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Grün getarnt

Die Organisation, die weltweit den Erfolg von Unternehmen sichert, ist nicht weltberühmt. Sie sitzt in einer sterilen Büroanlage im Zentrum von Washington, D. C., in der nicht einmal der Pförtner ihren Namen kennt.
»V-E-R-R-A?«
Er blättert durch die Mieterliste. »Unit 1050, zehnter Stock.«
Nichts an dem kahlen Flur im zehnten Stock sieht aus, als betrete man hier das Reich einer NGO, die über einen milliardenschweren Markt herrscht. Dabei setzen Manager von Konzernen aus der ganzen Welt auf die Menschen aus Unit 1050: Gazprom in Russland, Apple in den USA, Volkswagen in Deutschland.
Die Organisation behauptet, mit dem Geld der Konzerne bekämpfe sie die Klimakrise. Ihr Versprechen lautet: Jede Tonne CO₂, die die Unternehmen nicht einsparen, sparen andere für sie ein. In Zeiten, in denen Manager und Vorstände Klimaziele ausrufen, ist das ein verlockendes Angebot. Unternehmen können dafür zahlen, dass irgendwo auf der Welt ein Klimaschutzprojekt die Emissionen einspart, die sie ausstoßen, indem sie Gas fördern, Autos bauen, Computer herstellen. Jede Tonne CO₂ wird als Zertifikat verkauft.
Auf dem Papier ist das ein Deal, bei dem alle gewinnen. Denn der Atmosphäre ist es egal, ob auf dem Werksgelände von Volkswagen die Emissionen zurückgehen oder in einem Wald in Simbabwe. Hauptsache, sie gehen zurück.
Es muss bloß jemand garantieren, dass das CO₂ auch wirklich eingespart wird.
Deshalb gibt es die Menschen aus Unit 1050. Sie arbeiten für den weltweit führenden Zertifizierer von CO₂-Kompensationen, Verra. 75 Prozent aller Emissionen auf dem freiwilligen – also nicht staatlichen – Kompensationsmarkt, um den es hier geht, werden unter ihrer Aufsicht eingespart. Sie machen die Regeln. Sie machen aus Unternehmen, die dem Klima schaden, Unternehmen, die nachhaltig wirtschaften.
An dem Deal sind vier Parteien beteiligt. Da sind, erstens, die Käufer von CO₂-Zertifikaten, Unternehmen wie Volkswagen, die sich von ihrer eigenen Verschmutzung freikaufen wollen. Da sind, zweitens, die Händler, meistens Start-ups oder Beraterfirmen, die die Zertifikate vermitteln und verkaufen und damit viel Geld verdienen. Drittens die Projektbetreiber, die dafür sorgen, dass überhaupt Zertifikate auf den Markt kommen – indem CO₂ eingespart wird, weil zum Beispiel ein Stück Regenwald nicht wie geplant abgeholzt wird. Auch die Projektbetreiber verdienen an dem Deal. Und viertens, über allen stehend, gibt es die Zertifizierer, die entscheiden, wie viele Zertifikate sich die Projekte anrechnen dürfen. In drei von vier Fällen weltweit übernimmt diese Aufgabe die Organisation Verra. Sie hat eine Aufsichtsfunktion, aber sie ist keine Behörde. Sie trägt die Verantwortung dafür, dass nur dann ein Zertifikat ausgegeben wird, wenn tatsächlich CO₂ eingespart wird.
Tausende Unternehmen weltweit können ihretwegen seit Jahren große und kleine Klima-Erfolge verkünden. Der Walt-Disney-Konzern zum Beispiel schwärmt, er habe seine Emissionen seit 2012 halbiert.
Audi feiert die Entwicklung seiner ersten CO₂-neutralen E-Autos.
Gucci verkündet, vollständig klimaneutral zu operieren.
McKinsey, Netflix, Zalando auch.
So viel Fortschritt. So viel Erfolg, überall.
Was, wenn vieles davon gar nicht echt ist?

Kapitel I
Ein Mann hat einen Verdacht

Auf einem Flugfeld nördlich von Seattle im US-Bundesstaat Washington steigt an einem Herbsttag ein junger Mann in eine Propellermaschine. Er will zeigen, warum er gegen die Menschen aus Unit 1050 antritt. Dünne Wolkenschleier liegen über der Start- und Landebahn, auf die er sein Kleinflugzeug steuert. »N7303, wohin fliegen Sie?«, funkt der Lotse. »Nationalpark«, antwortet Elias Ayrey aus dem Cockpit.
Er zieht seine Maschine hoch, langsam steigt sie dröhnend über dem Pazifischen Ozean auf. Vor ihm liegen eisbedeckte Gletscher, Berge und kilometerweiter Regenwald, einer der größten Nordamerikas. »Spektakulär, oder?«
Ayrey ist 32 Jahre alt und Ökologe. Er ist besessen von Wäldern. An Wochenenden fliegt er gern wie jetzt als Hobbypilot mit seiner alten Maschine über die Wälder von Washington, einfach, um sie zu bestaunen.
Er lässt seine Maschine wenige Hundert Meter über dem Regenwald schweben, lenkt sie über hochragende Bäume, zeigt auf weites Grün. Wälder zu erhalten, das ist seine Mission, und deshalb ist er nicht nur ergriffen von der Schönheit der Natur, die sich unter ihm ausbreitet. Er ist auch wütend.
