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Der Phönix aus Aschheim

In einem Münchner Vorort gestartet, wird Wirecard mit seinem Internet-Bezahlgeschäft zum Börsenliebling. Doch dann stürzt die Aktie dramatisch ab. Ein Wirtschaftskrimi über Hybris und Spekulantentum im Online-Zeitalter

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Wenn in Asien Neujahr gefeiert wird, verdienen die Deutschen kräftig mit. Familien in Singapur, Taiwan oder Hongkong decken ihre Tische zum Neumond bis zum Überborden mit gedünstetem Fisch, Reiskuchen, Teigtaschen und Mandarinen. Früher musste dafür tagelang gekocht werden, heute bestellen immer mehr Familien das Festessen einfach per App. Sie lassen es von Restaurants ins Haus liefern und zahlen digital, per Kreditkarte. So erübrigt sich das Hantieren mit Töpfen und Pfannen – und das mit Scheinen und Münzen.

Zahlen ohne Geld, im Netz oder via Smartphone, das ist das Geschäft von Wirecard. Kreditkarten, Girokarten, Prepaidkarten, Bezahlapps wie Apple Pay oder Boon: Wo immer Geld fließt, ohne dass es jemand in die Hand nehmen muss, sieht der Konzern in Aschheim bei München sein potenzielles Geschäft. Wirecard liefert den Händlern die Bezahl-Software, sorgt dafür, dass sie zügig ihre Erlöse ausgezahlt bekommen, übernimmt sogar das Risiko, dass ein Kunde nicht zahlt. Und kassiert dafür bei jeder Transaktion eine Gebühr. Die Marge mag winzig sein, die Masse verspricht ein attraktives Geschäft.

So macht Wirecard übers Jahr 1,4 Milliarden Euro Umsatz und Hunderte Millionen Euro Gewinn. Es könnte bald noch weit mehr werden, denn das bargeldlose Geschäft wächst weltweit. Besonders in Asien. Ob die Menschen online ein neues Paar Schuhe kaufen, im Supermarkt mit der Girokarte zahlen oder in der Garküche das Smartphone mit der Bezahl-App zücken: Anbieter wie Wirecard verdienen immer mit. So gut laufen die Geschäfte, dass das Unternehmen im vergangenen Herbst die altehrwürdige Commerzbank aus dem Dax, dem Index der größten deutschen Aktiengesellschaften, verdrängte. Wirecard ist die erfolgreichste deutsche Gründungsgeschichte des Computerzeitalters seit dem Softwareanbieter SAP.

Doch am 30. Januar 2019, wenige Tage bevor in Asien das Jahr des Schweins eingeläutet wird, endet bei Wirecard die Glückssträhne. In der Aschheimer Firmenzentrale, einem unscheinbaren Verwaltungsgebäude zwischen dem Münchner Messegelände, einem Kleingartenverein und dem Zubringer zur Passauer Autobahn, geht frühmorgens eine E-Mail ein. „Good morning, Iris“, schreibt ein Journalist der Financial Times an eine Sprecherin des Unternehmens. Der Reporter des britischen Wirtschaftsblatts lässt wissen, er habe recherchiert, dass ein hoher Manager von Wirecard in Transaktionen mit gefälschten Urkunden verstrickt sei, und bittet um Stellungnahme. Als der Artikel am Nachmittag erscheint, stürzt der Kurs der Wirecard-Aktie drastisch ab, zeitweise fällt er um fast 25 Prozent. Wer sein Geld in das zukunftsträchtige Unternehmen gesteckt hat, ist fast ein Viertel seiner Investition los, unter den Verlierern sind etliche Kleinanleger. Die Reaktion der Börse auf den Zeitungsartikel wirkt so maßlos, dass sich der Verdacht aufdrängt, Spekulanten hätten sich gegen Wirecard verschworen. So sieht man es auch bei der Börsenaufsicht in Frankfurt. Mitte Februar schränkt diese den Handel mit Wirecard-Aktien ein, die Staatsanwaltschaft München beginnt, wegen möglicher Marktmanipulation zu ermitteln.

