein durchschnittlich schneller Teppichknüpfer. Das sind rechnerisch 8640 Knoten in acht Stunden.
Der Vermieter der Familie will in einer Woche vorbeikommen, um die ausstehende Miete einzukassieren. Unbedingt muss der Teppich bis dahin fertig werden, sagt die Mutter, die Masouma heißt. Sie fürchtet, dass der Vermieter ihnen kündigen wird, wenn sie in einer Woche das Geld nicht haben, wenigstens einen guten Teil davon. Wenige Tage bleiben noch für den letzten halben Meter. "Ich kann nachts vor Aufregung nicht schlafen", sagt Masouma.

Sie ist eine Frau, die viele Gesichter hat. Ein weiches, hell leuchtendes, das immer nur kurz aufscheint. Ein bitteres, in sich gewandtes, wenn sie nicht weiterweiß – und das finstere Gesicht. Die Augen werden zu Schlitzen, die Lippen dünn. Das Gesicht wird dann fast zu einem Knochen, verhärtet, um mit Gewalt durch ein Leben zu brechen, das so häufig von Gewalt geprägt ist.
Ihren Töchtern kann Masouma, was übersetzt "die Unschuld" heißt, nur noch wenig helfen. Durch das jahrelange Nähen und Knüpfen hat sie einen Teil ihrer Sehkraft verloren. Sie kann nur noch unscharf sehen. Oft schmerzen ihre Augen. Vor einem Jahr hat sie probehalber bei einem Optiker eine Brille aufgesetzt, aber die vertrug sie nicht. Ihr wurde übel, außerdem hat sie das Geld nicht. Sie weiß, dass es ihren Töchtern mit den Jahren ähnlich gehen wird. Rahima, die Ältere, klagt über tränende Augen. Fast zwei Drittel aller Teppichknüpferinnen, das zeigen ebenfalls Studien in Indien, leiden unter Sehbehinderungen. Einige erblinden.
Von den beiden Schwestern ähnelt Rahima, die ältere, der Mutter am meisten. Nicht nur äußerlich, immer mehr auch in ihrer Bitterkeit. Saliha mit ihren 15 Jahren scheint dagegen noch voller Hoffnung. Rahima hat schon den schweren Gang ihrer Mutter. Saliha federt beim Laufen, juchzt manchmal, ist burschikos verspielt, mit einem Lachen, das noch frei ist, so viel Kraft ist noch in ihr.
"Es ist besser, wenn Mutter nicht hilft", sagt Saliha an diesem Tag. "Mutter, lass uns machen." Ihre Hilfe sei eine Last. Zu viele Fehler mache sie wegen ihrer Augen. Als Rahima und Saliha an diesem Abend, kurz vor Sonnenuntergang, aufhören, haben sie weitere zehn Zentimeter geschafft.

Die Straße, in der sie wohnen, ist an den Rand der Ödnis gebaut, dort, wo sich die Stadt allmählich in Wüste auflöst. Ein, zwei Häuserreihen, dann folgt nur noch eine Ebene aus Sand und Fels, magere Büsche, mit rotem Staub bedeckt. Plastiktüten, die der Wind aus der Stadt hinausweht. Jabreel heißt die Stadt, ein Vorort von Herat, vor wenigen Jahrzehnten als Flüchtlingslager der schiitischen Hasara gegründet. Die Hasara sind Nachfahren der Mongolen und das Volk unter den vielen Völkern Afghanistans, das unter allen Kriegen der jüngeren Vergangenheit am meisten zu leiden hatte. Hunderttausende Hasara, niemand weiß, wie viele genau, leben mittlerweile in Jabreel. In seinem Kern hat sich Jabreel zu einer respektablen Stadt verdichtet. Nie ließ der Zustrom an Flüchtlingen nach. So wuchs Jabreel, Schicht für Schicht, wie Jahresringe eines Baumes, Krieg für Krieg, Not um Not, bis hierher, zu dieser Straße.
400 Meter ist sie lang, Heimat von zwölf Familien. Sie ist schmal und von einstöckigen Häusern gesäumt. Einige sind aus Zementsteinen gebaut, andere aus Lehm. Allesamt einförmige Wohnzellen. Alle sind sie von Mauern umgeben, besitzen einen winzigen Innenhof und nur zwei bis drei Räume. Noch kurz vor dem Kollaps des prowestlichen Regimes von Präsident Aschraf Ghani 2021 hatte eine Hilfsorganisation die Straße betoniert und mit Regenwasserkanälen versehen.
Das rhythmische Klopfen der Teppicharbeiterinnen liegt über den Häusern; von den zwölf Familien haben seit dem Sturz der Regierung acht aus Not mit dem Knüpfen begonnen. Im Haus gegenüber von Masoumas sitzen vor einem Teppich, der erst zu einem Drittel fertig ist: zwei Schwestern, 16 und 18 Jahre alt. Auch sie gingen bis vor einem Jahr zur Schule. Die Töchter müssen arbeiten, weil der Vater, ein Tagelöhner, unter den Taliban kaum mehr Arbeit findet. Jeden Tag stellt er sich in eine Schlange und hofft, dass ein Kleinunternehmer ihn für einige Stunden anheuert. Meistens schleppt er Steine. In der Woche verdient er sechs Euro, manchmal acht.