Bis vor Kurzem hat er für ein Start-up aus San Francisco gearbeitet, das Firmen anbietet, die vertrauenswürdigsten Zertifikate aus Waldschutzprojekten zu finden. Viele der Projekte, die er zu beurteilen hatte, wurden von Verra zertifiziert.
Verra hat die Aufsicht über verschiedenste Zertifikate – solche für Solaranlagen und solche für Wasserkraft. Die meisten, die weltweit unter der Aufsicht der Organisation entstehen, kommen aber aus dem Schutz von Wäldern – 40 Prozent. Wer das zum ersten Mal hört, mag denken: Irgendwo auf der Welt pflanzt jemand Bäume. So ist es aber nicht. Die Projektbetreiber versprechen, dass bestehende Wälder stehen bleiben. Elias Ayrey sollte für das Start-up die Angaben der Projekte bewerten. Eine Arbeit, die nicht oben in der Luft stattfand, sondern am Boden, am Computer. Er sichtete Satellitendaten. Er sollte die guten Projekte von den schlechten trennen.
Als er zum ersten Mal über ein Projekt stolperte, dessen Macher angaben, viel mehr CO₂ einzusparen, als es ihm realistisch schien, dachte Ayrey: gut, kann passieren. Dann stieß er auf noch eins, wieder auf eins, auf immer mehr Waldprojekte, deren Zahlen ihm alles andere als glaubwürdig erschienen. Dabei waren die meisten vom renommierten Marktführer Verra zertifiziert.
Wieder am Boden, erzählt Ayrey, wie er die Angaben der Projekte nachrechnete. Dabei, sagt er, sei ihm klar geworden, dass Verra ein System geschaffen habe, »in dem systematisch manipuliert« werde. »Es ist wie beim Doping«, sagt Ayrey. »Drei Leute dopen, deshalb müssen alle dopen. Und jeder weiß Bescheid.«
Elias Ayrey ist einer der wenigen Menschen aus dem System, die bereit sind, von der anderen Seite der Klima-Erfolge zu erzählen. Der Seite, auf der gute Absichten verloren gehen, auf der es abgründig wird. Auf der sich die Interessen eines Marktes verselbstständigt haben, dessen Akteure fernab staatlicher Aufsicht das Klima zu retten vorgeben – und nicht nur bei dieser Rettung versagen, sondern womöglich vieles noch schlimmer machen. Weil sie dem Klima zusätzlich schaden könnten.
Wie die gemeinsamen Recherchen [von Medium], [anderem Medium] und des britischen Reporterpools SourceMaterial zeigen, wurden über Jahre offenbar Millionen CO₂-Zertifikate verkauft, die es nicht hätte geben dürfen. Die Recherchen legen nahe, dass zahlreiche Waldschutzprojekte ihre Kompensation um ein Vielfaches überbewerten, weil die Regeln des wichtigsten Zertifizierers auf dem Markt das zulassen – und die Aufsicht versagt.
[Das Medium] ist für diese Recherche in die Niederlande, die USA und nach Peru gereist und hat mit Dutzenden Wissenschaftlern und Branchen-Insidern über die Missstände im System gesprochen. In der Vergangenheit waren bereits Zweifel an einzelnen Waldschutzprojekten laut geworden. Wie groß das Ausmaß ist, zeigen nun erstmals zwei Studien, deren Daten [das Medium] exklusiv ausgewertet hat. Ein weltweites Forschungsteam hat 29 der 87 Waldschutzprojekte untersucht, die aktuell von Verra zertifiziert sind. Die Auswertung legt nahe, dass über 90 Prozent aller Zertifikate daraus wertlos sind.
Ein Haufen Schrott.
89 Millionen Tonnen CO₂ sind demnach als Geister-Zertifikate auf dem Kompensationsmarkt gelandet, das entspricht dem jährlichen Ausstoß von Griechenland und der Schweiz zusammen. Unternehmen weltweit sind betroffen, darunter Shell, Gucci, Disney und Boeing, auch mehrere Dax-Konzerne wie SAP und Bayer. Und die 89 Millionen Tonnen beziehen sich nur auf das untersuchte Drittel der von Verra zertifizierten Projekte. Das wahre Ausmaß der ungedeckten Zertifikate dürfte also noch höher sein.
Der Skandal fällt in eine Zeit, in der händeringend nach Auswegen aus der Klimakrise gesucht wird, in der viele Unternehmen auf Kompensation setzen. Allein der Shell-Konzern plant, von 2030 an jedes Jahr 120 Millionen Zertifikate vom freiwilligen Markt zu kaufen. Auch Verbraucher haben bislang geglaubt, beim Kauf von angeblich klimaneutralen Produkten – Geschirr, Wein, Bodylotion – etwas Gutes zu tun. Was in vielen Fällen nicht der Fall war.
Denn jedes Mal, wenn sich ein Unternehmen mit einem Schrottzertifikat freigekauft hat, gab es keinen Ausgleich. Im Gegenteil: Teilweise stiegen die Emissionen der Unternehmen sogar. Weil ein Zertifikat auch ein Freifahrtschein sein kann, mehr auszustoßen als zuvor. Und so kommt es, dass eine misslungene Kompensation nicht nur eine verpasste Chance ist, das Klima zu retten, sondern das Klimaproblem sogar noch verschärfen kann.
