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Tausend und ein Zweifel

Artikel 1 vom 13.12.2019

Tausend und ein Zweifel

Der Zahlungsabwickler Wirecard soll in Dubai Hunderte Millionen Euro Umsatz mithilfe des undurchschaubaren Partners Al Alam gemacht haben. Eine Spurensuche - deren Ergebnisse das Misstrauen von Investoren gegenüber dem Dax-Konzern nicht beruhigen dürften.

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Dubai, an einem Mittwoch im November. Die Al Kazim Towers stechen wie zwei Raketen aus dem Wüstensand in den stahlblauen Himmel, das Thermometer zeigt 30 Grad. In einem der Zwillingstürme, die so aussehen wie das Chrysler Building in New York, sitzt eine Firma, die dem deutschen Zahlungsabwickler Wirecard angeblich märchenhafte Gewinne beschert. Al Alam. Der karge Internetauftritt nennt keine Ansprechpartner - aber diese Adresse.

Es geht acht Stufen Marmortreppe hoch, vorbei an zwei Brunnen mit jeweils sieben Fontänen, durch eine Passage mit Geschäften und Restaurants. Der Aufzug von Turm A surrt in den 19. Stock. Al Alam sitzt in Büro 1905 A. Hinter einer Tür aus dunkelbraunem Holz. Eine üppige Repräsentanz kann es nicht sein, die großen Flächen auf dem Stockwerk werden von anderen Firmen genutzt. Die Klingel hallt durch das Büro hinter der Holztür. Es ist still. Niemand öffnet. Auch nach mehrmaligem Klingeln nicht. Ist überhaupt jemand da? Die Mitarbeiter der Wetterdaten-Firma nebenan wissen es auch nicht.

DIE FIRMA, DIE KAUM EINER KENNT

So beginnt die Spurensuche nach einem der wichtigsten Geschäftspartner des deutschen Zahlungsdienstleisters Wirecard. Einer kleinen Firma mit großen Geheimnissen und einer Tür, die sich nicht öffnet. Die britische "Financial Times" ("FT") behauptet, dass Wirecard mithilfe von Al Alam allein im Jahr 2016 rund die Hälfte seines Vorsteuergewinns erzielt haben könnte. Die "FT" veröffentlichte Dokumente: Angeblich interne Papiere aus der Finanzabteilung von Wirecard, Excel-Tabellen, E-Mails. Die Unterlagen wirken authentisch. Wirecard aber sagt, die Informationen seien "nicht authentisch". Unbestritten ist, dass Wirecard rund die Hälfte seines Zahlungsvolumens mithilfe von mehr als 100 Partnerfirmen abwickelt, und dass eine davon Al Alam ist. Wie viele Transaktionen Wirecard mit den Arabern macht, sagt Wirecard nicht, dementiert aber auch die Angaben der "FT" hierzu nicht.

Erstaunlich ist: Andere internationale Zahlungsdienstleister haben von Al Alam noch nie etwas gehört. Trotz vieler Erklärungsversuche ist bis heute unklar, wofür Wirecard diese Firma wirklich braucht.

Vieles deutet aber darauf hin, dass die Firma, die sich da in Dubai hinter einer Holztür versteckt, nicht irgendeiner von 100 Dienstleistern ist, sondern Wirecard vermutlich ziemlich nahesteht. Es gibt Hinweise auf zwei Hintermänner, von denen der eine ein aktiver Wirecard-Manager ist.

Der Fall Al Alam fügt sich nahtlos ein. Denn dubiose Gestalten und zweifelhafte Ereignisse ziehen sich durch die Firmengeschichte wie bei keinem anderen Dax-Unternehmen - bis heute, und das nicht nur in Dubai. Auffallend oft scheinen ehemalige oder aktive hochrangige Wirecard-Mitarbeiter fragwürdige Doppelrollen zu spielen.

Das passt so gar nicht zu einer der erfolgreichsten Gründergeschichten dieses Jahrzehnts. Zum ehemaligen Start-up aus dem Münchner Vorort Aschheim, das Zahlungen abwickelt, an der Ladenkasse und im Internet, völlig egal, wie die Kunden zahlen wollen - mit Kreditkarte, mit dem Handy, per Bankeinzug oder Gutscheinkarte. Und das dabei einen atemberaubenden Aufstieg zum Milliardenkonzern hingelegt hat, der die Commerzbank aus dem Dax fegte. Allein von September 2016 bis September 2019 hat sich der Umsatz mehr als verdoppelt, das Vorsteuerergebnis im selben Zeitraum fast verdreifacht. Über 14 Milliarden Euro ist Wirecard heute wert - 500 Millionen mehr als die Deutsche Bank.

Dennoch begleitet Wirecard seit Jahren ein zweifelhafter Ruf: Weil die ersten Kunden aus der Porno- und Glücksspielindustrie kamen, weil Spekulanten immer und immer wieder auf einen Kursrutsch der Wirecard-Aktie wetten, wie zum Beispiel neuerdings der bekannte Manager Chris Hohn mit seinem Hedgefonds TCI; weil Wirecard die Hintermänner wichtiger Geschäftspartner anonym hält, weil das Unternehmen angibt, die Kassen voller Bargeld zu haben, aber trotzdem innerhalb von drei Jahren seine langfristigen Schulden auf 1,4 Milliarden Euro mehr als vervierfacht hat, weil die Polizei in Singapur unter anderem wegen möglicher Geldwäsche gegen ehemalige Mitarbeiter des Unternehmens ermittelt.

Jahrelang gelang es Wirecard dennoch immer wieder, die Aktie wieder auf Kurs zu bringen. Die Firma folgte immer ein und demselben Muster: Vorwürfe abstreiten, Kritik als unglaubwürdig darstellen, Bedenken zerstreuen. Doch das Selbstverteidigungsmuster nutzt sich allmählich ab. Lag der Kurs der Wirecard-Aktie im Spätsommer vergangenen Jahres noch über 190 Euro, so waren es in den vergangenen Tagen weniger als 110 Euro. Der Kurs einer im September platzierten Anleihe fiel deutlich, auf 90 Prozent, was höchst ungewöhnlich für ein Dax-Unternehmen ist - und ein deutliches Indiz dafür, dass so mancher Investor mittlerweile bezweifelt, dass Wirecard seine Schulden zurückzahlen kann.

Dabei läuft das Geschäft von außen betrachtet doch rund. Vor allem der Wüstenstaat Dubai hat sich zuletzt zum Paradies für die Aschheimer entwickelt. Hier sitzt die Wirecard-Tochter Card Systems Middle East. Sie steuerte im vergangenen Jahr fast 60 Prozent zum Jahresgewinn des Konzerns bei. 237 Millionen Euro lautete das Jahresergebnis. Das ist fast doppelt so viel wie 2017 und sechs Mal so viel wie fünf Jahre zuvor.

ZWEI FREUNDE, EINE FIRMA

Oliver Bellenhaus, 46 Jahre alt, führt hier die Geschäfte. Ein Mann, der seinen geschäftlichen Erfolg offenbar zu zelebrieren weiß: Seinen Kollegen fiel der schöne weiße Mercedes Benz SLS AMG, Neupreis um die 200 000 Euro, auf, mit dem er durch Dubai brauste. Angeblich soll er in einem Apartment im höchsten Gebäude der Welt gelebt haben oder leben: dem Burj Khalifa, 828 Meter hoch. Und dieser Bellenhaus soll auch sehr viel mit Al Alam zu tun haben.

Während Wirecard in Europa einen Geldtransfer, der etwa beim Einkauf im Internet entsteht, weitgehend allein abwickeln kann, braucht Wirecard außerhalb des Kontinents hierfür häufig Partner mit entsprechenden Lizenzen. Al Alam, so stellt Wirecard es dar, ist mit solchen Lizenzhaltern verbunden und stellt bei Bedarf eine Verbindung her. Warum Wirecard diesen Kontakt nicht selbst knüpfen kann, sagt das Unternehmen auf Nachfrage nicht.

Wer Eigentümer von Al Alam ist, sagt Wirecard auch nicht. Al Alam beantwortet diese Frage auch nicht. Insider sagen, sie hätten den Eindruck gewonnen, dass Wirecard-Statthalter Bellenhaus eine der ganz wichtigen Personen bei Al Alam sei. Er habe in einem Büro der Firma gearbeitet und ihrer Wahrnehmung nach die Firma geführt. Wichtige Entscheidungen jedenfalls seien von ihm gekommen. Er soll sogar über eine eigene Mailadresse bei Al Alam erreichbar gewesen sein. Auch in internen Nachrichten, die sich Al-Alam-Mitarbeiter zuschickten, taucht der Name des Deutschen auf. Wirecard sagt nicht, dass diese Informationen nicht stimmen, Wirecard schweigt, Bellenhaus auch. Sollten die Angaben der Insider stimmen, wären sie von hoher Brisanz. Denn dann würde sich die Frage stellen, warum der Geschäftsführer von Wirecard in Dubai einem Dienstleister hilft, Geschäfte mit seinem Arbeitgeber zu machen, statt dasselbe Geschäft direkt für Wirecard durchzuführen. Wie hoch die Provisionen sind, die Wirecard an Al Alam für die Vermittlungen zahlt, sagt Wirecard nicht. Laut "FT" soll Al Alam für Transaktionen in Höhe von 1,3 Milliarden Euro im Jahr 2017 Provisionen in Höhe von 58 Millionen Euro erhalten haben.