Im Haus nebenan, auf der gleichen Straßenseite, ist der Teppich erst ganz am Anfang. Eine 17-Jährige kauert davor, verzweifelt, denn immer wieder muss sie das Geknüpfte auflösen. Die Musterkarten, denen die Knüpferinnen folgen, sind oft kompliziert. Die Karten sind schmale Streifen aus Papier mit winzigsten Karos. Jedes Karo ein Knoten. Wird nur ein Karo übersehen, verzieht sich das ganze Muster, muss alles bis zum Fehler wieder aufgetrennt werden, Faden für Faden, was oft Tage kostet. Die 17-Jährige stand kurz vor dem Schulabschluss, als die Taliban an die Macht kamen.
Zweitbeste ihrer Klasse sei sie gewesen, sagt sie stolz. Beim Knüpfen sei sie aber noch ganz schlecht. Der Vater, ebenfalls ein Tagelöhner, starb vor zwei Jahren, niemand weiß, woran. Davor hatte ihn ein mysteriöses Kopfweh geplagt. Der Mann ihrer älteren Schwester, ein Fahrer, von dessen Geld die Familie gelebt hat, starb in den letzten Gefechten zwischen Regierungstruppen und Taliban.
Die Straße ist eine Straße der Frauen. Männer sieht man nur wenige. Einige haben Arbeit im nahen Iran gesucht. Einige sind verschwunden, manche tot. Einige haben sich getrennt und leben bei einer anderen Frau. Die Frauen dieser Straße sind größtenteils auf sich selbst angewiesen. Ihre Teppiche produzieren sie im Auftrag von fünf, sechs Händlern. Die stellen die Webrahmen zur Verfügung, das Gitter aus Garn, die Wolle und die Muster. Ab und an kommen sie vorbei und kontrollieren die Qualität, passen den Rahmen an. Geld erhalten die Familien erst, wenn der Teppich komplett ist. Es liegt an ihnen, wie lange sie brauchen.
Die Teppichproduktion gilt nach der Landwirtschaft als zweitwichtigster Wirtschaftszweig im Land, mit geschätzt 1,5 Millionen Beschäftigten. Allein in Herat sollen 600.000 Menschen von ihr abhängig sein. Doch ist auch das Teppichgewerbe in Afghanistan in der Krise. Immer noch ist Afghanistan durch die Sanktionen vom internationalen Zahlungsverkehr abgeschnitten. Die Händler haben große Schwierigkeiten, die Teppiche zu den Absatzmärkten im Ausland zu bringen. Die meisten ihrer alten Handelsbeziehungen sind gekappt. Gleichzeitig verfügen sie über so viele billige Arbeitskräfte wie noch nie. Nach Schließung der Schulen wurden ganze Jahrgänge an Schülerinnen zu Knüpferinnen. So ist die Arbeit der Frauen den Händlern immer weniger wert. Für einen sechs Quadratmeter großen Teppich bekommen die Familien nur 200 Euro. Circa 30 Euro pro Monat, für die einzelne Knüpferin bleiben nur wenige Euro.
Saliha und Rahima haben zwei Tage später endlich die letzte Blumenreihe erreicht. Rahimas Zahnweh ist schlimmer geworden. Sie quält sich durch die Nächte. Sie knüpfen Blüten rosaroter Gerbera in dunkelblauen Vasen auf cremeweißem Hintergrund, fünf Gerbera-Gebinde in einer Reihe, acht Reihen untereinander. Guldan heißt die Sorte ihres Teppichs auf Dari, "Blumenvase". Drumherum ein dekorativer Rahmen, gestaffelt in acht Einzelrahmen. Das Muster, das die letzten sechs Monate ihres Lebens ausgefüllt hat. Sie knüpfen den Teppich von seiner Rückseite her. Es ist mühsam, einen Teppich von hinten zu lesen. Die Rückseite zeigt ihnen nur die verwaschene Struktur eines Wollfells, aus dem scheinbar wirr die abgeschnittenen Fäden hängen. Von hinten sehen die Blumengebinde, knotengenau geknüpft, wie Totenköpfe aus.
"Ihr müsst euch beeilen", sagt die Mutter, als sie am Ende des Vormittags in dem stickigen Verschlag vorbeischaut, in dem ihre Töchter arbeiten. Die Luft flirrt jetzt hier vor Wollfäden und Staub. "Ich kann uns beim Vermieter nicht länger entschuldigen."
Masouma putzt im Haus, während ihre Töchter knüpfen, geht zum Lebensmittelhändler, der neulich fast an Krebs gestorben ist, dann aber von einem Wunderheiler gerettet wurde, wie er allen erzählt. "Wir müssen endlich frommer werden!", deklariert er. Auch bei ihm hat Masouma Schulden, doch jetzt lässt er nichts mehr anschreiben. Wer nicht sofort zahlt, bekommt kein Mehl, keine Bohnen, keine Kartoffeln. So halten es seit der Machtübernahme durch die Taliban alle Händler. Sie gingen pleite, würden sie den Leuten Kredit gewähren, denn nur wenige sind mittlerweile noch in der Lage, Schulden zurückzuzahlen. Masouma kocht, hört sich bei den Nachbarn um, um zu erfahren, wie rasend sich die Welt um sie herum verändert. Und wartet, dass ihre Töchter das Ende des Teppichs erreichen.
Masouma: "Wir sind erst vor zwölf Jahren hierher in die Stadt gezogen. Wir dachten, dass das Leben einfacher werden würde. Ich komme aus dem Dorf Walam Qul. Das liegt in den Bergen der Provinz Ghor. Mein Vater war ein guter Mann. Wir waren vier Schwestern. Ich bin die Älteste. Als ich 15 wurde, hat mich mein Vater an den Bruder des Nachbarn verheiratet. Der ist 18 Jahre älter. Als ich 16 Jahre alt war, musste ich mein Dorf verlassen und zu ihm ziehen. Er hat damals einige Dörfer weiter gewohnt. Dort hat er bei einem Bauern als Landarbeiter gearbeitet. Für mich begann eine harte Zeit. Ich war noch ein Kind.