Recherchen von [Medium] legen die Details dieses Wirtschaftskrimis offen, der viel verrät über spektakuläre Erfolgsgeschichten im Digitalzeitalter – und deren Tücken. Interne E-Mails und Chats erzählen, wie Wirecard vom Start-up im Münchner Speckgürtel atemberaubend schnell zum global agierenden Dax-Konzern aufstieg. Vielleicht zu schnell: Vor allem in Asien scheint die dortige Finanzabteilung die Kontrolle über die komplexen Geschäfte verloren und zudem zu mehr als unsauberen Methoden gegriffen zu haben.

Als ein Wirecard-Manager in Singapur unter den Verdacht gerät, die Bücher zu frisieren, kommt es zu einem folgenschweren Zerwürfnis zwischen der Konzernzentrale und Mitarbeitern, die vehement aufklären wollen. Später landen die Details nicht nur in der Presse, sondern offenbar auch bei Börsenspekulanten. Diese wetten auf einen Kurssturz der Wirecard-Aktie und wollen mit dem Wertverfall der Firma ihr eigenes lohnendes Geschäft betreiben.

Der Fall Wirecard wirft nun zwei große Fragen auf. Erstens: Wie schlimm sind die Verhältnisse im Asien-Geschäft wirklich? Während der Konzern beschwichtigt, offenbaren SZ-Recherchen Schlampereien und Versagen. Die Behörden in Singapur ermitteln gegen mehrere dortige Mitarbeiter und haben die örtliche Wirecard-Niederlassung mehrmals durchsucht. Zweitens: Reichen die Missstände, um den heftigen Kurssturz an der Börse zu erklären? In München geht die Staatsanwaltschaft jedenfalls dem Verdacht nach, dass kriminelle Spekulanten hier am Werk gewesen seien.

Im Digitalzeitalter können sich solche Fälle wiederholen, jederzeit. Aufstrebende Tech-Konzerne erzielen im Handumdrehen riesige Umsätze, können aber ebenso schnell das Geld ihrer Investoren verbrennen. So steht dann auch bei Wirecard über allem die Frage, wie viel Substanz das Geschäftsmodell beinhaltet. Der Konzern baut weder Elektroautos noch Batteriefabriken, er bietet Software und Dienstleistungen, die schwer zu durchschauen sind. Verkörpert Wirecard wirklich die Chancen der neuen digitalen Welt? Oder ist der Konzern aus Aschheim nur ein zu schnell gewachsenes Start-up aus einem Münchner Vorort, in den Anleger zu große Hoffnungen setzen?

In Asien ist die Welt so, wie die Wirecard-Manager sie sich erträumen. Immer mehr Menschen wollen mit Bargeld möglichst wenig zu tun haben, zahlen beim Shoppen, beim Lunch und beim Parken per Handy-App. Die Wirecard-Niederlassungen in dieser Weltgegend zeugen vom Geschäftssinn der Münchner Manager. Chennai und Jakarta, Kuala Lumpur und Manila sind Städte, in denen die Zukunft längst zu Hause ist. Wirecards Asien-Zentrale liegt in Singapur, in einer aseptischen „Business City“ mit Blick auf die Containerschiffe auf dem Weg zur Straße von Malakka. Wie in den meisten Tech-Konzernen ist die Stimmung im Unternehmen leger, sind die Hierarchien flach, die Umgangsformen locker.

Manche lästern darüber, dass sich Wirecard intern „WD“ abkürzt – „WC“ kommt nicht wirklich infrage. Selbst mit ihren Chefs kommunizieren die Mitarbeiter intern über Chatgruppen, unterhalten sich untereinander über Fachliches und Zwischenmenschliches oder über die besten Restaurants und Clubs auf Bali oder in Shanghai.

Einer der tonangebenden Männer bei Wirecard in Singapur ist Edo K. Der Indonesier ist Anfang 30, umtriebig, immer bestens gelaunt. Im Büro erzählt man sich, er stamme aus einer wohlhabenden Familie, wolle sich aber beweisen. Edo K. nimmt als einer der obersten Finanzer eine Schlüsselstellung im Konzern ein, er verantwortet unter anderem die Finanzen in Asien. Edo K. gilt als Vertrauter der Unternehmensspitze in Aschheim, war dort bis Mitte 2017 tätig. Regelmäßig tauscht er sich über Telefon, Skype-Chats und E-Mails mit den Chefs aus, bespricht selbst Kleinigkeiten wie eine Abfindung in Höhe von wenigen Tausend Dollar für einen Mitarbeiter.