Insidern zufolge soll Bellenhaus bei Al Alam noch einen Partner haben: Abdallah T. Ein 53-jähriger Geschäftsmann mit österreichischem Pass. T. sei in Wien groß geworden, weil sein Vater bei der Uno-Palästina-Hilfe beschäftigt gewesen sei, berichtet der Veranstalter einer palästinensischen Filmwoche, die vor Kurzem stattfand und zu dessen Sponsoren T. zählte. Ansonsten scheint Herr T. geschäftlich schwer beschäftigt zu sein: Er hält Beteiligungen am Wiener Zahlungsdienstleister Tecs und der Schweizer Energiefirma New Power Energy. Im französischen Théole-Sur-Mer an der Mittelmeerküste, zehn Kilometer südwestlich von Cannes, hat er gemeinsam mit seiner Frau eine Immobilienfirma angemeldet. In Jordanien, wo seine Frau ihren Wohnsitz hat, investiert er in Solaranlagen. In Katar hat er eine Büroadresse. Und nach Barcelona soll er schon mal jetten, wenn er Lust auf ein Fußballspiel des FC Barcelona hat, berichtet ein ehemaliger Mitarbeiter.

Eine Anfrage zu Al Alam lässt T. unbeantwortet. Dass es einen Bezug zwischen ihm und der Dubai-Firma gibt, ist jedoch auch so belegbar. Im Jahr 2013 hat er eine IT-Firma, ansässig bei einer Anwaltskanzlei auf den Britischen Jungferninseln, an Al Alam verkauft. Diese alte Firma wurde dann in Al Alam Inc. umbenannt. Zwei ehemalige Mitarbeiter sagen, dass T. auch nach dem Verkauf seiner Briefkastenfirma weiter bei Al Alam aktiv gewesen sei, neben Bellenhaus. Bellenhaus und T. seien Freunde.

VOLLE HÜTTE FÜR DEN KONTROLLEUR

Allenfalls eine Handvoll Mitarbeiter hätten bei Al Alam gearbeitet - und selbst die nicht unbedingt von der Zentrale aus, sagen Insider. Das Büro von Al Alam hinter der Holztür sei klein: ein Besprechungsraum, ein paar wenige Glasbüros, eine Kaffeeküche, ein Raum für die Server. Einmal jedoch habe Bellenhaus ungewöhnlich viele Mitarbeiter in die Zentrale zitiert. Das Büro sei voll gewesen, mit angeblichen Mitarbeitern, die er noch nie gesehen hatte, erinnert sich ein Ehemaliger. Auch Abdallah T. sei da gewesen. Ein Herr von der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young (EY) soll dann im Büro von Al Alam aufgetaucht sein. Alle sollten rege Betriebsamkeit an den Tag legen, sagt einer der Ehemaligen, der noch die mittlerweile vergilbte Visitenkarte von dem Münchner EY-Prüfer vorzeigen kann. EY will sich hierzu nicht äußern.

ADVENTSGEBÄCK UND MALEREI

Die Konzernzentrale von Wirecard in Aschheim, an einem Montag im Dezember. Finanzvorstand Alexander von Knoop empfängt im Konferenzraum New York, auf dem Tisch steht Adventsgebäck. "Ich finde, es tut uns allen gut, wenn wir Transparenz zeigen. Denn es gibt für alles Erklärungen", sagt von Knoop und betont, dass Wirecard in puncto Finanzkennzahlen "bereits transparenter als viele unsere Wettbewerber" sei. Er erhebt sich von der Adventstafel, um ein bisschen was zu zeichnen. Von Knoop malt ein paar Kästchen an eine Tafel - die Wertschöpfungskette einer Kreditkartenzahlung, die Wirecard bevorzugt komplett abdeckt, aber manchmal eben nicht komplett abdecken kann. Rechts außen zeichnet er ein kleines Kästchen. Das soll Al Alam sein, "einer von vielen Partnern", die Wirecard in solchen Fällen braucht: Nicht mehr als ein Aggregator, der nur Kontakte zu lizenzhaltenden Banken herstellt - mit dem Geld der Kunden aber nicht in Berührung kommt.

Gerade für Länder, in denen Wirecard nicht so viel Geschäft macht, scheint eine Kooperation mit einem Kontaktvermittler auch ökonomisch sinnvoll, erst recht, wenn dieser Agent sehr viele Kontakte unterhält.

Ein paar Tage nach dem Termin mit von Knoop gibt Wirecard dann erstmals bekannt, mit wie vielen Partnern Al Alam sie zusammenbringt. Demnach sind es neun. Nicht an 1000, nicht an 100. Neun. Und das lässt die ganze Darstellung von Wirecard dann eben nicht mehr ganz so schlüssig erscheinen. Eine direkte Geschäftsbeziehung zu neun Banken aufzubauen, dürfte für Wirecard wohl kaum ein Problem darstellen. Das Geschäft dennoch über Al Alam zu machen wäre dann plausibel, wenn über diese neun Banken nur so wenig Geschäft läuft, dass sich der Aufwand nicht lohnt. Sollten die Daten der "FT" zum Umfang der Geschäftsbeziehung von Wirecard und Al Alam jedoch stimmen - und Wirecard dementiert sie zumindest nicht - , dann ließ Wirecard 2016 und 2017 Transaktionen in Milliardenhöhe über die Kontakte von Al Alam laufen. Das passt nicht zusammen. Eine letzte Erklärung könnte sein, dass die Bankpartner es nicht anders wollen. Aber welche Bank arbeitet lieber mit einer kleinen Firma in Dubai zusammen als mit einem deutschen Dax-Unternehmen?

Finanzvorstand von Knoop will zur Dimension der Al-Alam-Transaktionen und den Dokumenten der "FT" nicht Stellung nehmen. Ebenso wenig will er verraten, wer hinter Al Alam steckt. Er wisse es aber: "Natürlich, wir kennen unsere Partner." Ja, er sei überzeugt von seinem Partner Al Alam.

DIE VERSCHWUNDENEN MILLIONEN

Dass die Hintermänner im Dunkeln bleiben, ist nicht nur bei Al Alam so. Dubios bleibt bis heute eine der größten Transaktionen der bisherigen Wirecard-Geschichte: Der Kauf des Payment-Geschäfts der Great Indian (GI) Retail Group vor vier Jahren. Wirecard kaufte es indirekt von einer oder mehreren Personen, deren Namen bis heute nicht publik sind. Nach eigenen Angaben sollte Wirecard für das Indien-Geschäft bis zu 340 Millionen Euro zahlen. Bei GI Retail kam aber offenbar nur eine deutlich geringere Summe an. Laut Jahresabschluss erzielte GI Retail mit dem Verkauf von Tochterunternehmen zwischen April 2015 und März 2016 weniger als 40 Millionen Euro. Wie passt das zusammen?

Wirecard erklärte seinerzeit, man habe das Payment-Geschäft eben nicht der GI Retail, sondern einer Gesellschaft namens "Emerging Markets Investment Fund 1a" auf Mauritius abgekauft. Der Jahresabschluss von GI Retail legt aber nahe, dass diese Gesellschaft auf Mauritius erst einen Monat, bevor der Verkauf an Wirecard verkündet wurde, Eigentümer des Payment-Geschäfts geworden ist. Die Begünstigten der Mauritius-Firma könnten dementsprechend in kurzer Zeit eine dreistellige Millionensumme verdient haben. Wer die Glücklichen sind, ist über öffentliche Register nicht einsehbar - und Wirecard verrät es nicht. Bei einem Deal dieser Größenordnung ist das - vorsichtig ausgedrückt - zumindest erstaunlich.

SCHMUDDELFIRMEN IN SINGAPUR

Zukäufe waren bei Wirecard über Jahre an der Tagesordnung. Von 2014 bis 2018 flossen mehr als 600 Millionen Euro für Zahlungsabwickler in Indonesien, der Türkei oder Südafrika. Auch dadurch hat Wirecard heute 279 000 Kunden in seiner Datenbank. Bemerkenswert ist dabei ein Portfolio, das laut einem von der "FT" veröffentlichten Dokument über die Akquisition einer Gesellschaft in Singapur zu Wirecard gekommen sein soll: das Portfolio A & A.

Gleich mehr als ein Drittel der dort genannten angeblichen Wirecard-Kundschaft hat eine zweifelhafte Geschichte, und die geht so: Vor zwei Jahren berichtete die Nachrichtenagentur Reuters von der kleinen britischen Gemeinde Consett und den mehr als 1000 Briefkastenfirmen, die dort registriert sind. Ihr Gewerbe: unter anderem Onlineporno und Onlineglücksspiel. Hochgezogen wurden die Firmen von einem damals 35 Jahre alten Briten.

Der Seriengründer gab Reuters seinerzeit freimütig Auskunft über sein Geschäftsmodell: Er wollte ausländischen Firmen, deren Geschäfte von Kreditkartenunternehmen als "hoch riskant" angesehen werden, mittels einer Adresse in Großbritannien den Zugang zu Visa und Co. erleichtern. Im Zentrum der Aktivitäten des umtriebigen Briten standen Reuters zufolge zwei Firmen. Eine davon hieß Brinken Merchant Incorporation. An dieser Firma war immerhin gut sieben Jahre lang auch die Wirecard-Managerin Brigitte Häuser-Axtner beteiligt. Ob die Firmen aus dem Brinken-Umfeld tatsächlich Kunden von Wirecard wurden und wie sie da hinkamen, mag Wirecard nicht sagen - wie so oft.