Dass es so weit kommen konnte, hat mit einem System voller Interessenkonflikte zu tun, in dessen Zentrum die Menschen von Verra sitzen.
Elias Ayrey ist ein Doktorand der University of Maine an der US-Ostküste, als er auf das Start-up Pachama aufmerksam wird. Gerade hat er für seine Promotion den Kohlenstoffgehalt von Wäldern bemessen. Es ist 2019, die Zeit, in der Greta Thunberg weltberühmt wird und immer mehr Unternehmen freiwillige Kompensationen nutzen. Freiwillig – das klingt, als täten die Unternehmen das, weil sie es wollten, aus ethischen Gründen. Doch viele Investoren und Verbraucher fordern eine Wende. Die Unternehmen setzen sich nun Klimaziele, wollen ihr Engagement zeigen. Nur welche Klimaschutzprojekte sollen sie fördern? Was ist seriös, wer hilft wirklich?
Das aufstrebende Start-up Pachama macht die Unsicherheit zur Grundlage seines Geschäfts. Es erhält Millionen Dollar von Investoren wie der früheren US-Tennisspielerin Serena Williams oder dem Microsoft-Gründer Bill Gates. Ob Ayrey dabei sein wolle, als leitender Wissenschaftler?
Er zieht nach Kalifornien, »an einen fürchterlichen Ort für Ökologen«, wie er sagt, so trocken und dreckig, verqualmt von Waldbränden. Wie jedes Start-up steht Pachama von Beginn an unter Druck. Es verspricht, seinen Kunden, darunter Netflix und Amazon, die besten Waldschutz-Zertifikate auf dem Markt zu verkaufen. Nur was, wenn die Wissenschaftler im Team wenige gute Zertifikate finden? Ayrey sagt, es habe bei Pachama oft Auseinandersetzungen gegeben: Bist du sicher, dass das Projekt schlecht ist? Können wir das wirklich nicht verkaufen?
Die Projekte, die durch Ayreys Prüfung fielen, hätten entweder angegeben, wesentlich mehr CO₂ einzusparen, als es für das betreffende Waldgebiet realistisch schien, sagt er, oder sie hätten unterschlagen, dass Teile des Waldgebiets gar nicht verschont, sondern zerstört wurden. Sein Arbeitgeber Pachama habe damals trotzdem weiter Zertifikate aus fragwürdigen Projekten verkauft, erinnert sich Ayrey. Das Start-up bestreitet das auf Anfrage nicht und schreibt, man diskutiere »auf gesunde und manchmal langwierige Weise« über Projekte.
Nach zwei Jahren und etwa hundert geprüften Projekten kündigt Ayrey. »Ich wusste, dass ich das, was ich über die Projekte herausgefunden hatte, öffentlich machen muss«, sagt er. Er gründet einen YouTube-Kanal und versucht, den Missstand, den er entdeckt hat, der Welt bekannt zu machen. »21 Wege, wie Kohlenstoffprojekte betrügen!«, heißt eines seiner Videos, hochgeladen im Sommer 2022.
Es hat bis heute nur 1326 Klicks.
Ayrey hat mittlerweile ein eigenes Start-up gegründet, das ebenfalls Projekte bewertet – und die Ergebnisse danach veröffentlicht.
Dass sich seine Erkenntnisse nicht so leicht verbreiten lassen, liegt daran, dass die Sache kompliziert ist. Um sagen zu können, wie viel CO₂ ein Stück Wald bindet, braucht es aufwendige Berechnungen, oft sind sie Hunderte Seiten lang. Diese Berechnungen liegen öffentlich auf dem Server von Verra. Der Missstand wird also nicht versteckt. Er verbirgt sich nur hinter Dokumenten, die kaum jemand versteht. Einige Experten glauben, dass das System auch deshalb so lange verschont blieb, weil es die Öffentlichkeit auf diese Art ausschließen konnte.

Kapitel II
Bäume für die CEOs

Es klingt erst mal einfach: Solange Wälder intakt sind, ziehen sie CO₂ aus der Atmosphäre und speichern es. Jede Tonne, die in einem Wald gebunden ist, ist eine Tonne, die nicht zur Klimakrise beiträgt. Wenn man also den Schutz der Wälder finanziell attraktiver macht als ihre Zerstörung, dann wird dem Klima geholfen. Nur wie überzeugt man Unternehmen, freiwillig in Wälder zu investieren? Auf dieser Idee basiert die Kompensation: Wer zahlt, bekommt im Gegenzug das eingesparte CO₂ gutgeschrieben.
Damit der Tausch funktioniert, müssen die Wälder allerdings viele Jahrzehnte intakt bleiben. Bäume können abgeholzt, von Stürmen oder Bränden zerstört werden. Dann entweicht der Kohlenstoff zurück in die Atmosphäre. Und dem Klima war nie geholfen.