Doch scheint Edo K. irgendwann den Überblick über die Buchungen und Transaktionen zu verlieren. Immer wieder monieren Wirtschaftsprüfer, dass Unterlagen fehlten, Zahlen nicht plausibel seien. Einmal fordert ein Kollege in Deutschland den Indonesier auf, für eine Bilanz „eine gute Erklärung“ zu liefern. Er warnt, dass der Buchprüfer sonst „die Story nicht akzeptiert“. Ein anderes Mal greift ein Konzernvorstand ein: „Hi Edo, hast Du alles unter Kontrolle?“, fragt der Chef aus Deutschland. „Das wirkt sehr beunruhigend.“

Das Wirecard-Geschäft in Asien macht in der Tat einen chaotischen Eindruck. Mal klagen Mitarbeiter, die Zahlen würden nur so „herumfliegen“, mal warnen sie, dass man den Angestellten einer Tochterfirma schon bald keine Gehälter mehr zahlen könne. Im Juni 2017 schreibt ein Mitarbeiter an Edo K., mindestens zwei Wirecard-Firmen seien „im operativen Defizit und technisch zahlungsunfähig“. Sind dies nur die Symptome eines zu schnellen, unbeherrschten Wachstums, oder geht es um mehr?

Anfang 2018 kommt es noch schlimmer: Ein Whistleblower beobachtet angeblich, wie Finanzchef Edo K. mit Filzstiften an einer Präsentationstafel steht und einem halben Dutzend Mitarbeitern erklärt, wie sich Geld zwischen verschiedenen Tochterfirmen hin und her schieben lasse – mutmaßlich auf illegale Art und Weise. Der Whistleblower vertraut sich zwei örtlichen Justitiaren an, diese melden den Verdacht nach Aschheim. Ein Juristen-Team aus der Konzernzentrale fliegt nach Singapur, lässt die E-Mail-Postfächer einiger der örtlichen Mitarbeiter sichern und beauftragt die Anwaltskanzlei Rajah & Tann, die Vorwürfe aufzuklären.

Offenbar hat man in München erkannt, was Wirecard drohen könnte: Das Unternehmen ist verwundbar. Der Wert von schnell wachsenden Tech-Unternehmen lässt sich oft nur schwer nachvollziehen. Und dann ist da noch die Firmengeschichte: Wirecard ist seinen schmuddeligen Ruf der Anfangsjahre nie ganz losgeworden. Die Firma wickelte damals vor allem den elektronischen Zahlungsverkehr für Pornofilme und Glücksspiele im Internet ab, an diesem Geschäft verdient der Konzern auch heute noch. Sollten Bilanzmanipulationen in Asien auffliegen, wäre das Gift für den Ruf der Wirecard AG als eines der führenden deutschen Innovationsunternehmen.

Im Frühjahr 2018 scheint also tatsächlich einiges im Argen zu liegen bei Wirecard. Die beiden Juristen in Singapur, die die Zustände im dortigen Büro prüfen sollen, sind nach einer ersten Durchsicht der Mails von Mitarbeitern Edo K.s beunruhigt. Am 20. April meldet einer von ihnen nach Aschheim, das Thema sei „größer, als wir dachten“.

Die Justitiare bei Wirecard in Singapur sind nicht nur gewissenhaft, sie sind penibel, hartnäckig und streitbar. Einer von ihnen, Royston N., kümmert sich um das Thema Compliance, also um rechtlich und ethisch einwandfreies Geschäftsgebaren. Royston N. kommt mit Hosenträgern ins Büro. Er war früher Staatsanwalt in Singapur, die dortige Strafjustiz wird wegen ihrer unerbittlichen Strenge gefürchtet. Sein Kollege, der Justitiar Pavandeep G., gilt zwar als nicht ganz so scharfer Hund, aber auch er nimmt seine Arbeit sehr ernst.