Wenn die von der "FT" veröffentlichten Dateien echt sind, dann hätte die Singapur-Tochter von Wirecard für die zweifelhaften britischen Kunden einst Geld gezahlt. Wie viel es war, lässt sich nicht nachvollziehen. An wen das Geld floss? Man weiß es nicht. Es gibt allerdings Hinweise darauf, dass es sich beim Verkäufer um einen hochkarätigen Exmanager von Wirecard handeln könnte: Alexander Herbst, in frühen Jahren mal Finanzvorstand bei Wirecard. Er bestreitet eine Verwicklung seiner Firmen in den Deal allerdings. Herbst hat seinen Namen internationalisiert, er nennt sich privat heute Alex Autumn. Das ist auch sein Kampfname, wenn er mal wieder irgendwo auf dem Erdball ein Autorennen fährt. Das 24-Stunden-Rennen in Dubai listet ihn etwa als Fahrer eines Lamborghini Huracan GT3.

Trotz des zeitintensiven Hobbys fand Herbst noch die Zeit, nach seinem Abgang bei Wirecard, einen eigenen Zahlungsdienstleister namens Deutsche Payment zu gründen. Diese Deutsche Payment hatte ausweislich ihrer eigenen Allgemeinen Geschäftsbedingungen sowie des Geschäftsberichts einer Niederlassung eine intensive Geschäftsbeziehung zu Herbsts Exarbeitgeber Wirecard. Zudem taucht diese Deutsche Payment auch in besagten Wirecard-Dokumenten der "FT" als Ansprechpartner eben jenes Portfolios A & A auf, zu dem die zweifelhaften britischen Firmen gehörten. Mindestens bei einem Onlinehändler aus dieser Gruppe, bei dem Reuters einen Testkauf tätigte, soll den Redakteuren die Deutsche Payment auch als Zahlungsabwickler angezeigt worden sein. Herbst sagt, die Firmen in dem Portfolio hätten nie zum Kundenkreis seiner Firma gehört, und an Wirecard verkauft habe man sie auch nicht. Wirecard äußert sich hierzu nicht.

EIN RÄTSELHAFTER KREDIT

Herbst wäre nicht der einzige Exmitarbeiter, der nach seinem Ausscheiden noch von Wirecard profitiert. In Singapur, gibt es ein Unternehmen namens Ocap Management. Diese Firma hat laut Geschäftsbericht im Jahr 2017 vor allem Umsatz mit Dienstleistungen rund um das Management von Schiffen gemacht. 2018 wurde Carlos Häuser, der Ehemann von Brigitte Häuser-Axtner und selbst mal Führungskraft bei Wirecard, Chef dieses Unternehmens. Ocap wechselte dann sein Geschäftsmodell und bietet nun unter anderem Zwischenfinanzierungen für Onlinehändler feil.

Obwohl Ocap mit diesem Modell erst ganz frisch am Markt ist, bekam das Unternehmen im vergangenen Jahr großzügige Kredite von rund 115 Millionen Euro zu einem Zinssatz zwischen 3,8 und 6,0 Prozent pro Jahr. Interessant ist nun: Wirecards Tochter in Singapur, bei der Häusers Ehefrau Brigitte als Direktorin wirkte, hat 2018 Kredite in der Größenordnung von 115 Millionen Euro ausgegeben, ebenfalls zu Zinssätzen zwischen 3,8 und 6,0 Prozent. Wirecard will nicht sagen, ob sein 115-Millionen-Euro-Kredit an Ocap ging. Ocap äußert sich hierzu auch nicht.

KURZE BEGEGNUNG AN DER HOLZTÜR

Wirecard muss in Länder wie Singapur expandieren, denn in Europa stößt das Geschäftsmodell an seine Grenzen - nicht bezogen auf das Volumen, aber bezogen auf die Margen, die sich dort verdienen lassen. Das lässt sich am Jahresüberschuss der Wirecard Bank ablesen. Er ging 2018 im Vergleich zum Vorjahr um fast 25 Prozent zurück - und das, obwohl die Bank mehr Transaktionen abgewickelt hat. Wirecard begründet den Rückgang im Geschäftsbericht mit der "deutlich intensivierten Wettbewerbssituation".

Da scheint es beruhigend, dass es noch das stark wachsende Auslandsgeschäft gibt. In Dubai vor allem, wozu teilweise die kleine Al Alam beiträgt.

An zwei Tagen klingelt die […]* zu unterschiedlichen Uhrzeiten bei dem Dienstleister. Einmal öffnet sich die Tür. Eine junge Frau schaut heraus. Hereinbitten möchte sie den Besuch aus Deutschland nicht. "Da müssen Sie eine Anfrage stellen." Sie schließt sorgfältig die Tür und reicht wenig später ihre Visitenkarte durch den Türspalt, die sie als "Office Manager" ausweist. Auf die Anfrage reagiert sie nicht. Auch auf einen umfangreichen Fragenkatalog hat Al Alam nicht geantwortet.


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Artikel 2 vom 14.02.2020

Dokumente des Zweifels

Interne Unterlagen zeigen, was beim Dax-Wert Wirecard im Argen liegt. Ein Report über mysteriöse Zahlungen, hartnäckige Wirtschaftsprüfer, ominöse Softwareumsätze - und zweifelhafte Kunden, die aber womöglich hohe Marge bringen.

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Der Shatha Tower im Stadtteil Media City ist eine der ersten Adressen des Wüstenemirats Dubai. Ein imposanter Wolkenkratzer, 167 Meter hoch, die Eingangshalle zieren kleine Fähnchen des Wüstenemirats. Wer hier arbeitet, kommt in den Genuss eines gehobenen Restaurants und eines Fitnessstudios. Ein großer Swimmingpool ist auch dabei.

Ein deutsches Unternehmen hat es fast nach ganz oben geschafft. Zwei Töchter des Zahlungsabwicklers Wirecard belegen das 38. von 41 Stockwerken. Durch übergroße Fenster schauen die Beschäftigten auf die Wolkenkratzer Dubais und den Persischen Golf. Die Perspektive scheint grenzenlos, der Himmel ist das Limit.

Das Arbeitsumfeld passt zum steilen Aufstieg des Unternehmens, an dessen bescheidene Anfänge heute noch die schmucklose Zentrale in einem Gewerbegebiet der 10 000-Einwohner-Gemeinde Aschheim nordöstlich von München erinnert.

Wirecard startete Ende der Neunzigerjahre als Zahlungsabwickler, der vor allem für Glücksspiel- und Pornoseiten im Internet tätig war. Daraus ist ein internationaler Player im Geschäft mit elektronischen Geldtransfers geworden. Zahlt ein Verbraucher im Internet oder an der Ladenkasse, etwa per Kreditkarte, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Wirecard die Zahlung abwickelt, letztlich also dafür sorgt, dass das Geld des Kunden beim Händler ankommt. Dank des von Amazon und Co. vorangetriebenen Booms im Onlinehandel gilt die Abwicklung von Zahlungen als Zukunftsgeschäft.

Dementsprechend stark wächst Wirecard. Binnen zehn Jahren hat sich der Umsatz auf über zwei Milliarden Euro verzehnfacht. Vorstandschef Markus Braun hat mit dem neben SAP einzigen Digitalunternehmen im Dax einen kometenhaften Aufstieg hingelegt. Viele Aktionäre lieben ihn, konnte er doch den Börsenwert des Unternehmens in den letzten zehn Jahren von 900 Millionen auf zuletzt über 17 Milliarden Euro steigern. Für seine Anhänger ist Braun ein digitaler Pionier, der es mit den Größen aus dem Silicon Valley aufnehmen kann.

Wenn da nur nicht diese Zweifel wären, die immer wieder tiefe Schatten auf die Firma werfen. Regelmäßig gibt es Berichte über angeblich fragwürdige Methoden vor allem bei der Bilanzierung. Hedgefonds wetten immer wieder auf fallende Kurse.

Jetzt zeigen umfangreiche interne Unterlagen, die der […]* vorliegen, dass in Wirecard zumindest 2017 immer noch einiges von der Schmuddelfirma aus dem Porno- und Glücksspielmilieu schlummerte, die sie in den Gründungsjahren war. Der […]* liegt eine Liste mit den Namen von rund 100 000 Wirecard-Kunden aus dem Jahr 2017 vor. Viele der großen Kunden aus der Sparte "Digitale Geschäfte" sind zumindest als zweifelhaft einzustufen. Von einigen soll sich das Unternehmen mittlerweile getrennt haben.

Hinzu kommen Fragen zu engen Geschäftspartnern. Wirecards Dubai-Töchter tragen mehr als die Hälfte zum Konzerngewinn bei. Dort wickelt der Dax-Konzern Zahlungen unter anderem über den Dienstleister Al Alam ab. Andere internationale Zahlungsdienstleister kennen die für Wirecard so wichtige Firma nach eigenem Bekunden nicht. Eigentümer und Strippenzieher von Al Alam bleiben im Dunkeln, die Rolle der Firma kann Wirecard bis heute nicht plausibel erklären.