CO₂-Emissionen durch den Schutz von Wäldern zu kompensieren birgt also im Kern ein Risiko. Das US-Investigativmedium ProPublica nannte das Geschäft einmal »die kulanteste Kreditkarte der Welt«. Der Käufer erhalte den gesamten Nutzen im Voraus, während es ein Jahrhundert dauere, bis die Schulden vollständig zurückgezahlt seien.
Hinzu kommt: Jedes Kompensationsprojekt muss nachweisen, dass das CO₂ ohne den Schutz sicher ausgestoßen worden wäre. Also: dass jemand den Wald zerstört hätte, wenn er nicht durch den Kauf von Zertifikaten gerettet worden wäre. Nur: Wie will man das beweisen?
Wegen solcher und weiterer ungeklärter Fragen entschieden die UN schon im Kyoto-Protokoll 1997, den Schutz von Wäldern nicht in ihr staatliches Kompensationsprogramm aufzunehmen, das es den Industrienationen erlauben würde, ihren Ausstoß über Projekte in Drittländern zu kompensieren. Auch ein weiteres Programm namens »Gold Standard«, das mehrere NGOs wie der WWF 2003 auf den Markt brachten, schloss solche Projekte kategorisch aus. Sie konzentrierten sich auf Solaranlagen, auf Baumpflanzungen. Nur nicht auf den Schutz bestehender Wälder. Zu riskant – darauf konnten sich viele trotz intensiver Debatte einigen.
Einige Interessenvertreter aus der Wirtschaft sahen das anders. Sie beschlossen 2006, ihren eigenen Standard zu etablieren, er sollte flexibler und pragmatischer sein und schon wenige Jahre später zum Marktführer auf dem freiwilligen Markt werden. Zu den Gründern zählten das Weltwirtschaftsforum in Davos und die Climate Group, ein globaler Zusammenschluss von Politikern und Unternehmen wie BP, Starbucks und Allianz. Außerdem war der internationale Wirtschaftsrat WBCSD dabei, dessen Co-Vorsitz zu der Zeit der CEO von Shell innehatte. Und schließlich noch die IETA, die größte Lobby-Gruppe für den Emissionshandel, zu deren Mitgliedern die Deutsche Bank und RWE zählten.
Sie alle also schufen Verra.
Und sie entschieden, auch den Schutz von Wäldern als Kompensation zu erlauben.
Heute, fünfzehn Jahre später, kompensieren die größten Unternehmen der Welt über den Waldschutz. Und noch heute haben die Menschen aus Unit 1050 eine große Nähe zur Industrie: Allein in den Berater- und Interessengremien von Verra sitzen laut Website drei Manager des Mineralölkonzerns Shell, auch Mitarbeiter des Pharmariesen Bayer, des Lebensmittelherstellers Danone und des Online-Händlers Amazon. Der ehemalige Programmdirektor von Verra ist heute Manager bei Shell.

Kapitel III
Die Lücke im System

Warme, feuchte Luft liegt über dem Norden von Peru. Im Bundesstaat San Martin, nicht weit von den Ausläufern der Anden, erstreckt sich dichter Regenwald. 182.000 Hektar groß ist das Schutzgebiet Alto Mayo, mit dem Unternehmen wie Disney, Gucci und die US-Bank J. P. Morgan ihre Emissionen kompensieren. Seit 2012 sind 7,5 Millionen Zertifikate für dieses Gebiet ausgegeben worden. Die Projektbetreiber – die US-amerikanische NGO Conservation International und die peruanische Naturschutzbehörde – haben mehr als 30 Millionen Dollar eingenommen.
Vor seiner Hütte im Regenwald geht Norbil Becerra durch einen tropischen Garten, Wind weht durch das hochragende Blätterdach. Becerra wohnt seit mehr als zwanzig Jahren in San Martin. Er baut Kaffee und Vanille an. Und er musste den Betreibern des Alto-Mayo-Projekts ein Versprechen geben: Er, Norbil Becerra, werde im geschützten Wald kein Holz mehr schlagen.
Becerra ist ein kleiner Bauer, er rodet keine Wälder in großem Stil. Nur ab und an, sagt er, habe er hier früher einige Bäume gefällt, um damit Geld zu verdienen. Die Existenz dieses Stücks Regenwald hat er nie bedroht.
Als die Projektbetreiber nach Alto Mayo kamen, argumentierten sie: Der Wald wird zerstört, wenn wir nicht eingreifen. Sie meldeten das Kompensationsprojekt bei Verra an und legten eine kuriose Rechnung vor: Eine halbe Million Tonnen CO₂ werde ihr Projekt jährlich einsparen, so viel wie TUI jährlich mit seinen Kreuzfahrtschiffen verursacht. Auf die Zahl kamen sie, indem sie schätzten, wie viel Wald Norbil Becerra und die anderen Bauern wohl in den nächsten Jahren schlagen würden.
Jedes Waldschutzprojekt beruht auf einer Spekulation über die Zukunft. Und jedes Projekt birgt einen natürlichen Anreiz, falsch zu spekulieren: Denn je mehr Abholzung ein Projektbetreiber in seinem Wald erwartet, desto mehr Zertifikate kann er produzieren. Je düsterer seine Prognose, desto mehr Geld kann er also verdienen.