Wenn du heiratest, gibst du alle deine Rechte ab. Mein Mann erlaubte mir nicht mehr, meine Familie zu sehen. Ich habe meine Familie so sehr vermisst. Wenn ich ihn gebeten habe, sie besuchen zu dürfen, hat er mich geschlagen. Er schlug mich mit allem, was er gerade zur Hand hatte, mit Sandalen, mit Stöcken, mit einer Eisenstange, mit einer Schaufel. Er wusste, wie er mich schlagen musste, um mir die größten Schmerzen zu bereiten. Zweimal hat er mir Platzwunden geschlagen, und einmal hat er mir die Hand gebrochen.
Ich leide noch heute oft unter Kopfschmerzen. Ich glaube, die kommen von diesen Schlägen. Wir gingen nie zum Arzt. Niemand half mir. Wir lebten ganz alleine in unserem Haus. Seine Schwester lebte im Nachbarhaus. Wenn ich mich bei ihr beklagte, dass er mich so oft schlug, sagte sie: Er hat das Recht, dich zu schlagen. Du bist seine Frau. Das sagten auch die anderen Nachbarsfrauen. Also schwieg ich.
In dieser Zeit brachte ich vier Kinder zur Welt. Ein Bruder meines Mannes arbeitete in Herat auf dem Bau. Mein Mann entschied, dass wir auch nach Herat gehen sollten. Er hat mich nicht gefragt. In der Stadt war für mich so vieles neu. Die Häuser waren so groß! Die Straßen so weit! Am Anfang hatte ich Angst, vor ein Auto zu laufen, aber jetzt habe ich mich daran gewöhnt. Nach einigen Jahren kehrte mein Mann in das Dorf zurück, weil er in der Stadt keine Arbeit mehr fand. Wir blieben hier. Nie wieder will ich ins Dorf zurück.
In der Stadt konnte ich meine Töchter zur Schule schicken. Rahima ging noch im Dorf zur Schule, bis sie sieben Jahre alt war. Aber das war keine richtige Schule. Da hat sie nichts gelernt. Hier in der Stadt lernen die Mädchen etwas. Ich kann nicht lesen und schreiben, ich bin in der Stadt schnell verloren. Ich kann keine Schilder lesen. Ich kann keine Adresse finden. Mein Mann war damit einverstanden, sie zur Schule gehen zu lassen. Aber er sagte, für die Kosten müsst ihr selber aufkommen. Deshalb habe ich mit dem Nähen begonnen und irgendwann auch mit dem Knüpfen. Ich habe den Teppich vormittags geknüpft, und die Mädchen haben mir nach der Schule geholfen. Sie weinen viel, seit es keine Schule mehr gibt. Saliha leidet besonders.
Im Dorf gab es keine Teppiche. Ich habe zum ersten Mal in der Stadt einen Teppich gesehen. Ich wusste nicht, dass so etwas existiert. Seit sechs Jahren knüpfe ich. Fünf Teppiche haben wir geknüpft. Aber ich will nicht mehr. Ich bin so müde. Jeder Teppich nimmt dir viel Kraft."
Rahimas und Salihas Schulbücher sind die einzigen Bücher im Haus. Es sind die ersten Bücher, die sie in ihrer Familie jemals besessen haben. Sie bewahren sie in drei Stapeln auf der Fensterbank eines ihrer beiden Wohnräume auf. Bücher über Mathematik, Chemie, Biologie. Ihre Seiten sind aus billigstem Papier, beschrieben oft mit verschiedenen Handschriften. Die meisten Familien in der Straße haben sie versteckt, aus Angst vor Taliban-Kontrollen. Zwar haben die Taliban seit ihrer Machtergreifung nur einmal die Häuser der Straße durchsucht. Und sie suchten nach Waffen, nicht nach Büchern. Doch so groß ist unter den Familien die Angst. Die Verstecke sind kreativ: Sie verbergen sie hinter Webrahmen in Wandnischen, unter Treppenabsätzen, in Kisten unter alten Kleidern. Im Haus von Masouma liegen sie offen am Fenster.
"Warum sollen wir Mädchen nicht zur Schule gehen?", fragt Saliha, als ihr Rahima erzählt, dass die Regierung der Taliban per Dekret Frauen vom Studium technischer Berufe ausgeschlossen hat. Es ist ihnen fortan verboten, Ingenieurinnen zu werden. Im Wesentlichen sind ihnen da nur noch zwei Studienfächer gestattet: Pädagogik und Medizin; Wochen später werden sie ganz von der Universität verbannt. "Mädchen", sagt Saliha, "sind viel mehr darauf angewiesen, etwas zu lernen. Jungs können die Felder bestellen, um zu überleben. Aber wir Mädchen müssen etwas lernen. Warum müssen wir den Hidschab tragen, und die Jungs dürfen alles tun, was sie wollen?"
Die ehemalige Schule der Mädchen ist ein hoffnungsvoll blau gestrichenes Gebäudekarree. Sie steht dort, wo sich die locker besiedelte Ebene, besprenkelt mit den immer gleichen braunen Wohnwürfeln, allmählich zu einer Stadt verdichtet. Die hohe Außenmauer ist mit Denksprüchen und Koransuren beschrieben, die wie Schlachtrufe einer anderen Zeit klingen. "Strebe nach Bildung von der Wiege bis zum Grab!" – "Bildung ist das Herz eines jeden Körpers." – "Sag mir: Können der Wissende und der Unwissende gleich sein?" Das Metalltor der Schule, teilweise schon mit Rost überzogen, ist verschlossen.