Weitere interne Unterlagen zeigen, dass Wirecards Tochter in Indien, einer der wichtigsten und teuersten Zukäufe in der kurzen Historie des Konzerns, nur mithilfe zweifelhafter Softwareumsätze 2017 in die Gewinnzone gehievt werden konnte. In mindestens einem Fall wurden hierfür erst Monate später schriftliche Vertragsabschlüsse fabriziert, nachdem der indische Wirtschaftsprüfer unbequeme Fragen stellte. Wirecard ließ Fragen der […]* hierzu unbeantwortet.

Der Akte Wirecard können auf Basis der Dokumente weitere Kapitel hinzugefügt werden. Brauns Anhänger unter den Investoren argumentieren, die Compliance - also die Abteilung, die in einem Unternehmen überwacht, ob sich alle an die Regeln halten - sei bei Wirecard eben nicht im Gleichschritt mitgewachsen. Die Firma habe einige interne Prozesse noch nicht im Griff. Das weltweit verzweigte und rekordschnell hochgezogene Geschäft sei zwangsläufig an einigen Stellen intransparent. Das Unternehmen will jetzt wohl die Zahl seiner Compliance-Mitarbeiter aufstocken. Die internen Dokumente aber belegen, dass es bei Wirecard offenbar nicht nur an Compliance mangelt - und das an mehreren Ecken der Welt.

RÄTSELHAFTE SOFTWAREUMSÄTZE

So ereignet sich knapp 3000 Kilometer Luftlinie von den Luxus-Bürotürmen in Dubai entfernt Rätselhaftes: 2015 kauft Wirecard in Indien das Zahlungsgeschäft der indischen GI Retail Group. Die Gruppe bietet Bezahllösungen im Internet. Im Kern bestand dieses Geschäft aus einem Dienstleister namens Hermes. Einschließlich Erfolgsprämie ist Wirecard die Übernahme 320 Millionen Euro wert. Es war die bis dahin größte Transaktion der Unternehmensgeschichte.

320 Millionen sind ein hoher Preis für Geschäfte, die 2015 nur 4,5 Millionen Euro Jahresüberschuss einbrachten. Bis heute ist unklar, wer von Wirecards Großzügigkeit profitierte. Denn der Deal war in zwei Stufen abgelaufen. In der ersten verkauften die ursprünglichen Eigentümer ihre Hermes-Anteile für rund 40 Millionen Euro an einen Fonds mit Sitz in Mauritius.

Dieser Fonds - zweite Stufe des Deals - reichte Hermes einige Wochen später für den inklusive Prämie achtfachen Preis an Wirecard weiter. Wer hinter dem Mauritius-Fonds steht, ist nicht einsehbar und wird auch von Wirecard nicht verraten. Für einen Deal dieser Größenordnung ist das zumindest erstaunlich.

Da bei ihnen nur ein Achtel der 320 Millionen ankam, die Wirecard letztlich für Hermes anbot, fühlen sich frühere Minderheitsgesellschafter von Hermes betrogen. Sie haben Wirecard in London verklagt. Laut einem Schriftsatz, den Wirecard als Antwort darauf bei Gericht eingereicht hat, wussten die Wirecard-Manager, wie wenig der Mauritius-Fonds für Hermes bezahlt hatte. Die Information wollen sie allerdings erst nach Abschluss des Kaufvertrags vom 27. Oktober 2015 erhalten haben - wann genau, ist unklar. Auch hierzu äußert sich Wirecard auf Anfrage nicht.

Übervorteilt sehen sich die Wirecard-Manager in Aschheim bis heute nicht. Hermes, so argumentieren sie sinngemäß, sei sein Geld wert gewesen, was sich schon daran zeige, dass Wirecard bis heute keine außerplanmäßige Abschreibung auf die Tochter vornehmen musste. Das ist richtig.

Richtig ist aber auch, dass die Indien-Tochter im Jahr 2017 offenbar nur auf höchst verwunderliche Weise Gewinn machte. Von Januar bis November setzte Hermes nach internen Unterlagen durchschnittlich nur 1,4 Millionen Euro im Monat um - ein überschaubarer Betrag für eine Gesellschaft, die gut 320 Millionen Euro wert sein sollte.

Im Dezember aber lag der Umsatz auf einmal mehr als acht Mal höher. Da den zusätzlichen Erträgen laut den internen Unterlagen aber keine nennenswerten zusätzlichen Personal- oder Sachkosten gegenüberstanden, fiel das Ergebnis vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen im Dezember 45 Mal so hoch aus wie im Durchschnitt der elf Monate zuvor. Grund für das Gewinnwunder am Jahresende waren demnach erhebliche Umsätze mit Software. So will Hermes Geschäftspartnern unter anderem Zugriff auf eine Datenbank gewährt und dafür Gebühren berechnet haben. Wirecard äußert sich hierzu nicht.

Mindestens genauso seltsam wie die plötzliche Umsatzsteigerung ist, woher der Umsatz kam: Zwei Drittel der "Software-Umsätze" will Hermes ausgerechnet mit Gesellschaften erzielt haben, die von jenem Fonds auf Mauritius kontrolliert wurden, der Hermes zwei Jahre zuvor mit großem Gewinn an Wirecard weiterverkauft hatte. Der mysteriöse Fonds hatte das indische Unternehmen also zu einem sehr hohen Preis an Wirecard verkauft, und später kamen dann offenbar lukrative Aufträge, die den Umsatz der Indien-Tochter verbesserten, aus dem Umfeld dieses mysteriösen Fonds.

Dem Wirtschaftsprüfer von Wirecard in Indien kam das womöglich auch merkwürdig vor. Ende März 2018 fordert er per Mail nähere Informationen zu den Softwareumsätzen an. Wenig später informiert er Wirecards Konzernprüfer EY darüber, dass Unterlagen fehlten. Tatsächlich schickt ein Wirecard-Mitarbeiter dem indischen Prüfer dann eine Aufstellung der Softwarekunden nebst den jeweiligen Umsätzen.

Nur fünf Stunden später allerdings schickt der Wirecard-Mitarbeiter eine neue Liste. Die führt für die einzelnen Kunden - darunter die zwei Gesellschaften, die vom Mauritius-Fonds kontrolliert wurden - nun andere Umsätze auf. In Summe ergeben diese aber exakt den gleichen Betrag wie in der ersten Übersicht. Wie kann das sein? Wirecard äußert sich hierzu nicht.

Der indische Wirtschaftsprüfer bleibt hartnäckig. Er will die zu den Umsätzen gehörenden Belege sehen. Schließlich erhält er einige Verträge, die teilweise nicht mal ein Datum tragen, zum Teil auch nicht unterschrieben sind.

Das wirkt dubios, doch für weitere Aufklärung bleibt offenbar erst mal keine Zeit: EY macht dem Wirtschaftsprüfer in Indien Druck. "Wir müssen die Bilanz abzeichnen und brauchen dein Reporting sofort", "wir brauchen dringend dein Reporting", "wir erwarten, dass du den Rest in der nächsten Stunde schickst", heißt es in Mails, die die Prüfungsgesellschaft EY teils mit wenigen Stunden Abstand an den Prüfer in Indien sendet. EY äußert sich hierzu nicht.

Schließlich segnet der Inder die Bilanz von Hermes dann ab, wegen der Software-Umsätze aber nur mit Einschränkungen. Er habe keine ausreichenden Nachweise für diese Einnahmen erhalten, heißt es in seinem Bericht. Da kommt plötzlich Bewegung in die Sache: Wirecard liefert weitere Verträge und Bestätigungen. Aber warum so spät? Aus internen Unterlagen geht hervor, dass mindestens ein Vertrag zuvor nicht existierte und erst geschlossen wurde, als der indische Wirtschaftsprüfer nachfragte. Wirecard äußert sich hierzu nicht.

Der indische Wirtschaftsprüfer lässt sich aber nicht abwimmeln: "Wir haben noch Klärungsbedarf", schreibt er und listet allerlei Fragen und Unstimmigkeiten auf.

Der Vorgang hat eine Tragweite, die weit über Indien hinausgeht: Ohne die ominösen Softwareumsätze im Dezember hätte Hermes im Jahr 2017 Verlust gemacht. Der Vorstand hätte dann womöglich Schwierigkeiten bekommen, einen Unternehmenswert von 320 Millionen Euro weiterhin zu rechtfertigen. Angesichts der Tatsache, dass Wirecard 2017 vor Steuern rund 300 Millionen Euro verdiente, waren die 320 Millionen eine nicht unerhebliche Summe.

BLACKBOX DUBAI

Im Shatha Tower in Dubai hat der indische Prüfer kurz vor Weihnachten 2017 Leidensgenossen. Wirecard-Mitarbeiter in Dubai wirken reichlich verzweifelt. Zum Jahreswechsel will das Emirat eine Umsatzsteuer einführen. Die Wirecard-Leute in Dubai haben damit ein Problem: Sie wissen offenbar nicht genau, mit wem sie Geschäfte machen - und wie sie den Behörden in Dubai dazu konkrete Angaben machen sollen.

Per E-Mail schlägt der Finanzchef in Dubai bei der Konzernzentrale in Deutschland Alarm. Viele Einnahmen und Kosten der Dubai-Tochter würden in München verbucht, und da "wir keine Transparenz über eine große Anzahl von Transaktionen haben, müssen wir unbedingt" einen Weg finden, um auf Unterlagen der Buchhaltung zugreifen zu können. Sollte das nicht möglich sein, müsse seine Abteilung die Informationen im System wenigstens einsehen dürfen.