Die Regeln sehen vor, dass ein Projektbetreiber ein Vergleichsgebiet suchen muss, das dem Gebiet, für das er Zertifikate produzieren will, stark ähnelt. Wie viel Wald ist dort in den vergangenen Jahren durchschnittlich zerstört worden? An dieser Zahl soll sich die Prognose orientieren. Die Projektbetreiber in Alto Mayo behaupteten nun, in den nächsten 60 Jahren würden 60 Prozent des Regenwaldes zerstört werden. Die Zahlen lagen laut Projektdokument viermal höher als in dem Vergleichsgebiet gleich nebenan. Doch selbst diese starke Abweichung fiel noch in den Bereich des Zulässigen.
Niemand schritt ein.
Das System, wie über Wälder CO₂ kompensiert wird, ist auch gar nicht darauf angelegt, dass jemand einschreitet: Die Projektbetreiber rechnen zwar nach den Regeln von Verra aus, wie viel ihr Projekt einspart. Sie müssen ihre Rechnung zur Prüfung dann aber nicht Verra vorlegen, sondern einer Prüfgesellschaft, beispielsweise dem TÜV. Auch dieser prüft dann nur, ob die Regeln richtig angewandt wurden. Nicht, ob sie sinnvoll sind.
Der US-amerikanische Ökologe Kyle Holland, der grundlegende Regeln von Verra mitentwickelt hat, sagt: »Es ist verlockend, die Flexibilität der Regeln zu missbrauchen, um die Prognosen aufzublähen.«
[Das Medium] konnte zahlreiche Lücken in den Regeln von Verra finden: In den Dokumenten der Organisation tauchen etliche fragwürdige Angaben von Projektbetreibern auf, kuriose Rechnungen und Bluffs, die zeigen, wie beliebig die Verkaufszahl von Zertifikaten sein kann.
Da ist zum Beispiel das »Brazil Nut«-Projekt im Südosten Perus, von dem zuletzt der deutsche Lebensmittelhändler Rewe Zertifikate erwarb. Die Projektbetreiber wählten für ihre Prognose ein Vergleichsgebiet aus, das mit ihrem Gebiet nicht viel gemein hatte: Goldgräber und Holzfäller hatten dort massiv gerodet. Die Betreiber übernahmen nun diese Daten für ihren Wald und kamen so auf ihr eigenes Horror-Szenario. Ein Szenario, das ihnen Millionen Dollar einbrachte.
Oder »Kariba« im afrikanischen Simbabwe, eines der größten Kompensationsprojekte der Welt, das vom Schweizer Unternehmen South Pole betrieben wird. Volkswagen, Nespresso und EY haben dort Zertifikate gekauft, die gesamte Klimaneutralität von Gucci beruht derzeit auf dem Projekt. Es basiert auf einer spektakulären Vorhersage: dass ein Waldgebiet, dreimal so groß wie das Saarland, innerhalb der nächsten 30 Jahre durch Bauern vollständig zerstört wird – und das, obwohl die Entwaldung in der Gegend laut Satellitendaten bis dahin relativ gering war.
In einem Dokument aus dem Jahr 2012 gab der Betreiber South Pole an, das Projekt werde 1,7 Millionen Tonnen CO₂ pro Jahr einsparen. Ein Jahr später änderte er seine Rechnung, nun waren es 6,6 Millionen Tonnen. An der Prognose hatte sich nichts geändert, allein an der Art, wie der Projektbetreiber gerechnet hatte. South Pole sagt auf Anfrage, Verra habe diese neue Berechnung verlangt. Man habe im Durchschnitt aber nur 3,6 Millionen Zertifikate im Jahr ausgestellt.
Je mehr Projekte man sichtet, desto offensichtlicher wird: Das Problem sind die Regeln von Verra. Biegt einer sie zurecht, biegen alle sie zurecht. Bei diesen Regeln handelt es sich nicht um Spielregeln, nach denen ein Markt funktioniert. Sie sind das Produkt selbst. Ohne sie ist ein Wald nur ein Wald. Mit ihnen ist ein Wald eine Zertifikate-Maschine, die all jene reich macht, die den angeblichen Klimaschutz an Konzerne verkaufen, die so ihre CO₂-Bilanz kleinrechnen.
Wie kann es also sein, dass die Regeln so durchlässig sind?

Kapitel IV
Im Rausch der Interessen

Als Verra im Jahr 2007 gegründet wurde, war die Öffentlichkeit eingeladen, Vorschläge zu machen, wie Zertifikate aus dem Schutz von Wäldern berechnet werden sollten. Wenig überraschend kamen die Vorschläge vor allem von jenen, die an der Auslegung der Regeln ein großes Interesse hatten: von NGOs, Projektbetreibern und Käufern. Insgesamt entstanden unter Verra über die Jahre mehrere komplexe Regelwerke für den Schutz von bestehenden Wäldern – mit jeweils unterschiedlichen Rechen-Ansätzen.
So kommt es auch, dass ein Regelwerk vom Mineralölkonzern Shell mitentwickelt wurde. Es trägt den kryptischen Namen VM0004 und ist die Grundlage für das größte Waldschutzprojekt, das von Verra zertifiziert wurde: »Rimba Raya« in Indonesien. Allein die Automobilhersteller Audi und VW haben daraus mehr als 3,5 Millionen Zertifikate erworben, der Münchner Allianz-Konzern knapp unter einer Million.