Am frühen Abend, als es zum Teppichknüpfen zu dunkel ist, sitzt Saliha auf dem Boden des Zimmers, in dem sie schläft, isst und früher auch lernte. Sie reibt sich die Fingerkuppen, die vom Knüpfen und vom Staub der Wollfäden schwarz und gefühllos geworden sind.
Saliha: "Ich hatte bisher ein glückliches Leben. Meine Mutter sagt, sie sei in meinem Alter nur alle vier Monate aus dem Haus gelassen worden. Ich kann mir das gar nicht vorstellen.
Ich war glücklich, dass ich zur Schule gehen konnte. Aber die Unterrichtszeit war zu kurz. Und die Lehrerinnen waren oft nicht da. Ganz schlimm war es in Geografie. Da hatte ich in einem Jahr nur fünf Unterrichtsstunden, weil die Lehrerin immer wieder fehlte. Ich hätte gerne viel mehr gelernt. Es wurde ein bisschen besser, als wir in den Neubau umgezogen sind. Vorher saßen wir in Räumen ohne Scheiben in den Fenstern.
Ich kann mich noch genau an den letzten Tag erinnern. Wir hatten schon davor Gerüchte gehört, dass die Taliban die Schule schließen würden. Aber die Lehrer haben uns beruhigt. Sie haben gesagt, das wird nicht passieren. Dann haben die Taliban die Regierung besiegt, und sie haben die Schulen nicht geschlossen. Die Lehrerinnen haben uns weiter unterrichtet. Wir haben gedacht, vielleicht schließen sie ja die Schule wirklich nicht. Aber dann haben sie sie doch geschlossen.
Es passierte in der vierten Stunde. Wir hatten gerade Paschtu-Unterricht, als wir gesehen haben, wie zwei Taliban den Schulhof betraten. Sie hatten Waffen dabei. Sie sind zum Büro der Direktorin gegangen. Alle Mädchen sind da von ihren Bänken aufgestanden und haben aus den Fenstern geschaut. Wir haben alle durcheinandergeredet. Es war das erste Mal, dass ich einen Taliban gesehen habe!
Dann hat die Direktorin alle Lehrerinnen in ihr Büro gerufen. Auch unsere Lehrerin. Sie kam nicht mehr zurück. Wir warteten bis zur sechsten Stunde. Als die Schulglocke läutete, sind wir einfach nach Hause gegangen. Meine Freundinnen und ich haben uns den ganzen Weg nach Hause unterhalten. Ob wir jemals wieder zur Schule gehen können. Ich war verzweifelt. Ich habe so hart gearbeitet! Ich wollte studieren! Ich wollte ein Mensch werden, der etwas bedeutet.
Die Schwestern meiner Mutter sind mit ihren Familien in den Iran geflohen. Aber das will ich nicht. Der Iran ist ein Land von Fremden. Sie erlauben Afghaninnen nicht, auf die Schule zu gehen. Was sollen wir tun? Ich kann nichts tun! Eine Freundin hat mir vorgeschlagen, uns den Protesten in der Stadt anzuschließen. Da demonstrieren manchmal Frauen gegen die Schließung der Schulen. Ich würde das gerne tun. Aber meine Mutter erlaubt es nicht. Ich will so oft meine Wut herausschreien. Ich will, dass sie meine Stimme hören. Aber wenn ich mit meiner Mutter darüber rede, sagt sie: Wir können nichts tun. Diese Leute werden uns nicht hören. Diese Leute kennen nur die Gewalt."
Die Taliban von heute sind nicht mehr die Taliban, wie sie einst waren – das war die Hoffnung der internationalen Gemeinschaft, als sie ihre Truppen abzog: dass die Taliban sich gewandelt hätten. In den Friedensverhandlungen mit den USA in Katar versprach die Führung der Taliban, die Rechte der Frauen auf Bildung zu achten. Es kam anders. Die Taliban sind über der Frauenfrage tief gespalten. Zahlreiche ihrer führenden Mullahs haben sich für die Öffnung der Mädchenschulen eingesetzt. In einzelnen Provinzen hat die Taliban-Verwaltung die Weiterführung der Schulen verkündet, doch hat sich bisher meistens der konservative Flügel durchgesetzt.
Die Taliban-Führung steckt in einem Dilemma: Längst sind die Taliban nicht mehr die einzige islamistische Bewegung in Afghanistan. Seit einigen Jahren ist in den Bergen der noch radikalere "Islamische Staat" aktiv. Nach den Niederlagen in Syrien und im Irak hat der IS seinen Radius nach Afghanistan ausgedehnt. Er wird unterstützt von Pakistan, das die Taliban lange gefördert hatte. Jetzt aber, da sie an der Macht sind, fürchtet Pakistans Regierung eine zu mächtige Taliban-Regierung. Denn auch die Taliban akzeptieren die Grenzziehung zwischen den beiden Ländern nicht, wie die Regierungen zuvor. Immer wieder kommt es an der Grenze zu kleineren Gefechten. Taliban-Kommandos reißen pakistanische Grenzbefestigungen nieder. Außerdem operiert in Pakistan ebenfalls eine Taliban-Bewegung, die sich ihrerseits den Sturz der Regierung in Islamabad zum Ziel gesetzt hat.