Monate später scheint das Problem immer noch nicht gelöst. Ab März 2018 - fast drei Monate nach Einführung der Umsatzsteuer - werden die Mails des Dubaier Finanzchefs jedenfalls eindringlicher. Mitte April stellt die Konzernzentrale dann eine Übersicht über einzelne Konten zur Verfügung, die die Buchhaltung in Aschheim den Töchtern in Dubai zugeordnet hat. Es gibt nur ein Problem: Auf der Liste fehlen offenbar die detaillierten Umsätze der wichtigen Dubai-Tochter Cardsystems Middle East. Eine Führungskraft in Deutschland, zuständig für Steuern und Buchhaltung, schreibt daraufhin, dass sie die Zahlen für das erste Quartal aktuell nicht liefern könne.

Der Dialog wirft grundsätzliche Fragen auf: Haben die Buchhalter etwa nicht ständig den Überblick darüber, mit wem Wirecard wie viel Umsatz macht? Hat die Finanzabteilung der wichtigsten Wirecard-Tochter am Standort Dubai keine Ahnung davon, was dort eigentlich vor sich geht?

Wirecard sagt dazu nur allgemein: Relevante Daten würden "dort zur Verfügung gestellt, wo diese zur Verarbeitung notwendigerweise zur Verfügung stehen müssen".

WAS MACHT AL ALAM?

Die Führungskraft aus der Zentrale in Aschheim nennt als Grund für den erstaunlichen Informationsmangel das Unternehmen Al Alam. Dessen Büro findet sich eine Viertelstunde Taxifahrt vom Shatha Tower entfernt, im 19. Stock von Turm A der Al Kazim Towers, die wie zwei Raketen aus dem Wüstensand in den stahlblauen Himmel über Dubai ragen. Ein Besuch im November endet vor einer Tür aus dunkelbraunem Holz. Die Klingel hallt. Niemand öffnet.

Das Büro hinter der Tür sei klein, allenfalls eine Handvoll Mitarbeiter habe hier gearbeitet, sagt ein Ehemaliger. Was die Beschäftigten exakt tun, will Al Alam nicht erklären. Für Wirecard aber muss es enorm wichtig sein. Der britischen "Financial Times" ("FT") zufolge, hat Wirecard 2016 und 2017 jeweils Transaktionen in Milliardenhöhe über Kontakte von Al Alam laufen lassen - was Wirecard bislang nicht konkret dementiert hat.

Wie kann es sein, dass ein Dax-Konzern so viel Geschäft über eine winzige Gesellschaft laufen lässt? Bei einem Gespräch im November bemüht sich Wirecard-Finanzvorstand Alexander von Knoop darum, die Rolle von Al Alam kleinzureden. Nach seinen Schilderungen stellt die Gesellschaft bloß Kontakte her. Für Länder, in denen Wirecard selbst keine Lizenz hat, braucht das Unternehmen einen Partner mit einer solchen Lizenz, um Geld für seine Kunden transferieren zu können. Laut von Knoop verknüpft Al Alam Wirecard bei Bedarf mit insgesamt neun Banken. Al Alam hat laut von Knoop aber keinen Kontakt zu den Wirecard-Kunden und kommt auch mit ihrem Geld nicht in Berührung.

Diese Aussage aber steht im Widerspruch zu den internen Unterlagen, die der […]* vorliegen. Denn die Führungskraft aus der Unternehmenszentrale, die im April 2018 nicht sagen konnte, wie viel Umsatz im ersten Quartal 2018 bei der so wichtigen Dubai-Tochter anfiel, begründete das damit, dass Gutschriften von Al Alam und einem zweiten Dienstleister fehlten.

Wenn Al Alam aber gar keinen Kontakt zu Kunden von Wirecard hat und auch nicht mit deren Geld in Berührung kommt, dann müsste die Buchhaltung von Wirecard die Umsätze seiner Kunden selbst benennen können - und dürfte nicht auf Informationen über Gutschriften von Al Alam angewiesen sein. Wirecard äußert sich zu diesem Widerspruch nicht.

FRAGLICHE TREUHANDKONTEN

Noch zweifelhafter scheint die Rolle von Al Alam bei einem Blick in die Buchhaltung von Wirecard. Der zeigt, dass 2015 mindestens 63 Millionen Euro von Wirecards Dubai-Tochter Cardsystems Middle East auf sogenannten Treuhandkonten lagen. Nach einem von der "FT" veröffentlichten Datensatz belief sich Wirecards Guthaben auf Treuhandkonten Ende Juni 2017 auf 438 Millionen Euro. Wirecard äußert sich hierzu nicht. Sollten sich die Guthaben parallel zum Geschäft von Wirecard entwickelt haben, könnten auf den Konten heute über 700 Millionen Euro lagern.

Wirecard-Finanzvorstand von Knoop erklärte im November, dass das Geld auf den Treuhandkonten als Sicherheit für Banken diene, mit denen Wirecard in Ländern zusammenarbeite, in denen die Firma keine Lizenz habe. Das klingt plausibel. Wenn Banken für Wirecard mit Kunden, die sie nicht kennen, Geschäfte abwickeln, ist es nachvollziehbar, dass sie sich absichern wollen.

Unterlagen aus der Buchhaltung von Wirecard legen allerdings nahe, dass das Geld auf den Treuhandkonten nicht nur zugunsten von Banken hinterlegt ist. Laut den Dokumenten führt Wirecard intern etwa ein Konto für den Geschäftspartner Al Alam. Hier werden Forderungen, die Wirecard gegen Al Alam hat, aufgelistet, und auch etwaige Zahlungseingänge. Den Unterlagen zufolge wurde von diesem internen Al-Alam-Konto 2015 ein Betrag in Höhe von 10 382 983,80 Euro abgebucht. Genau dieser Betrag taucht dann als Guthaben auf einem Treuhandkonto mit der internen Nummer 178010 auf. Daraus lässt sich ableiten, dass das Treuhandkonto mit der Nummer 178010 Al Alam zuzurechnen ist. Für einen weiteren Dienstleister lassen sich Umbuchungen nach demselben Muster nachvollziehen.

Wenn Al Alam aber, wie Finanzvorstand von Knoop behauptet, nicht mehr als ein Dienstleister ist, der Bankkontakte herstellt, aber mit dem Geld der Wirecard-Kunden gar nichts zu tun hat: Wofür braucht dieser Vermittler dann offenbar Sicherheiten in Millionenhöhe? Wirecard beantwortet diese Frage nicht. In einer Stellungnahme heißt es vielmehr allgemein: "Alle Umsätze und Volumina werden regelkonform ausgewiesen und verbucht."

GELD VON ZWEIFELHAFTEN KUNDEN

Die Mitarbeiter der niederländischen Glücksspielaufsicht arbeiten offensichtlich extrem effizient - und sparsam. Im April 2018 überweisen sie 20 Euro auf ein Spielerkonto von Casino.com. Das dahinter stehende Unternehmen Onisac hätte das Geld besser nicht angenommen: Es durfte in den Niederlanden keine Onlineglücksspiele anbieten und soll nun 450 000 Euro Buße zahlen. Onisac, das noch gegen die Strafe vorgehen kann und sich zu den Vorwürfen nicht äußert, ist ein alter Bekannter: Schon 2013 wurde die in Gibraltar ansässige Firma wegen unerlaubten Glücksspiels in den Niederlanden bestraft.

Onisac taucht genauso wie ein mit ihm verbundenes Unternehmen in dem Datensatz mit circa 100 000 Wirecard-Kunden aus dem Jahr 2017 auf. Die Liste nennt Namen von Kunden, Beträge, die sie über Wirecard abgewickelt haben, und den Umsatz, den Wirecard mit ihnen generierte. Sie brachten Wirecard dem Dokument zufolge im ersten Halbjahr 2017 rund 300 Millionen Euro Umsatz - fast die Hälfte des Gesamtumsatzes des Konzerns in diesem Zeitraum.

Aufgelistet werden etwa Anbieter klassischer Konsumgüter und Digitalunternehmen. Zur ersten Kategorie zählen bekannte Unternehmen wie der Porzellanhersteller Villeroy & Boch und Discounter Lidl. Viele Anbieter "digitaler Güter" sind deutlich weniger tageslichttauglich. Gut 40 der nach Umsatz 100 größten Digitalkunden kommen aus der Porno- und Glücksspielbranche oder hängen mit dieser zusammen, indem sie etwa für solche Unternehmen Dienstleistungen erbringen.

Einer dieser zweifelhaften Kunden, der laut der internen Liste im ersten Halbjahr 2017 Zahlungen in Höhe von mehr als 20 Millionen Euro über Wirecard laufen ließ, war das US-Unternehmen Allied Wallet. Die Manager des Unternehmens einigten sich mit der Verbraucherschutzbehörde in den USA auf eine Strafzahlung von 110 Millionen Dollar, weil die Verantwortlichen von Allied Wallet wissentlich Geld für Betrüger weitergeleitet haben sollen. Allied Wallet und Wirecard äußerten sich hierzu nicht.