Bis heute können Projektbetreiber frei wählen, welchem der verschiedenen Regelwerke sie folgen. Je nach Gegebenheit kann das eine oder andere attraktiver erscheinen. Das beliebteste unter ihnen trägt den Namen VM0007. Es sieht unter anderem vor, dass ein Waldbesitzer lediglich die Absicht haben muss, einen Wald zu roden, um Zertifikate zu generieren, wenn er es nicht tut. Bloß: Wie geht man da sicher, dass jemand nicht blufft und bloß mit der Kettensäge knattert?
Nach der Einführung von VM0007 dauerte es nicht lange, bis es schiefging.
Tief im peruanischen Dschungel gab es mal ein kleines Öko-Hotel namens Yacumama, erreichbar nur über einen Fluss. Das Hotel soll lange »reibungslos« gelaufen sein, so geht die Geschichte, die sich aus den Projektdokumenten rekonstruieren lässt. Doch dann bekamen die Hotelbetreiber finanzielle Sorgen. Sie kamen zu dem Entschluss, dass sie das Anwesen nur erhalten könnten, wenn daneben »groß angelegter Holzeinschlag« durchgeführt werde. Da hätten sie plötzlich von der Idee der Zertifikate gehört. Die Hoteliers wählten nun das Regelwerk VM0007 und behaupteten, dass sie ohne ein Kompensationsprojekt mit »hoher Wahrscheinlichkeit« alles Holz auf ihrem Land bis tief in den Dschungel entfernen würden, um von den Einnahmen ihre Pleite abzuwenden.
Es gab damals und gibt noch heute weit und breit keine Straßen rund um das Öko-Hotel, nur einen mäandernden Fluss. Mitten aus diesem tiefen Dschungel hätte man das viele Holz nicht einfach abtransportieren können. Elias Ayrey, der Ökologe, sagt, er sei entsetzt gewesen, als er das Projekt entdeckt habe: industrieller Holzschlag, durchgeführt von einem Hotelbetreiber? Für wen klingt das plausibel? Auf Anfrage schildert der ehemalige Hotelbetreiber aus Peru eine wieder andere Geschichte: Er hätte das Gebiet ohne das Projekt aus finanziellen Gründen verkaufen müssen, und dann, so deutet er an, wäre gerodet worden.
So eine Geschichte reicht also für über 80.000 Zertifikate?

Kapitel V
Ein Haufen Schrott

Amsterdam an einem trüben Herbsttag. In einem Glasturm, der zur Freien Universität Amsterdam gehört, führt der Assistenzprofessor Thales West über den Flur. Er ist einer der wenigen Wissenschaftler weltweit, die zu Wäldern auf dem freiwilligen Kompensationsmarkt forschen. Und er hat jene Gruppe von Wissenschaftlern angeführt, die zuletzt 29 der weltweit 87 aktiven Waldschutzprojekte von Verra untersucht hat. West wählte die Projekte nach drei Kriterien aus: Sie mussten alle in den Tropen und in verschiedenen Ländern liegen, und es musste genug Daten über sie geben.
Seine Frage: Stimmten die Prognosen der Projektbetreiber?
West hat einen Algorithmus entwickelt, der anhand von 13 Kriterien automatisch die ähnlichsten Gebiete im Land des jeweiligen Projekts sucht und so ein künstliches Vergleichsgebiet erstellt. Auf diese Weise fand er heraus, dass die Horrorszenarien, die die Projektbetreiber gezeichnet haben, fast nirgendwo eingetreten waren, dass also die Projekte deutlich weniger CO₂ eingespart haben als behauptet. Nur eines war unterbewertet.
[Das Medium], [anderes Medium] und SourceMaterial haben recherchiert, wie viele Zertifikate die untersuchten Projekte bislang Verra zufolge auf den Markt gebracht haben, und die Angaben mit Wests Zahlen verglichen. Die Unterschiede sind gewaltig: 94 Prozent der Zertifikate dürften demnach wertlos sein, knapp 89 Millionen Tonnen CO₂, die gar nicht eingespart wurden.
Thales West ist nicht der einzige Forscher, der zu diesem Schluss kommt. An der britischen Universität Cambridge hat ein Team um den Forstwissenschaftler Alejandro Guizar Coutiño im vergangenen Jahr ebenfalls 40 Waldschutzprojekte von Verra untersucht. Anders als West suchte er mit seinem Algorithmus nach Mini-Vergleichsgebieten, 30 mal 30 Meter groß.
Verra feierte das Ergebnis von Guizar Coutiños Studie als Beweis für den eigenen Erfolg. Die Entwaldung in den Projekten sei insgesamt um 47 Prozent zurückgegangen. Doch es waren vor allem drei Projekte, die den Durchschnitt in die Höhe zogen. Bei den anderen Projekten zeigte eine Auswertung, dass die Gefahr für die Wälder im Schnitt um rund das Zehnfache übertrieben wurde.