Immer wenn die pakistanischen Taliban vermehrt Anschläge verüben, kommt es zu IS-Anschlägen in Afghanistan. Für die Taliban-Führung ist die Existenz des IS eine fortwährende Bedrohung, schon viele junge Taliban sollen übergelaufen sein. Wofür, fragen sie, haben wir im Kampf gegen die Amerikaner unser Blut geopfert, wenn sich die Taliban-Regierung von der alten Regierung kaum unterscheidet? Deshalb ist jeder Anschein von Toleranz für die Taliban-Führung riskant. So sind die Frauen in Afghanistan gefangen in einer Mechanik der Angst, dem entsetzlichen Gleichgewicht aus Gewalt und Gegengewalt, der ehernen Statik der Macht.
Es gibt für die Mädchen in der Straße am Stadtrand von Herat nur noch eine einzige, vage Hoffnung, zur Schule gehen zu können. Die einzige Möglichkeit, ihr Leben nicht am Webrahmen zu beschließen. Immer wieder bittet Saliha ihre Mutter, sie auf eine Privatschule zu schicken. Doch der Familie fehlt das Geld. In Herat haben die Taliban alle staatlichen Mädchengymnasien geschlossen, nicht aber die privaten. Einige der Privatschulen erhalten auch ein Jahr nach dem Regimewechsel ihren Unterricht noch aufrecht. Die Rektoren suchen Schutz bei einflussreichen Taliban-Wortführern. Sie bestechen. Sie tricksen und tarnen. Sie riskieren jeden Tag ihre Freiheit und womöglich ihr Leben.
Der Rektor einer Privatschule, die in Herat das letzte Asyl ist für Mädchen, die lernen wollen, schaut sich im Gespräch immer wieder nach allen Seiten um. Er wirkt übernächtigt, ist bleich, schläft seit Monaten schlecht. Ein belebtes Restaurant in der Stadtmitte dient als Treffpunkt, lauter Verkehrslärm übertönt die Unterhaltung.
Der Rektor: "Wir haben dieses Gerede zuerst nicht ernst genommen. Wir dachten nicht, die Taliban würden wirklich die höheren Schulen für Mädchen dauerhaft schließen. Ich setzte mich mit meinen Lehrerinnen zusammen, und wir machten weiter wie bisher. Unsere Mädchen sind so großartig. Wir haben uns begeistern lassen von ihrem Willen zu lernen.
Wir halten uns an alle Regeln der Taliban. Bei uns unterrichten ausschließlich Frauen die Mädchen. Doch Mitte Mai kamen Abgesandte der Schulbehörde unseres Bezirks. Das sind mittlerweile Taliban. Sie fragten mich: Warum hast du den Unterricht nicht gestoppt? Ich habe geantwortet, dass das ja kein formeller Unterricht sei, sondern nur Kurse. Sie haben alle Dokumente in meinem Büro durchgeschaut. Sie gingen dann, doch kamen sie am nächsten Morgen zurück. Sie gingen durch alle Klassen. Sie betraten die Schule mit Waffen und Munitionsgürteln. Sie befragten die Mädchen: Warum kommt ihr noch? Habt ihr nicht gehört, dass wir den Unterricht verboten haben? Wer sich nicht daran hält, ist eine Ungläubige. Sie fragten die Mädchen: Seid ihr Sunniten, wie wir? Nein, sagten sie, wir alle sind Schiitinnen. Unsere Schülerinnen sind ja alle Hasara. Dann folgt ihr nicht dem Koran, sagten sie und gingen.
Wir haben die Eltern zusammengerufen und ihnen gesagt: Bleibt ruhig, wir finden eine Lösung. Immer noch kamen fast alle Mädchen in den Unterricht. Nach einem Monat wurde ich ins Schulamt gerufen. ›Da kommt der Verbrecher!‹, begrüßten sie mich in ihrem Büro. Sie drohten mir. Doch wir unterrichten weiter. Wir unterrichten bis heute alle Fächer! Nach einem weiteren Monat kamen die Taliban wieder und haben eine Abmahnung ins Schul-Logbuch eingetragen. ›Das ist die letzte Warnung!‹, sagten sie. Ich habe den Eintrag nicht dem Kollegium gezeigt. So konnten wir die Zwischenprüfungen abhalten.
Als wir den Unterricht nach den Ferien wieder aufnahmen, sagte mir der Schulwärter: Da sind zwei Bewaffnete am Tor. Sie haben mich abgeführt. Im Schulamt warteten viele Leute auf mich. Sie haben mich vor allen zur Rede gestellt. Wir können dich nicht länger schützen, sagte der Direktor des Schulamts. Es ist doch nur ein Zeitvertreib, sagte ich. Es ist doch kein Unterricht. ›Ich habe es sanft mit dir versucht‹, sagte mir der Direktor. ›Wenn ich jetzt nichts tue, sperrt der Staatsanwalt uns beide ein.‹ Sie führten mich dem Staatsanwalt vor. Der hatte sein Büro im gleichen Gebäudekomplex. Er sagte mir: ›Wir werden dich jetzt in das Militärgefängnis überführen.‹ Sie brachten mich in eine kleine Zelle und schlossen die Tür. Doch nach nur kurzer Zeit öffnete der Schulamtsleiter wieder die Zellentür. Ich bürge für dich, sagte er. Sie ließen mich gehen.