HOHE ABBUCHUNGEN

Zu anderen Kunden auf der Liste gibt es viele Beschwerden auf Verbraucherportalen. Sie sollen unerlaubt Geld von Konten ihrer Nutzer abgebucht haben. Anwälte berichten zudem, dass Kosten für teure Abos etwa auf Erotikseiten nicht ausreichend transparent gemacht würden. Die Nutzer seien später oft geschockt über hohe Abbuchungen.

Wirecard erklärt: Bei begründeten Verdachtsfällen auf Straftaten habe das Unternehmen "entsprechende Daten stets den zuständigen Behörden zugeleitet. Wirecard entspricht damit seinen Sorgfaltspflichten und erfüllt sämtliche rechtlichen Anforderungen, wie sie sich zum Beispiel aus dem Geldwäschegesetz ergeben."

Der Fall des Unternehmens Digital Marketing Solutions weckt allerdings Zweifel an dieser Darstellung. Ausweislich eines von einem Wirecard-Mitarbeiter verfassten Protokolls gab es bereits zwei Wochen nach dem Start im Herbst 2017 erste Probleme mit dem Unternehmen, das unter anderem Elektronikartikel im Internet verkaufte.

Nur wenige Monate später buchten Kunden reihenweise Geld zurück. Ursache dafür, heißt es in dem Protokoll, seien "betrügerische Transaktionen", Kunden hätten entweder defekte oder gar keine Ware erhalten. "Trotz des Anstiegs der Rückerstattungs- und Rückbuchungszahlen im Laufe der Monate wurde dieser Trend von unserem Überwachungsteam nicht aufgegriffen", heißt es in dem internen Dokument. Digital Marketing Solutions war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.

Wirecard beendete die Beziehung dennoch nicht sofort. Obwohl der Kunde ihnen im März 2018 bereits einen sechsstelligen Betrag schuldete und laut dem Protokoll erklärte, diese Verbindlichkeiten nicht zahlen zu können, entschieden Wirecard-Mitarbeiter, die Geschäftsbeziehung aufrechtzuerhalten, "solange weiter Geld fließt". Über neue Geschäfte sollte der Kunde also die Schulden abstottern. Erst fünf Wochen später wurde er laut Protokoll gesperrt. Wirecard äußert sich hierzu nicht.

AUFFÄLLIG HOHE MARGEN

2018 hat Wirecard für seine Kunden fast 125 Milliarden Euro transferiert und damit zwei Milliarden Euro Umsatz erzielt. Das entspricht einer Marge von 1,6 Prozent. Wettbewerber Adyen kam im selben Zeitraum nur auf ein Prozent Marge. Ist ein hoher Anteil zweifelhafter Kunden für die höhere Marge verantwortlich - weil diese Kunden relativ hohe Gebühren zahlen?

Laut der internen Liste hat Wirecard im ersten Halbjahr 2017 für Gesellschaften des Discounters Lidl 208 Millionen Euro transferiert und im selben Zeitraum 425 000 Euro Umsatz mit Lidl gemacht. Das entspricht einer Quote von 0,2 Prozent.

Der Anbieter der Seite Lovetoria, die auf Malta residiert und zumindest vorgibt, ein Singleportal zu sein, wickelte im gleichen Zeitraum wie Lidl Zahlungen über rund vier Millionen Euro ab. In der Zeit machte Wirecard mit Lovetoria 660 000 Euro Umsatz, was einem Verhältnis von über 16 Prozent entspricht. Lovetoria ließ Fragen unbeantwortet, auch Wirecard äußerte sich nicht.

Ein zypriotischer Zahlungsdienstleister, der für Pornoanbieter arbeitet und über den es viele Beschwerden von Verbrauchern gibt, kam auf ein Verhältnis von Transaktionsvolumen zu Umsatz von 5,5 Prozent, eine andere Firma erreichte 14 Prozent. Aber nicht alle Kunden aus der Glücksspiel- oder Pornoszene scheinen so attraktiv. Manchmal liegen die Quoten bei einem Prozent. Sie dürften von der Größe des Kunden, Transaktionsvolumen und Ausfallrisiko abhängen. Ob Risikokunden aus der Porno- und Glücksspielszene für Wirecards gute Marge verantwortlich sind, mochte eine Sprecherin nicht sagen.

Der Nebel lichtet sich nicht. Daran dürfte auch ein Sondergutachten des Wirtschaftsprüfers KPMG nichts ändern, auf das Aktionäre ungeduldig warten. Zu viel passt bei dem Dax-Konzern nicht zusammen, zu groß ist die Zahl offener Fragen. Vorstandschef Markus Braun hat noch lange nicht alle beantwortet. Sein neuer Aufsichtsratschef, Exbörsenvorstand Thomas Eichelmann, bekommt viel zu tun.


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Artikel 3 vom 29.05.2020

Showdown in Aschheim

Immer neue Ungereimtheiten zu Zahlen, Partnern und Transaktionen konnten den Aufstieg des Zahlungsabwicklers Wirecard nicht bremsen. Jetzt aber hat das Endspiel für Gründer Markus Braun begonnen. Besonders ein Mann spielt darin eine zentrale Rolle.

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In den Morgenstunden des 27. April haben sie sich in der Wirecard-Zentrale zusammengefunden: sämtliche Vorstände, die Anwälte des Unternehmens und allerlei Helferlein. Sie warten. Und warten. Doch erst in der folgenden Nacht, um 1.30 Uhr, kommt die ersehnte E-Mail rein, mit dem Bericht des Wirtschaftsprüfers KPMG - das wohl wichtigste Dokument der Unternehmensgeschichte. Monatelang hatten die Prüfer untersucht, ob bei dem Zahlungsabwickler alles mit rechten Dingen zugeht. Nun ist der Bericht da. Aber der erhoffte Befreiungsschlag bleibt aus. Einige im Raum sollen blass geworden sein, als sie lasen, was die Prüfer schrieben.

7.50 Uhr geht der Bericht online. Um 9.30 Uhr äußert sich Vorstandschef Markus Braun. Er stecke noch mitten in der Auswertung, sagt er, sei "nur teilweise sprechfähig". Aber so viel könne er doch sagen: Er sehe sein Unternehmen weitgehend entlastet. Es habe keine "schwerwiegenden Findings" gegeben. "Nicht eine unserer Kennzahlen wurde infrage gestellt."

Mit dieser Einschätzung aber steht er ziemlich allein.

EINE SCHALLENDE OHRFEIGE

Denn die Prüfer von KPMG hatten ihre Arbeit nach sechs Monaten zwar beendet, aber zu zentralen Punkten fehlte ein Ergebnis, weil zu viele Informationen nicht zur Verfügung standen. Die Prüfer können nicht bestätigen, dass milliardenschwere Transaktionen tatsächlich stattgefunden haben, die Wirecard über Partnerfirmen abgewickelt haben will. Nicht mal die Existenz von Treuhandkonten mit einem Guthaben von rund einer Milliarde Euro können sie zweifelsfrei verifizieren. Die Anleger reagieren sofort. Wirecards Aktienkurs stürzt um mehr als 30 Prozent ab. Manager der Fondsgesellschaften Union und Deka, zwei Schwergewichte, fordern personelle Konsequenzen.

Seit Jahren tauchen rund um Wirecard immer neue Ungereimtheiten auf. Doch egal, wie heftig die Vorwürfe ausfallen, wie gut sie belegt sind: Die Wirecard-Vertreter reagieren darauf immer gleich. Abstreiten, kleinreden und zum Kern der Sache schweigen. Die Masche hatte immer funktioniert. Nun funktioniert sie nicht mehr. Zu den schon bekannten Ungereimtheiten kommen neue hinzu, die sich um einen für Wirecard sehr wichtigen Geschäftspartner in Dubai, milliardenschwere Treuhandkonten und zweifelhafte Kredite drehen. Manch ein Investor weiß nicht mehr, ob er den Zahlenwerken des Dax-Konzerns noch trauen kann. Die Veröffentlichung des Geschäftsberichts für das Jahr 2019 wurde gerade zum zweiten Mal verschoben. Hedgefonds wetten mit Unsummen darauf, dass Wirecards Aktienkurs weiter abstürzt. In der Zentrale des Zahlungsabwicklers, einem schlichten Zweckbau in Aschheim bei München, läuft eine Art Endspiel, ist erstmals sogar von einem möglichen Rücktritt Brauns die Rede. Das Chaos ordnen soll als zentrale Figur: Wirecards Aufsichtsratschef Thomas Eichelmann.

FERRARI IN DER TIEFGARAGE

Zweieinhalb Wochen nach dem schicksalhaften Tag im April bekommt Eichelmann einen Wutanfall. Laut und ungehalten soll er geworden sein. Der Grund: Per Twitter hatte sich gerade die Meldung verbreitet, dass einer von Wirecards wichtigsten und ziemlich mysteriösen Geschäftspartnern dichtmacht. Eichelmann wird von der Nachricht kalt erwischt, auch die Kommunikatoren des Dax-Konzerns wissen von nichts, glauben anfangs noch, dass es sich um "Fake News" handele. Später versuchte man zwar, die Schließung als harmlos darzustellen. Doch das ändert nichts mehr. Mal wieder hat Wirecard eine peinliche Vorstellung geboten. Und Eichelmann hasst derlei Überraschungen - vor allem, wenn sie gehäuft auftreten. So wie bei Wirecard.