Früh wird klar, dass die beiden Juristen Finanzchef Edo K. als einen Aufschneider betrachten und sich wundern, dass die Zentrale in München diesem Mann blindlings zu vertrauen scheint. Im Singapurer Büro erzählt man sich, der Jurist Royston N. habe dem Finanzchef Edo K. einmal vorgehalten, jemand aus dessen Familie stehe der indonesischen Mafia nahe. Edo K. sei sehr aufgebracht gewesen. Royston N. könne den Verwandten ja fragen und „schauen, was dann passiert“. Daraufhin soll Royston N. einigen Kollegen erzählt haben, Edo K. habe ihn bedroht. Das hat sich bis in die Konzernzentrale in Aschheim herumgesprochen.

Nach weniger als zwei Wochen Arbeit legt die Kanzlei Rajah & Tann Anfang Mai 2018 ihren „vorläufigen Bericht“ vor. Der hat es in sich: Der Anfangsverdacht gegen Edo K. habe sich bestätigt, heißt es darin. Zudem seien weitere „Missetaten“ aufgefallen. Edo K. und zwei seiner Mitarbeiter hätten mutmaßlich Urkunden gefälscht und fragwürdige Zahlungen veranlasst; offenbar wollten sie die schlechte Finanzlage einzelner Wirecard-Tochterfirmen durch derartige Überweisungen frisieren. Möglicherweise, so die Juristen und Prüfer, seien aber auch noch weit schwerer wiegende Straftaten passiert: Betrug, Korruption oder Geldwäsche.

In der Münchner Konzernzentrale wird dieser vorläufige Bericht heute als voreilig, substanzlos und ehrenrührig abgetan.

Doch im Mai 2018 bringen die Prüfer von Rajah & Tann erst einmal allerhand Verdächtiges zu Papier. So nehmen sie zum Beispiel Anstoß an einer Tochterfirma in Hongkong, mit der Wirecard den dortigen Prepaid-Markt erobern will. Die Tochter braucht ein Mindestkapital und bekommt es aus Deutschland überwiesen.

Es ist ja eine Kapitalerhöhung der AG in einer Tochtergesellschaft. Die Prüfer vermuten, dass dies nur eine Luftbuchung ist, denn nach ihrer Darstellung tauchen die zwei Millionen Euro sehr kurz in der Bilanz der Hongkonger Wirecard-Tochter auf und fließen dann ebenso rasch wieder ab.

Die Fachleute von Rajah & Tann machen gut ein Dutzend dieser mutmaßlichen Scheinbuchungen aus, die Anlass zu einem schweren Verdacht geben: Existierten bei Wirecard in Asien dubiose Geldkreisläufe, in denen ein und derselbe Geldbetrag abwechselnd immer wieder andere Finanzlöcher stopft? Dieser Verdacht könnte den verheerenden Eindruck erwecken, dass das Dax-Unternehmen möglicherweise an der Börse heller strahlt als es den ökonomischen Fakten entspricht.

In Singapur hoffen die beiden Juristen, Royston N. und Pavandeep G., auf ein Treffen der Konzern-Oberen in Aschheim am 7. Mai 2018. Ein interner Chat zwischen Juristen in Aschheim und Singapur verrät, dass die beiden Aufklärer in Asien dem Termin regelrecht entgegenfiebern: Sie wollen am liebsten nach München fliegen und dem Vorstand persönlich ihre Ermittlungsergebnisse vorstellen. Royston N. stellt eine neunseitige Präsentation zusammen, Titel: „Project Tiger“. Ursprünglich sollte das Projekt „Phoenix“ heißen – wie der Sagenvogel aus der Asche sollte Wirecard auferstehen, befreit von allen Vorwürfen; Aschheim bevorzugte „Tiger“, einen Hinweis auf Singapur, den Tigerstaat. Man sieht auf Folien Schaubilder mit erfundenen Firmennamen, Pfeile, die Geldflüsse anzeigen, Millionen Dollar, die angeblich im Kreis überwiesen werden. Und einen Auszug aus dem Strafgesetzbuch Singapurs: Bilanzfälschung, Korruption, Geldwäsche.

Doch was folgt, ist eine herbe Enttäuschung. Einer der Vorstände schreibt an einen der Juristen, man mache die Probleme in Asien jetzt zur Chefsache: Vorstand Jan Marsalek, der unter anderem für Asien zuständig ist, werde alles Weitere koordinieren, zusammen mit einem Manager in Asien und einer externen Kanzlei. Anders formuliert: Die hartnäckigen Singapurer Juristen sind raus.