Wir schlossen die Schule. Doch nach vielen Gesprächen mit Lehrerinnen und Eltern haben wir sie nach einigen Wochen wieder geöffnet. Ich kann nicht anders. Wir unterrichten so viele Mädchen. Die Ältesten unseres Bezirkes haben an die Taliban einen Brief geschrieben. Der schützt mich vorläufig. Die Taliban wollen noch keine Konfrontation mit den Ältesten. Aber ich lebe jeden Tag in Angst. Ich weiß, mir kann jederzeit etwas passieren. Jederzeit kann jemand auf mich schießen, das passiert ja ständig in dieser Stadt."
Es pocht am Tor; hart schallt das Klopfen durch die ganze Straße. Der Vorarbeiter Ahmadai steht vor dem Haus der drei Frauen. Der Tag, auf den sie so lange hinarbeiteten, fast sieben Monate lang, fällt auf den Sonntag. Mutter und Töchter empfangen Ahmadai in ihrem kleinen Innenhof. "Ist er so weit?", fragt der kräftige Mann, der in seiner Rechten einen großen verkratzten Schraubenschlüssel hält. Über seinem weiten traditionellen Gewand, dem Salwar Kameez, trägt er eine Firmenweste mit dem Logo von Samsung. "Meine Mädchen sind sehr müde", sagt Masouma und führt ihn in den Verhau, in dem der Teppich hängt. Nervös sieht sie auf den Mann. Von seinem Urteil hängt ab, ob sie ihr Geld bekommen.
Ahmadai ist der Vorarbeiter des Händlers, in dessen Auftrag Mutter und Töchter nun bereits den zweiten Teppich hergestellt haben. Vor sieben Monaten hat Ahmadai ihnen das Rahmengestänge gebracht, die Wolle und die Musterkarten.
"Ich habe mein Messer vergessen", sagt er, und Masouma eilt ins Haus, kehrt zurück mit einem Fleischmesser. Mit viel Kraft schneidet Ahmadai den Teppich an seinen weißen Webfäden ab. Mit der einen Hand hält er den Spannrahmen, an dem der Teppich hängt, mit der anderen das Messer. Es ist ein Geräusch, als würde er durch Tierhaut schneiden. Der Geburtsakt eines Teppichs. Stück für Stück sackt beim Schneiden der Teppich nach unten. Ahmadai kappt Faden um Faden, als würde er tausend Nabelschnüre durchtrennen.
Dann liegt er vor ihnen. Gehüllt in eine Wolke aus Staub und Wollpartikeln. Sie alle stehen um ihn herum, starren auf ihn hinab, unschlüssig, ehrfürchtig fast, als warteten sie darauf, dass das Wollbündel zu atmen beginne.
Zu dritt rollen sie ihn aus, und zum ersten Mal sehen sie ihn in seiner ganzen Länge, zum ersten Mal seine Vorderseite. Sie blicken auf einen Paradiesgarten aus Blumen, so zart wie mit Federstrich gemalt, saftigen Früchten, mit Vögeln, die sich dazwischen tummeln, so klein, dass man sie erst auf den zweiten Blick entdeckt, eine Landschaft auf sechs Quadratmetern, die eine Verheißung ist auf das große Glück des Lebens.
Die Verheißung des Teppichs aber ist eine Verheißung für seinen Käufer. Masouma und ihre Töchter sehen auf ihn ohne Bewunderung, auch ohne jeden Schöpferinnen-Stolz. Sie schauen auf ihn wie auf ein geschlachtetes Nutztier. Millionen Knoten, die durch ihre Hände gingen. Sie hatten die ersten Zentimeter geknüpft, als im Iran eine der Schwestern Masoumas starb. Masoumas Sohn, neun Jahre alt, erkrankte an Covid, da hatten sie den unteren Zierrahmen zur Hälfte fertig. Vielleicht lag es an ihrer Nervosität damals, dass sie dabei oft die Knoten falsch setzten und sie mehrfach wieder auflösen mussten. Nur einen Tag vor der Hochzeit einer Cousine hatten sie die erste Vasenreihe erreicht. Der Sohn eines Nachbarn verstarb bei einem Verkehrsunfall, da waren sie irgendwo zwischen der dritten und vierten Vasenreihe, er hieß Hassan und war erst 19.
Es gibt Mädchen hier in der Straße, die arbeiten heimliche Botschaften mit ein. Ein einzelner Wollfaden, mit dem sie bewusst von den Vorlagen abweichen. Ein einzelner Knoten in Weiß etwa, der an die Verlobung einer Freundin erinnern soll, einer in Rot, der ein Versprechen unter Liebenden ist, einer in Gelb für einen Schwur. Sie sind winzige, unsichtbare Makel, nur dann zu sehen, wenn man um sie weiß. Kein Uneingeweihter wird später je ihre Botschaften verstehen können. In dem Moment, in dem der Teppich das Haus seiner Schöpferinnen verlässt, wird er stumm.
Der Vorarbeiter Ahmadai wirft einen kurzen Blick auf ihn, beugt sich hinunter, mustert die kleinsten Blumen, denn die kleinsten Figuren verraten am leichtesten Knüpffehler. "In Ordnung", sagt er.
Eine Rikscha wartet auf der Straße. Ahmadai und der Fahrer werfen den verschnürten Teppich auf den Anhänger. Ahmadai setzt sich auf ihn, die Rikscha fährt aus der Straße der Knüpferinnen hinaus, nach Jabreel. Dort, in einer Seitenstraße, ganz in der Nähe der geschlossenen Mädchenschule, ist das Lager des Teppichhändlers.