Zum ersten Mal seit Jahren steckt der Wirecard-Vorstand ernsthaft in der Bredouille, weil die Investoren plötzlich sind, was sie seit Jahren hätten sein sollen: nämlich hellwach. Sie fragen kritisch nach, lassen sich nicht mehr mit Plattitüden abspeisen, fordern Aufklärung. Nicht von Braun, der hat ihnen schon zu lange zu viel erzählt. Sondern von Eichelmann.

Der kantige Manager ist gelernter Banker und eher durch Zufall bei Wirecard gelandet. Nach zwei Jahren bei der Börse war für ihn Schluss. Danach führte er acht Jahre die Vermögensverwaltung von Milliardär Lutz Helmig, dem Gründer der Asklepios Kliniken. Seit 2018 hatte Eichelmann keinen Chefposten mehr inne. Stefan Klestil, seit mehr als zehn Jahren Aufsichtsrat von Wirecard, hat ihn angesprochen. Man kennt sich, man schätzt sich.

Bis vor Kurzem galt die Wirecard-Spitze als verschworene Gemeinschaft. Der Vorstand besteht ausschließlich aus Eigengewächsen, den Aufsichtsrat bildeten bis vor wenigen Jahren drei Männer, die alle seit mehr als zehn Jahren dabei sind. Zwar wurde das Gremium 2016 erweitert. Schwergewichte aber fehlten. Dann kam Eichelmann.

Ein statusbewusster Manager, der sich vor allem über beruflichen Erfolg definiert. Würde er aus dem Amt gejagt, weil es ihm nicht gelingt, Skandale aufzuarbeiten und die Firma wieder in geordnete Bahnen zu lenken, wäre das für ihn eine Demütigung. Das würde er nicht riskieren. In diesem Punkt sind sich alle einig, die ihn kennen. Selbst die, die ihn nicht mögen. Und davon gibt es offenbar viele.

Ehemalige Kollegen erinnern sich noch gut an Eichelmann. Nie wieder hätten sie einen Mann mit einem so großen Ego kennengelernt, sagen mehrere. Als Finanzvorstand der Deutschen Börse wollte er ein größeres Büro als das von Vorstandschef Reto Francioni für sich einrichten. Das Interieur soll extrem teuer gewesen sein. Auf dem Schreibtisch tickten seine Luxusuhren. Nur für ihn wurde die Dienstwagenregelung geändert, weil er darauf bestand, seinen Porsche Cayenne von Altarbeitgeber Roland Berger als Dienstwagen mitzubringen. In der Tiefgarage parkte auf einem seiner Parkplätze häufig ein alter Ferrari. Als sich versehentlich mal ein Mitarbeiter auf seinen Platz stellte, parkte Eichelmann ihn zu. Und ließ den Mitarbeiter erst tief in der Nacht wieder raus. Gerne bestellte er auch Führungskräfte abends zum Rapport, um sie dann mitunter Stunden warten zu lassen. "Er hat damit seine Macht demonstriert", sagt ein Exkollege.

Ehemalige Mitarbeiter erinnern sich, wie er Kollegen vor versammelter Mannschaft angeschrien habe. Es hagelte Beschwerden in der Personalabteilung. Betriebsräte sagen: "Er hat ein Verhalten an den Tag gelegt, das wir so bei der Deutschen Börse noch nicht erlebt hatten."

DEM STELLT SICH KEINER IN DEN WEG

Schon nach kurzer Zeit hatten sich die anderen Vorstandsmitglieder der Börse von ihm "entfremdet", weil er keine Rücksicht auf ihre Belange nahm. Selbst mit dem eher ruhigen Vorstandschef Francioni lieferte er sich ein Wortgefecht. Aufsichtsräte sagen, dass er auch den Kontrolleuren manchmal mehr Respekt hätte entgegenbringen können.

Eichelmann, sagt ein Beobachter, sei einfach gestrickt: Wenn er ein Ziel avisiert und den Weg dorthin festgelegt habe, dann stelle sich ihm besser niemand in den Weg. Begleiter meinen, dieselbe Regel gelte sicher auch bei Wirecard.

Das Unternehmen startete Ende der Neunziger als Zahlungsabwickler vor allem für Glücksspiel- und Pornoseiten im Internet. Daraus ist ein globaler Player im elektronischen Geldtransfer geworden. Zahlt ein Verbraucher im Netz oder im Laden, etwa per Kreditkarte, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Wirecard die Zahlung abwickelt, letztlich also dafür sorgt, dass das Geld des Verbrauchers beim Händler ankommt.

Rund 68 Prozent des Konzerngewinns fällt bei einer Wirecard-Tochter in Dubai an. Diese wiederum erzielt den "weit überwiegenden Teil des Umsatzes" mit Hilfe von Partnerfirmen, schreiben die Prüfer von KPMG.

Die Spur zu einer dieser Partnerfirmen führt in die Wüste: Die Firma Al Alam residiert im Emirat Dubai. Sie weist als Unternehmenssitz den 19. Stock des Büroturms A der Al Kazim Twin Towers, Stadtteil Internet City, aus. Die […]* war im November 2019 vor Ort, klingelte an zwei Tagen zu unterschiedlichen Uhrzeiten, traf aber nur einmal eine Mitarbeiterin an.

MILLIARDENSCHWERE GEISTERFIRMA

Angestellte von Wirecard sagen, sie hätten bei ihren Besuchen in den Büros von Al Alam auch nur vereinzelt jemanden gesehen. Auf Mails der […]* antwortet Al Alam seit Monaten nicht. Ans Telefon geht auch keiner. Wer die Geschäfte von Al Alam führt, ist nicht bekannt, genauso wenig, wem die Firma gehört. Al Alam sagt es nicht, auch Wirecard schweigt. Reporter der "Financial Times" klapperten vor einigen Monaten 34 Kunden von Al Alam ab - meist Händler, die sie aus einer Datei von Wirecard hatten. Die meisten Kunden die die "FT" erreichte, wollen von Al Alam aber nie etwas gehört haben. Wirecard entgegnete seinerzeit, bei den vermeintlichen Kundennamen handele es sich nur um Bezeichnungen für Kundengruppen, hinter denen jeweils Hunderte Händlerkunden stehen.

Wirecard-Finanzvorstand Alexander von Knoop will alles erklären, in der Konzernzentrale in dem grauen Aschheimer Gewerbegebiet, an einem Dienstag im Dezember. Von Knoop empfängt im Konferenzraum New York, auf dem Tisch steht Adventsgebäck. Von Knoop sagt: Für Finanztransaktionen brauchen Zahlungsabwickler eine Lizenz. In Ländern, in denen Wirecard so eine Lizenz nicht hat, kooperiert das Unternehmen mit lizenzhaltenden Banken. Die Verbindung stellten Partnerfirmen wie eben Al Alam her, die an viele Banken angeschlossen seien. Ein Wirecard-Händlerkunde, dessen Transaktionen mithilfe eines solchen Partners abgewickelt werde, habe einen Vertrag mit der lizenzhaltenden Bank, nicht aber mit Wirecards Partnerfirma. Deshalb kenne der Kunde die Partnerfirma - also etwa Al Alam auch nicht.

Von Knoops Version klingt plausibel, hat aber einen Haken: Sie passt nicht zu den Schilderungen der KPMG-Prüfer. Danach müsste Al Alam viel mehr sein als nur ein Vermittler von Bankkontakten. Laut KPMG wickelten Wirecards Partnerfirmen Kreditkartentransaktionen über eigene Plattformen für Händlerkunden ab, die Wirecard den Partnerfirmen vermittelt hatte. Das geschah, ohne dass Wirecard eine "direkte vertragliche Beziehung" zu diesen Kunden hatte, schreibt KPMG. Bis 2019 hatte Wirecard offenbar nicht einmal Zugriff auf die Transaktionsdaten dieser Händlerkunden. Laut KPMG wäre Al Alam also kein banaler Kontaktevermittler, so wie von Knoop es darstellt, sondern vielmehr direkt mit Finanztransaktionen betraut. Wirecard äußert sich hierzu nicht.

Wie seriös Al Alam ist, kann wahrscheinlich am besten Oliver Bellenhaus, Wirecards Statthalter in Dubai, beurteilen. Kollegen fiel der schicke weiße Mercedes Benz SLS AMG auf, mit dem er über die Wüstenpisten bretterte. Neupreis: um die 200 000 Euro. Gewohnt haben soll er in einem Apartment im höchsten Gebäude der Welt: dem Burj Khalifa, 828 Meter hoch.

Bellenhaus ist Angestellter von Wirecard, soll aber auch der Mann sein, der bei Al Alam die Strippen zieht. Das berichten mehrere Wirecard-Mitarbeiter. Auch wenn Bellenhaus in keinem Register auftaucht, so soll er doch in den Büros von Al Alam gearbeitet und auch mit Kunden geredet haben. Wirecard erklärt, Bellenhaus arbeite nicht für Al Alam und sei an dem Unternehmen auch nicht direkt oder indirekt beteiligt.

Ein Wirecard-Mitarbeiter sagt, er habe den Eindruck gehabt, dass Wirecard "problematische Kunden", die das Unternehmen teilweise nicht in den eigenen Systemen hätte haben wollen, zu Al Alam geschoben habe. Darum habe sich Bellenhaus gekümmert. Wirecard äußert sich hierzu nicht.