Dennoch geben die beiden düpierten Aufklärer in Singapur nicht auf, lassen nicht locker. Royston N., der frühere Staatsanwalt, beschwert sich persönlich beim Finanzvorstand in Aschheim. In einer mehrseitigen E-Mail weist er darauf hin, dass Vorstand Marsalek im vorläufigen Ermittlungsbericht genannt wird, womöglich also selbst in fragwürdige Vorgänge verstrickt sein könnte und deshalb als Aufklärer nicht infrage komme. Doch der Protest bleibt folgenlos. Und auch heute heißt es bei Wirecard dazu nur, Marsalek sei für die Untersuchung gar nicht zuständig gewesen und sei auch nicht belastet.

Kurz darauf nimmt der Argwohn der beiden Juristen sogar noch weiter zu: Eine Wirecard-Tochter in Singapur soll wenige Tage später eine Millionenüberweisung vornehmen, das Geld soll an einen Geschäftspartner gehen, der im Rajah & Tann-Bericht ausdrücklich für verdächtig erklärt wird.

„Ich verstehe das nicht. Was ist los?“, schreibt einer der beiden Justitiare im Gruppenchat mit dem deutschen Compliance-Chef in Aschheim. „Was hat der Vorstand nicht begriffen?“ Sein Singapurer Kollege springt ihm bei: „Ich verstehe nicht, wie ein paar Leute etliche äußerst schwerwiegende Finanzdelikte begehen und dann ungestraft weitermachen können.“ Der deutsche Teilnehmer dieses Chats, er ist immerhin einer der wichtigsten Verantwortlichen für Rechtsfragen im Konzern, scheint auf Linie mit den asiatischen Kollegen zu sein. Auch er äußert den Verdacht, dass sich die Mächtigen im Unternehmen gegenseitig deckten. Sie „pinkeln sich nicht gegenseitig an“.

Einer der Singapurer Kollegen erwidert: „Das ist keine angemessene Haltung für einen Vorstand … Falls die Zahlung … nicht in Ordnung ist, dann ist das Geldwäsche. Und es wird mit Wissen des Vorstands geschehen sein.“ Der Justitiar in Asien wird nun sehr grundsätzlich: „… Meine Prinzipien sind nicht verhandelbar. Als ehemaliger Staatsanwalt sag ich es in aller Klarheit. Wir werden persönlich strafrechtlich belangt, wenn wir nichts tun.“ Der hartnäckige Jurist ist offenbar zum Äußersten entschlossen. Er kann sich sogar vorstellen, den Vorstand zu umgehen und direkt den Aufsichtsrat einzuschalten. Sein Mitstreiter im Büro Singapur springt ihm bei: „Dem Vorstand ist das Ganze scheißegal, und es gibt intern nicht viel, das wir tun können. Es gibt zu viele Beteiligte mit zu vielen Interessen … und Edo wird eindeutig geschützt.“

Wenige Tage später fließt der umstrittene Millionenbetrag dennoch ungehindert.

Spätestens da wird klar, dass das Verhältnis zwischen den Firmenoberen bei Wirecard und den beiden Juristen in Singapur schwer belastet ist. Auch der Compliance-Chef in Aschheim rückt nun von seinen beiden asiatischen Mitstreitern ab. Im Juni 2018 schreibt er einem der beiden Mitarbeiter in Singapur eine vernichtende Kritik: „Als Compliance müssen wir Partner des Managements sein. Unsere Compliance-Rolle ist es, Schaden vom Unternehmen fernzuhalten und die Graubereiche zu kontrollieren. Wir sind keine Staatsanwälte, die Einzelpersonen zur Rechenschaft ziehen.“ Und weiter heißt es: „Ich glaube, dass der Vorstand das Vertrauen darauf verloren hat, dass wir zum Wohle der Firma ermittelten.“ Dann wird der Mann in Aschheim sehr, sehr deutlich gegenüber seinen asiatischen Kollegen: „Compliance ist immer auch … politisch motiviert.“ Ein Justitiar könne dem Vorstand keine Anweisungen erteilen: „So gewinnt man kein Vertrauen und gilt dem Management nicht als verlässlicher Partner.“