Der Subunternehmer Hadschi empfängt die Lieferung vor seinem Haus, die Arme in den Hüften. Er ist klein und grau. Ein Mann in seinen Sechzigern, was alt ist in Afghanistan. Hadschi arbeitet für einen Händler und betreut in den Vororten von Jabreel an die 150 Familien. Sein Lager ist dunkel und staubig, ohne jede Beleuchtung. Hier bewahrt er Berge von Wollfäden, große Knäuel, die Larven ähneln. Im gleichen Raum lagert er auch die Metallstangen der Webrahmen in unterschiedlichen Größen. Die Sitzbänke sind draußen auf dem Hof gegen eine Mauer gelehnt. Die Planken der Bänke biegen sich, ihre Oberfläche ist glatt geschmirgelt vom ewigen Sitzen der Knüpferinnen.
Hadschi: "Ich habe Mitleid mit diesen Mädchen. Diese Arbeit ist so anstrengend. Sie verlieren ihr Augenlicht, sie machen ihre Gelenke kaputt. Ich kenne so viele Geschichten. Und dann bekommen sie nur 200 Euro dafür. Vor einem Jahr konnten wir ihnen immerhin 230 Euro zahlen, aber auch das ist noch viel zu wenig. Das ist nicht genug, um eine Familie zu ernähren. Ich verdiene auch nicht viel. Ich kann mir kein Auto leisten, ich fahre nur ein Moped. Wir wissen nicht, wer in diesem Geschäft die Gewinne macht. Wir sind es nicht.
Jeden Tag kommen Frauen zu mir, die sagen, ich möchte mit dem Teppichknüpfen anfangen. Sie betteln, dass ich ihnen einen Webstuhl einrichte. Aber ich kann nicht. Ich kann mich nicht um sie alle kümmern. Sie müssen angelernt werden. Es sind einfach zu viele geworden. Die Qualität der Teppiche lässt nach. Die Linien der Muster sind nicht mehr so präzise.
Es ist ein trauriger Beruf. Früher haben die Mädchen mit Hingabe gearbeitet. Sie haben das nach der Schule gemacht. Sie haben Teppiche geknüpft, um ihre Schulgebühren zu verdienen oder sich mal ein neues Handy kaufen zu können. Jetzt knüpfen sie aus Hoffnungslosigkeit."
Hadschi weist Ahmadai an, den Teppich auf die Straße zu werfen, zusammen rollen sie ihn aus. "Was meinst du?", fragt Ahmadai. Die beiden Männer schauen unschlüssig auf das Blütenparadies. "Warten wir auf den Chef", sagt Hadschi.
Die Familien sind den Händlern meist völlig ausgeliefert. Einigermaßen frei sind nur die, die selber Wolle und Webrahmen besitzen. Alle anderen müssen sich an Unternehmer wie Hadschi binden. Ständig gibt es Konflikte, Streit um die Qualität der Wolle, die Druckqualität der Musterkarten. Es gibt Unternehmer, die können mitten in der Produktion eines Teppichs keinen Nachschub an Fäden mehr liefern, was die Familie zur Untätigkeit verurteilt. Trotzdem können die Knüpferinnen den Unternehmer nicht einfach wechseln. In Jabreel soll es zehn dieser Firmen geben, und sie alle haben die Vereinbarung, sich nicht gegenseitig Knüpferinnen abzuwerben. Frauen, die wechseln wollen, werden abgelehnt, wenn nicht ihr bisheriger Auftraggeber dem Wechsel zustimmt. Ein Kartell der Händler, um die Arbeitskraft der Frauen zu kontrollieren.
Eine Frau mit zwei kleinen Kindern nähert sich Hadschi und Ahmadai, die neben dem Teppich darauf warten, dass der Chef erscheint. Die Frau kommt zögernd näher, im schwarzen Hidschab, sehr hager, hochgewachsen, eine ehemalige Lehrerin. Sie will für Hadschi mit dem Knüpfen anfangen. "Es tut mir leid", sagt der Alte. "Ich kann dir nichts anbieten." Die Frau tritt nur wenige Schritte zurück, gibt noch nicht auf, beobachtet die Männer vom Straßenrand her. Sie steht im Wind. Sie zittert am ganzen Leib. Die Kinder schmiegen sich in ihrem Umhang.
Der Chef: Sein Wagen, mit dem er vorfährt, ein alter Suzuki, braun lackiert, die Windschutzscheibe zersplittert, der Lack abgeschmirgelt an beiden Flanken, Spuren zahlloser Karambolagen, erinnert an eine abgewetzte Gewehrkugel. Der Händler Karimi, 47, weiß sich im Moloch der Großstadt Herat durchzusetzen. Vorsichtig öffnet er beim Aussteigen die krächzende Fahrertür, damit sie nicht vollends aus den Scharnieren reißt. Er ist groß und füllig, der Salwar Kameez spannt ihm über den Bauch. Der Erste bisher in der Verarbeitungskette der Teppiche, der sich von seiner Arbeit etwas Fett zulegen kann. Er zückt seinen Notizblock.
Hadschi und Ahmadai haben die neu abgeschnittene Ware auf der Straße ausgebreitet, drei Teppiche mit Blumenmotiven, darunter der von Masouma. Karimi hat die Firma von seinem Vater übernommen und damit auch den alten Subunternehmer Hadschi. "Gut", sagt er über den ersten Teppich. "Der hier ist nicht in Ordnung", sagt er zum zweiten. Er misst mit einem Meterband. "Die Blüten der Gerbera sind kleiner, als sie sein sollten." Hadschi und Ahmadai beugen sich darüber. "Du hast nicht kontrolliert", sagt Karimi zu Hadschi. "Du wirst alt!" Der dritte Teppich, von Masoumas Töchtern, ist schön und makellos und wird auf das Dach von Karimis altem Suzuki gebunden. Mit dem Wagen voller Teppiche fährt er in die Innenstadt von Herat, hält dann dort, wo der Verkehr nur noch Chaos ist und die Handwerker der Teppichindustrie ihre Werkstätten haben, die Zuschneider, die Färber, die Spanner, Näher.