[Das Medium], [anderes Medium] und SourceMaterial haben die Ergebnisse ihres Abgleichs mehreren Wissenschaftlern vorgelegt, darunter dem renommierten Ökowissenschaftler Yadvinder Malhi von der Universität Oxford, der seine Studierenden bat, die Analyse zu prüfen. Sie hätten keine Fehler gefunden, sagt er. Die Ergebnisse zeigten, dass die Projekte ihren Nutzen für das Klima »weit überschätzt« hätten. Auch West und Guizar Coutiño stimmten überein, dass es erhebliche Diskrepanzen zwischen ihren Ergebnissen und den von Verra autorisierten Zahlen gibt.
Natürlich arbeiten auch West und Guizar Coutiño mit hypothetischen Szenarien, um die Prognosen der Projekte zu bewerten. Und natürlich sind ihre Studien nur ein Ansatz, diese zu bemessen. Doch egal, wer sich die Versprechen der Projekte anschaut, der Ökologe Elias Ayrey, die Forscher Thales West und Alejandro Guizar Coutiño, sie alle ziehen den gleichen Schluss: Zahlreiche Waldschutzprojekte, die von Verra zertifiziert wurden, sind systematisch überschätzt.
Es sind nicht nur die Daten der Wissenschaftler, die das nahelegen, es sind auch die Gespräche mit Menschen, die das System groß gemacht haben – und die offenlegen, dass der Missstand in der Branche seit Jahren bekannt ist.

Kapitel VI
Ein offenes Geheimnis

Es gibt ein Sprichwort, das auf dem Kompensationsmarkt zur Phrase geworden ist: Bitte nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Also: Bitte nicht wegen einiger Schwächen Systemkritik üben. Die Zertifikate hätten wichtiges Geld in den Erhalt von Wäldern geleitet, das von den Regierungen nicht kommen würde – was stimmt.
Es macht bloß die Probleme des Systems nicht kleiner.
Auf die Phrase vom Kind und dem Bade folgt dann oft eine radikale Offenheit. Einige Experten auf dem Markt sprechen mit einer Selbstverständlichkeit über dessen Schwächen, als wären diese nichts Besonderes. Als wüsste man das alles doch längst. Es ist eine Branche, in der für viele der Missstand zur Normalität geworden ist.
Nur mit ihren Worten zitiert werden, das wollten viele der Experten bislang nicht.
Nun allerdings wenden sich in Gesprächen mit [dem Medium], [anderem Medium] und SourceMaterial erstmals mehrere von ihnen öffentlich gegen Verra, indem sie Probleme einräumen. Darunter auch Menschen, die das System mit aufgebaut haben.
Der Ökologe Lucio Pedroni, der seit Jahren Verra berät und eines der zentralen Regelwerke verfasst hat, sagt: »Leider wurde das System, das Verra aufgebaut hat, von einigen missbraucht, was bei einigen Projekten zu überhöhten Prognosen geführt hat.«
Oder Charlotte Streck, eine Potsdamer Honorarprofessorin und Klimaberaterin, die von 2019 bis 2021 im Vorstand von Verra saß und das Regelwerk VM0007 mitentwickelt hat, das auch von besagtem Öko-Hotel genutzt wurde. Sie erklärt bei einem Mittagessen in Berlin, dass zahlreiche Klima-Aussagen von Unternehmen nicht von realen Einsparungen gedeckt seien. Die Berechnungen, wie viel CO₂ ein Wald einspare, ließen sich so verzerren, dass Projekte »mehr Zertifikate erhalten, als sie sollten«. Und weiter: Wenn Unternehmen darauf vertrauen wollen, dass ihre Klima-Aussagen gesichert seien, sollten sie mehr Zertifikate kaufen, als ihnen offiziell zugewiesen würden. Streck sieht die Verantwortung bei Verra. »Man hätte das früher erkennen können«, sagt sie. »Man war im System auch selbstgefällig.«
Obwohl Streck die Probleme einräumt, hat ihre Klima-Beratungsfirma Climate Focus für das Regelwerk VM0007 in den vergangenen Jahren laut Steuerunterlagen eine Million Dollar Lizenzgebühr erhalten, nach Berechnungen [des Mediums] könnten es mittlerweile insgesamt sogar zwei Millionen sein. Auf Anfrage sagt Streck dazu, ihre Firma gebe heute einen großen Anteil der Einnahmen an NGOs weiter, aber natürlich habe die Firma profitiert.
Auch Lambert Schneider vom Öko-Institut, der in einer Beratergruppe von Verra sitzt, sagt: »Verra weiß genau, dass manche der Zertifikate fragwürdige Qualität haben.« Er glaubt, es gehe für viele auf dem Markt darum, eine Geschichte aufrechtzuerhalten. »Nach dem Motto: ›Wenn wir jetzt sagen, dass viele Zertifikate Schrott sind, kaufen Unternehmen keine mehr, und das bringt dem Klima auch nichts‹.«
Könnte das sein? Könnten die Menschen bei Verra um den Missstand wissen?
Der kahle Gang im zehnten Stock in Washington, D. C., führt in ein Büroreich, das einer schnöden deutschen Behörde gleicht. David Antonioli, Geschäftsführer von Verra, empfängt in einem bescheidenen Büro, in dem es bloß einen Tisch und ein paar Stühle gibt. Seit der Gründung der NGO steht er an ihrer Spitze, allein im vergangenen Jahr konnte er ihren Umsatz von 20 auf 40 Millionen Dollar verdoppeln.