In Aschheim denkt man offenbar, man könne den Konflikt mit solchen Belehrungen eindämmen. Doch das funktioniert bestenfalls vorübergehend: Acht Monate später, am 30. Januar 2019, werden die vorläufigen Erkenntnisse der Kanzlei Rajah & Tann öffentlich. Irgendjemand hat das interne Papier vom Mai 2018 nach außen getragen, nun zitiert die Financial Times daraus. Von wem das Londoner Wirtschaftsblatt die Wirecard-Interna erfahren hat, ist nicht bekannt. In Konzernkreisen heißt es, einer der beiden düpierten Juristen habe den Rajah & Tann-Bericht in Umlauf gebracht. Inzwischen liegen noch viel mehr interne Akten bei den Ermittlungsbehörden in Singapur. Missstände in Unternehmen und Zerwürfnisse über deren angemessene Aufklärung sind oft Auslöser dafür, dass empörte Mitarbeiter zu Whistleblowern werden – und Interna nach außen tragen. Ob das auch bei Wirecard so der Fall war, ist offen.

Mittlerweile haben die beiden Juristen in Singapur das Unternehmen verlassen. In Firmenkreisen heißt es, Royston N. und Pavandeep G. hätten gegen Finanzchef Edo K. einen gewissen Verfolgungseifer entwickelt. Aber es gibt keinerlei Beleg dafür, dass sie übertrieben haben oder ihrem Unternehmen schaden wollten. Es wäre nicht das erste Mal, dass Beschäftigte, die zu viel fragen und zu tief graben, in ihrer Firma nicht mehr wohlgelitten sind. Einer der beiden Juristen in Singapur hat einmal in einem Chat über seinen Kollegen gesagt: „Alles, was er sich wünschte, war eine Firmenkultur, in der man Übeltäter zur Rechenschaft zieht.“

Ein Dreivierteljahr später erreicht die Eskalation ihren vorläufigen Höhepunkt. Am 30. Januar 2019 berichtet die Financial Times über den Fall, die Aktie stürzt ab. Kurz darauf erhält Konzernvorstand Jan Marsalek über einen Vertrauten eine Chat-Nachricht mit einem unmoralischen Angebot. Ein Geschäftsmann, der in Journalistenkreisen gut vernetzt sein soll, behauptet, ein zweites einflussreiches Wirtschaftsmedium plane ebenfalls einen verheerendes Bericht über Wirecard. Demnach erreiche die Affäre sogar die Firmenspitze, und der Aktienwert müsse daher mehr als halbiert werden. „Ja, aber was kann man dagegen tun?“, schreibt der Vertraute Marsaleks, „sie werden den Artikel nicht stoppen.“ Daraufhin entgegnet der Geschäftsmann: „Ich kann meinen Kerl dazu bringen, es zu stoppen. Ich habe einen guten Kontakt ...“

Bei weiteren Gesprächen stellt sich heraus, dass der Geschäftsmann angeblich noch mehr zu bieten hat. Er könne nicht nur negative Presseberichte verhindern. Er könne ebenso erfolgreich positive Artikel über Wirecard in den Medien lancieren und Übernahmegerüchte streuen, die den Kurs der Aktie dann in die Höhe treiben würden. Für diese Unterstützung verlangt er 2,2 Millionen Pfund. Sogar eine Scheinrechnung hat er schon vorbereitet, zurückdatiert auf den 28. Mai 2018. Darin steht, Wirecard zahle das Geld als Sponsoring für einen Autorennstall, das Firmenlogo der Aschheimer werde gut erkennbar auf dem Rennwagen und den Anzügen der Fahrer prangen.

Marsalek geht darauf nicht ein, benachrichtigt die Staatsanwaltschaft München: Wirecard sieht sich als Opfer einer Verschwörung zwischen Medien und Börsenspekulanten und erstattet am 1. Februar 2019 Strafanzeige wegen einer möglichen Manipulation des Aktienkurses. Die Staatsanwälte nehmen den Verdacht ernst und leiten Ermittlungen gegen unbekannt ein. Sie sind alarmiert. Da ist zum einen das eindeutige Angebot, die Medienberichterstattung zu steuern und den Börsenkurs zu manipulieren. Der Mann, der dieses Angebot abgegeben hat, gilt nicht als Prahlhans, sondern als einer, der liefern kann. Offenbar ist er tatsächlich in der Lage, das Geschehen an der Börse zu beeinflussen.