Karimi: "Mein Vater hatte es noch leicht. Der ließ einen Teppich herstellen, und sofort konnte er ihn verkaufen. Aber jetzt ist alles kompliziert. Erst haben wir unter Corona gelitten, da waren die Grenzen zu. Dann kam der Sturz des Regimes. Ich schicke meine Teppiche in den Iran. Ich schmuggle sie. Sonst würde ich nichts an ihnen verdienen. Die Taliban erlauben uns an der Grenze, die Teppiche zu schmuggeln. Seit sie an der Macht sind, kann ich die Teppiche nicht mehr offiziell exportieren. Ab und an beschlagnahmen die Iraner meine Teppiche, aber das passiert selten.
Noch vor zwei Jahren habe ich 30 Teppiche im Monat exportiert, jetzt ist es nur noch die Hälfte. Die Iraner bestellen weniger. Sie haben dort eine große Wirtschaftskrise. Ich muss mir Geld borgen, um die Familien hier auszubezahlen. Ich habe Schulden. Die Wollfäden sind aus dem Iran, die Muster sind aus dem Iran. Die Farben kommen aus Pakistan. Allein die Wollfäden haben sich im Preis seit einem Jahr verdoppelt. Der Preis steigt immer noch. Seit Schließung der Mädchenschulen gibt es viel mehr Teppichknüpferinnen bei uns. Sie arbeiten alle mit Wolle aus dem Iran, aber die stellen dort nicht mehr Wolle her, deswegen ist sie teurer geworden. Sie ist auch teurer geworden, weil es im Iran und bei uns immer weniger regnet. Es gibt nicht mehr so viel Gras für die Schafe. Ich muss das ganze Material vorfinanzieren. Bis der Teppich fertig ist und ich mein Geld bekomme, dauert es viele Monate. Ich weiß nicht, wie es weitergeht. Es gibt keinen einzigen Menschen, der weiß, wie es in diesem Land weitergeht."
Auf den dürren Schultern eines Lastenträgers mit Turban und weißem Bart wird Masoumas Teppich über die steilen Stufen eines Gewerbehofs getragen. Hinunter in die Galerien der Untergeschosse, in die nur wenig Licht dringt und aus denen der bissige Rauch offener Feuer quillt. Dort wird er geschoren, mehrfach, dazwischen immer wieder in riesigen Stahltrommeln gewaschen, auf große Spannrahmen gehängt. Ihm wird ein Rand aus Zierfransen genäht, schließlich wird er in ein Taxi gelegt und über die Grenze in den Iran gefahren. Er wird von jetzt an erfasst von den Gewalten schwankender Wechselkurse und Steuerregularien, neuer Moden, der Frachtgebühren und internationaler Wirtschaftskrisen, und so verschwindet er im rasenden Strudel des weltweiten Stromes von Waren.
"Wer ist Masouma!?", ruft Hadschi, als er Tage später mit einem Geldbündel durch das grüne Metalltor tritt. Hadschi grinst neckisch. Masouma lacht selten, heute lacht sie über das ganze Gesicht. Doch lässt sie die Geldscheine, als er sie zählt, für keinen Moment aus den Augen. Umgerechnet 215 Euro, zweieinhalb Monatsgehälter eines Grundschullehrers. "Was machst du mit dem Geld?", fragt er. Saliha und Rahima stehen im Türrahmen, etwas abseits, so wie es sich für Mädchen hier ziemt, wenn Besuch im Haus ist. Masouma will als Erstes einen Teil ihrer Mietschulden zahlen und Feuerholz für den Winter kaufen. Rahima kann sich endlich den Zahnarzt leisten. Saliha wünscht sich ein Paar weißer Sneaker, sie weiß bereits genau, welche.
"Nimmst du wieder einen Teppich?", fragt Hadschi zum Schluss. "Nur einen kleinen", sagt Masouma. "Es wäre gut, wenn ihr wieder einen großen mit sechs Quadratmetern machen könntet", sagt Hadschi. "Ihr seid so erfahren", lockt er weiter. "Ihr seid so gut." – "Mutter, bitte bring uns keinen Teppich mehr", hat Saliha sie gebeten. "Überleg es dir", lockt Hadschi. "Ich muss es mit meinen Töchtern besprechen", sagt sie. Aber längst hat sie sich entschieden. Sie weiß, dass der Preis hoch ist, dass die Augen ihrer Töchter vermutlich bald so schlecht sein werden, dass sie nicht mehr werden lesen können. Jeder Teppich wird ihnen die Fähigkeit, die ihnen die Schule gab, etwas mehr nehmen. Masouma hält Hadschi nur ein bisschen hin, in der Hoffnung, einen besseren Lohn auszuhandeln. Am Ende wird sie doch zustimmen: Bald werden sich Saliha und Rahima wieder an den Webrahmen setzen, und sie werden knüpfen.
Wer den Teppich der Schwestern später einmal kauft, im fernen Europa, ihn achtlos betritt, tagaus, tagein, der möge daran denken, wer ihn geschaffen hat. Der möge diese Millionen kleiner Knoten fühlen, wenn er mit der Hand über ihn streicht, die nichts Geringeres sind als das Leben von Saliha und Rahima – von der die eine Ärztin werden wollte und die andere davon träumte, eine gute Lehrerin zu sein.

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