Der Pressesprecher ist zugeschaltet. Schon vor dem Besuch schrieb er eine nervöse Mail, danach werden weitere folgen. Einmal bittet er, man müsse verzeihen, wenn sein Schreiben wie ein ungeordneter Gedankenstrom wirke. Ein anderes Mal heißt es: Sollten Aussagen seines Chefs einmal dem zuwiderlaufen, was er als Sprecher sage, dann unbedingt dem Chef folgen.
Also gut.
Der Chef sagt: »In einer perfekten Welt gäbe es uns nicht. In einer perfekten Welt hätten die Regierungen den Klimawandel im Griff und die Unternehmen nicht das Gefühl, dass sie etwas dagegen tun müssten.«
Der Chef sagt, die Regelwerke hätten sich bei ihrer Einführung an den besten wissenschaftlichen Praktiken orientiert. »Das soll nicht heißen, dass wir das perfekte Beispiel für die perfekte Vorgehensweise gefunden haben.« Seit vielen Monaten laufe ein Prozess, die Regelwerke der Waldschutzprojekte zu überarbeiten. Man plane einen einheitlichen Ansatz, der sich an den Prognosen der Regierungen orientiere. Für aktuelle Projekte solle dieser spätestens von 2025 an gelten. Gefragt, wie es dazu komme, sagt Antonioli: »Ich gebe zu, dass es ein Problem damit gibt, dass es sehr unterschiedliche Regelwerke gibt. Das schafft eine Menge Verwirrung.«
Konfrontiert mit dem Vorwurf, dass es eine Inflation der Zertifikate gebe, verteidigt sich Antonioli: »Leute sind zu uns gekommen und haben gesagt, dieses Projekt ist aufgebläht und jenes Projekt ist aufgebläht. Aber wenn man sich die Details ansieht, stellt man fest, dass es nicht wirklich so ist.«
Der Pressesprecher ruft von der Seite: »Wissen Sie, man stellt Regeln auf, die allgemein angewendet werden, und man weiß, dass sie insgesamt nicht alles richtig machen, dass sie bei einigen übertreiben und bei anderen untertreiben. Aber das gleicht sich aus.«
Ist das also das Versprechen für Unternehmen, die Verra-Zertifikate kaufen: dass ihr Zertifikat wertlos ist, aber das Zertifikat eines anderen Käufers dafür vielleicht überbewertet? Auf Nachfrage können weder Antonioli noch der Sprecher einen Beleg vorlegen, dass sich überbewertete und angeblich unterbewertete Projekte ausgleichen.
Immer wieder schließen Antonioli und sein Sprecher im Gespräch im Prinzip nicht aus, dass einige ihrer Waldschutzprojekte überschätzt sein könnten. Trotzdem sagt der Chef am Ende des Gesprächs, die Aufnahme läuft noch: »Wir haben Ihnen nicht gegeben, was Sie wollten. Wir haben nichts zugegeben.«
Mehrere Wochen nach dem Besuch in Washington, D. C., schickt [das Medium] Verra die Erkenntnisse aus den Studien von West und Guizar. Die Organisation weist die Zahlen zurück: Die Studien hätten zwar nützliche Daten geliefert, aber die Schlussfolgerungen seien »falsch«. Die Methoden der Wissenschaftler würden lokale Faktoren »nicht berücksichtigen«, was den Unterschied in den Zahlen erkläre. Verras Methoden würden sicherstellen, dass die Berechnungen konservativ seien.
Für die Mitarbeiter von Verra steht viel auf dem Spiel. Es geht um Macht – um zukünftige Macht vor allem.
Wenn man Axel Michaelowa glauben darf, einem langjährigen Experten für internationale Klimapolitik an der Universität Zürich, dann ist Verra gerade dabei, sich ein Imperium aufzubauen.
Es geht darum, nicht mehr nur den Markt der Unternehmen zu bedienen. Sondern einen viel größeren: den der Staaten.
Schon in der Vergangenheit konnten auch Industrieländer wie Deutschland und die USA Zertifikate kaufen, um ihre Emissionen zu reduzieren, allerdings nur aus Projekten, die die UN für die Staaten zugelassen haben. Dieses Programm läuft nun aus.
Stattdessen sieht das Pariser Klimaschutzabkommen von 2016 vor, dass Staaten künftig selbst entscheiden können, welche Zertifizierer sie zulassen. Die Länder könnten dann auch die Zertifikate von Verra zulassen. Der Einfluss auf die Regierungen sei schon jetzt stark, sagt der Experte Michaelowa.
Es gibt bereits zwei Länder, die Zertifikate von Verra staatlich anerkennen. In Kolumbien können Unternehmen schon heute Verra-Zertifikate auf die nationale CO₂-Steuer anrechnen. In Singapur soll das von 2024 an möglich sein.
Sollten die USA, einer der größten Klimasünder der Welt, in Zukunft auch auf Verra-Zertifikate setzen, würde die Organisation ungleich mächtiger, als sie es heute ist.
Die Menschen aus Unit 1050, in dem unscheinbaren Bürogebäude in Washington, D. C., sitzen für alles, was jetzt kommt, schon am richtigen Ort.
900 Meter vom Weißen Haus entfernt.

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