Hinzu kommen Auffälligkeiten beim Handel mit Wirecard-Aktien am 30. Januar. Offenbar hatten mehrere Spekulanten rechtzeitig auf fallende Kurse gewettet, bevor der Artikel in der Financial Times erschien. Nach Angaben von Wirecard könnte es dafür eine Erklärung geben; demnach hätte sich an der Börse herumgesprochen, dass ein negativer Bericht erscheinen würde. Die deutsche Firma beruft sich auf einen Händler aus London. Der hat schriftlich erklärt, dass schon am Vormittag des 30. Januar in Börsenkreisen über den bevorstehenden Wirecard-Artikel der Financial Times geredet worden sei. All diese brisanten Informationen leitet die Staatsanwaltschaft München an die Börsenaufsicht in Frankfurt weiter. Die reagiert überraschend schnell auf den ungewöhnlichen Vorgang : Am 18. Februar verbietet die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin), an der Börse auf einen fallenden Kurs der Wirecard-Aktie zu wetten. Die ungewöhnliche Entwicklung der Aschheimer Aktie habe „massive Unsicherheiten an den Finanzmärkten“ verursacht, erklärt die Bafin, sie sieht eine „ernst zu nehmende Bedrohung für das Marktvertrauen in Deutschland“.

Wirecard sieht sich als Opfer und verklagt die Financial Times vor dem Landgericht München auf Schadenersatz. Der deutsche Konzern wirft der britischen Zeitung vor, irreführend berichtet zu haben. „Der vorliegende Fall ist ein Paradebeispiel übelster Sorte für das abgestimmte Agieren von Journalisten und kriminellen Spekulanten zum Nachteil seriöser Anleger“, heißt es in der Klageschrift. Die Londoner Zeitung weist die schweren Vorwürfe als „substanzlos“ zurück.

Sind die Angriffe Wirecards auf die Presse nur ein Manöver, um von den Missständen abzulenken? Und versucht der Konzern, Kritiker in seinen Reihen sowie außerhalb systematisch zu diskreditieren?

Noch ist nicht bewiesen, dass dem Kurssturz Ende Januar eine groß angelegte Attacke krimineller Spekulanten zugrunde lag. Investoren, die von fallenden Kursen profitieren wollen, nutzen dafür gern sogenannte Leerverkäufe. Diese Spezialität im Aktienhandel ist alltäglich; sie dient unter anderem dazu, sich gegen fallende Kurse abzusichern. Am 30. Januar 2019 ist der Anteil leer verkaufter Wirecard-Aktien im historischen Vergleich eher niedrig. Wenn überhaupt, hat damals offenbar nur ein kleiner Kreis von dem bevorstehenden Artikel der FT gewusst. Wahrscheinlich drückte der Kurssturz also auch ein verbreitetes Misstrauen gegen Wirecard aus. Schon in der Vergangenheit hat der Kurs auf schlechte Nachrichten sehr empfindlich reagiert. Bis heute hat sich die Wirecard-Aktie nicht erholt; sie liegt noch immer um mehr als ein Drittel niedriger als Ende Januar.

In der vergangenen Woche hat Wirecard nun versucht, die Affäre um ihren Finanzchef Edo K. für weitgehend beendet zu erklären. Es gehe nur um einige wenige Unregelmäßigkeiten; diese hätten auf die Bilanz „keine wesentlichen Auswirkungen“. In Aschheim habe sich niemand strafbar gemacht. Wirecard beruft sich unter anderem auf weitere Untersuchungen der Kanzlei Rajah & Tann.

Für den deutschen Konzern ist die Affäre aber längst nicht ausgestanden. Die Spezialeinheit für Finanzkriminalität in Singapur hat die Wirecard-Büros mit dem spektakulären Blick auf das Meer und die Containerschiffe drei Mal durchsucht und mehr als 200 Kisten Material mitgenommen. Es heißt, mehrere Mitarbeiter hätten in Befragungen durch die Kanzlei Rajah & Tann Fehlverhalten eingeräumt. Auch Wirecard schließt nicht aus, dass sich örtliche Mitarbeiter strafbar gemacht haben, Ex-Asien-Finanzchef Edo K. soll Tricksereien zugegeben haben. Er soll sogar behauptet haben, dass er sich mit dem Vorstand abgesprochen habe. In Firmenkreisen heißt es, das stimme nicht, man habe in Aschheim nichts gewusst. Die SZ hat mehrmals vergeblich versucht, Edo K. zu erreichen.

Inzwischen haben sich Wirecard und Edo K. getrennt. Im Konzern wird heute so getan, als habe vor allem der Ex-Finanzchef für Asien versagt. Bei vielen früheren Wirtschaftsaffären hieß es anfangs, dass nur einzelne Mitarbeiter aus dem Mittelbau der Firma schuld seien, später war es dann aber doch ganz anders.

Genau wissen es auch die Ermittler bisher nicht. In Justizkreisen heißt es, man habe noch kein Gefühl dafür, in welche Richtung das Ganze gehe. Die neue Welt der globalen Digitalkonzerne, der Spekulanten und der rücksichtlosen Geschäftemacher, die Insiderwissen verkaufen, ist selbst für gestandene Ermittler nur noch schwer zu durchschauen.

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Einschübe:

Wie viel echte Substanz können
Konzerne haben, die nur
Software und Dienste anbieten?

Der Konzernvorstand erkundigt
sich beim Kollegen in Singapur:
„Hi Edo, alles unter Kontrolle?“

Die beiden Wirecard-Juristen
in Singapur halten Finanzchef
Edo K. für einen Aufschneider

„Falls die Zahlung nicht in
Ordnung ist, ist das Geldwäsche
mit Wissen des Vorstands.“

Wirecard sieht sich als Opfer
einer Verschwörung von
Medien und Börsenspekulanten

Auf die Bilanz, sagt Wirecard,
hätten die Unregelmäßigkeiten
keine großen Auswirkungen

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Bildunterschriften:

Die unscheinbare
Konzernzentrale
von Wirecard im
Münchner Osten liegt
zwischen Messegelände
und Autobahn, sie hat
den Charme einer
örtlichen Sparkassenfiliale.
Mit digitalen
Abrechnungsmodellen
für Internet-Glücksspiele
und Pornofilme
begann der rasante
Aufstieg des Tech-Unternehmens
zum Superstar
im deutschen
Aktienindex Dax.

Singapur: Hat die
Finanzabteilung von
Wirecard die Kontrolle
über die komplexen
Geschäfte in Asien
verloren? Ein hoher
Manager des Konzerns
in Singapur, der
umtriebige Indonesier
Edo K., ist unter
Verdacht geraten,
Bücher frisiert und
Mitarbeiter dazu
angestiftet zu haben.

Der gebürtige
Österreicher Jan
Marsalek, Jahrgang
1980, ist seit 2000
bei Wirecard.
Heute sitzt er im
Vorstand. Im
Konzern ist er für
das Geschäft in
Asien zuständig.

Auch der Vorstandsvorsitzende
von Wirecard, Markus
Braun, ist Österreicher.
Ziel des Unternehmens
sei es, sagte der
Milliardär im
vergangenen Frühjahr,
„kraftvoll organisch
die Welt zu erobern“.
Und die Unregelmäßigkeiten?
Für Wirecard sei „die Sache
abgeschlossen“.

Börsenliebling
Wirecard: Der Kurs
hatte sich in zehn
Jahren verdreißigfacht.
Rund 24 Milliarden
Euro war Wirecard vor
dem Absturz wert,
knapp drei Mal so viel
wie die Lufthansa.
Heute sind es noch
13,64 Milliarden Euro.

London: Die Financial
Times hat als erste
Zeitung über die
brisanten Interna von
Wirecard berichtet. Der
Aktienkurs des deutschen
Unternehmens
hat sich seitdem kaum
erholt.

Nach dem ersten
Bericht der Financial
Times am 30. Januar
über mögliche Dokumentenfälschung
und Geldwäsche durch
einen Finanzmanager
von Wirecard in Singapur
wurden in nur
einer Stunde rund
fünfeinhalb Milliarden
Euro Börsenwert
vernichtet. Der Kurs
der Wirecard-Aktie
stürzte zeitweise um
25 Prozent ab.

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