Die Umstände, unter denen Wirecards Umsätze beim Partner Al Alam entstehen, werden aber noch mysteriöser.

EIN MITARBEITER, DER NICHTS WEIß

Am 11. Mai erscheint in der Tageszeitung "Gulf Today" eine Anzeige, wonach Al Alam aufgelöst wird. Wirecard erklärt hierzu später, die Firma in Dubai habe die Prüfer von KPMG bei einem Besuch im März bereits über den geplanten Schritt informiert. Die Geschäfte von Al Alam liefen unverändert weiter, nur eben künftig unter einem anderen Label, an einem anderen Standort. Weder Al Alam noch Wirecard wollen sagen, wie die neue Firma heißt.

Die Anzeige in "Gulf Today" benennt einen Mann, der für die Abwicklung von Al Alam zuständig sein soll. Die […]* erreicht ihn in Jordanien. Zum Ende von Al Alam befragt, antwortet er: "I don't know anything." Er wisse von nichts. Nach eigenen Angaben arbeitet er schon seit mehr als zwei Jahren nicht mehr für Al Alam. Laut Auskunft der Dubai Development Agency, dem Amt, bei dem sich Unternehmen registrieren müssen, wird er auch nicht als Geschäftsführer von Al Alam geführt. Al Alam äußert sich nicht. Wirecard erklärt, das Unternehmen sei nicht autorisiert, "öffentliche Angaben zu Al Alam zu machen".

Al Alam also bleibt ein Mysterium. Was Aktionäre besorgen sollte: Zugunsten von Partnerfirmen wie Al Alam unterhält Wirecard Treuhandkonten. Die sind gedacht für den Fall, dass bei den abgewickelten Transaktionen etwas schiefgeht. Wenn Gelder nicht ankommen, sollen die Partnerfirmen abgesichert sein.

Ein solches Treuhandkonto wird gefüllt, indem die Partnerfirma Gebühren, die sie Wirecard schuldet, nicht an Wirecard abführt, sondern auf das Treuhandkonto überweist. Es sind also praktisch zurückgehaltene Gelder, die aber Wirecard gehören. Ende 2018 soll auf den Treuhandkonten eine Milliarde Euro gelegen haben - sagt Wirecard. KPMG erhielt jedoch keine Bestätigung der Bank, dass das Geld tatsächlich da war - eine Feststellung von enormer Tragweite: Denn eine Milliarde entspricht rund 80 Prozent der 1,2 Milliarden Euro, die Wirecard von 2015 bis 2018 vor Steuern verdient hat (siehe Grafik Seite 20). Eine Summe in Höhe von annähernd vier Jahresgewinnen liegt also nicht auf einem normalen Geschäftskonto von Wirecard, sondern auf einem Treuhandkonto, an das Wirecard nicht ohne Weiteres ran kann - und zu dem KPMG nicht zweifelsfrei sagen kann, dass es existiert. Wirecard wollte dies nicht kommentieren.

Welche Folgen es hätte, wenn das Geld nicht da wäre, zeigt ein Blick in die Bilanz: Wirecard wies Ende 2018 schnell verfügbare Finanzmittel zuzüglich Festgeld und Ähnlichem in Höhe von 2,9 Milliarden Euro aus. Auf den ersten Blick schwimmt das Unternehmen also im Geld. Aber: Von den 2,9 Milliarden Euro müssen 1,7 Milliarden Euro abgezogen werden, weil sie Kunden gehören, also von Wirecard nicht zur Zahlung eigener Rechnungen genutzt werden können. Abzüglich der Treuhand-Milliarde, blieben nicht einmal 200 Millionen Euro als schnell verfügbare Mittel (sogenannte Zahlungsmittel oder Äquivalente) übrig, um laufende Rechnungen zu bezahlen - also so gut wie nichts für einen Milliardenkonzern. Allein die jährlichen Personalkosten des Unternehmens liegen höher. Wirecard wollte dies nicht kommentieren.

AUFTRITT DES GOVERNANCE-PAPSTES

Wenn Aktionäre einen Dax-Konzern in die Zange nehmen, ist Christian Strenger für gewöhnlich vorn mit dabei. Der Mann, Jahrgang 1943, ist keineswegs altersmüde, obwohl er auf eine fordernde Laufbahn zurückblickt: Anfang der Neunziger wurde er Chef der DWS, der Fondstochter der Deutschen Bank. Nach der Jahrtausendwende gründete er die Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex mit, die Leitbilder guter Unternehmensführung entwickelt. Strenger ist bei dem Thema so etwas wie der hiesige Gralshüter, sein Wort hat Gewicht. Er sagt: "Der Konzern und Vorstandschef Braun wären bestens beraten, die offenen Fragen überzeugend zu klären." Er könne aber "nicht erkennen, dass die Bereitschaft dazu besonders groß ist".

Damit hat Strenger womöglich recht. Insider halten es für unwahrscheinlich, dass KPMG weiter der Frage nachgehen darf, ob auf den Treuhandkonten Ende 2018 tatsächlich eine Milliarde Euro lag. Man konzentriere sich jetzt auf 2019, heißt es bei Wirecard. Da soll auf vier neuen Treuhandkonten bei zwei neuen Banken schon bald doppelt so viel Geld gelegen haben. "Für die Investoren ist entscheidend, dass das Guthaben Ende 2019 da war", sagt einer der Verantwortlichen. Daraus könne man dann ableiten, dass auch in den Vorjahren alles in Ordnung war. 2018 sei irrelevant. Ganz richtig ist das nicht. Denn dann müsste immer noch geklärt werden, wo das Guthaben auf den neuen Konten bei den neuen Banken her kam.

BILANZPRÜFER EY IN DER KRITIK

Insider vermuten, dass 2018 auch deshalb nicht mehr thematisiert werden soll, um die Wirtschaftsprüfer von EY zu schützen. Diese hatten im Frühjahr 2019 erklärt, dass Wirecards 2018er-Bilanz korrekt ist. Nur zweifeln mittlerweile selbst überzeugte Wirecard-Insider, dass EY die hierfür erforderlichen Vorgaben alle erfüllt hat. Eine dieser Pflichten: Wie Sonderprüfer KPMG hätte auch der reguläre Jahresprüfer EY sich die Summen auf Wirecards Konten von den Banken bestätigen lassen müssen. Bestätigungen über Konten müssen direkt von der Bank kommen, ohne Umweg über das Unternehmen oder einen Treuhänder. Nur das Zeugnis der Bank zählt. Das ist Pflicht.

Ob EY dem für das Jahr 2018 nachgekommen ist, lässt sich nicht klären. EY schweigt. Laut KPMG hat EY Bestätigungen über Guthaben auf Treuhandkonten für Ende 2019 zur Verfügung gestellt. Es bleibt offen, ob das für 2018 auch der Fall war. Ein Wirecard-Insider, der es wissen sollte, sagt, dass der für das Milliardenkonto zuständige Treuhänder alle Unterlagen vorgelegt habe. Von einer zusätzlichen Bankbestätigung wisse er nichts. Strenger fordert: "Gerade Eichelmann muss bei EY klären, welche Belege die für welche Posten hatten." Doch käme dann heraus, dass EY seine Pflichten verletzt hat, müsste der Prüfer sein Testat für 2018 womöglich zurückziehen. Ein Dax-Wert ohne testierte Bilanz? "Der Schaden für Wirecard wäre unermesslich", sagt ein Insider.

Ein Wirecard-Kenner sagt, dass die EY-Prüfer den Eindruck vermittelten, alles richtig gemacht zu haben und deshalb den Abschluss für 2019 freizeichnen wollten. Die zuständigen Prüfer hätten das aber nicht mehr in der Hand. Zu viele bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft würden sich in den Fall jetzt einmischen, selbst Manager der Dachorganisation in den USA. Deshalb sei die Veröffentlichung des Jahresabschlusses nun auch noch mal um zwei Wochen nach hinten geschoben worden.

Eichelmann scheint auch nicht zu 100 Prozent von EY überzeugt. Erst Ende 2018 hatte Wirecard die Jahresabschlussprüfung pflichtgemäß neu ausgeschrieben. EY gewann das Mandat erneut und hätte danach eigentlich zehn weitere Jahre Wirecard prüfen können. Dennoch wurde das Mandat in diesem Jahr abermals neu ausgeschrieben.

250 MILLIONEN EURO FÜR DIE PARTNER

Auch Eichelmann muss ganz sicher sein, dass gerade im Bermudadreieck aus Wirecard, Prüfer und Partnerfirmen nichts verloren geht. Der Aufsichtsratschef muss sich sogar noch um einen weiteren Punkt kümmern: Zwei der drei gewichtigsten Partnerfirmen von Wirecard haben vom Dax-Konzern eine unbesicherte Kreditlinie von zusammen 250 Millionen Euro erhalten.

Die Partnerfirmen sollten damit ihre Händlerkunden finanzieren, die Kredite also praktisch weiterreichen. Ob das Geld wie geplant verwendet wurde, konnte KPMG aber nicht prüfen. Nachweise, dass Wirecard die wirtschaftlichen Verhältnisse der Kreditnehmer, also der Partnerfirmen, geprüft hat, gab es auch nicht. Wirecard erklärt, das Unternehmen werde sich zum Geschäft mit den Partnerfirmen sowie den Treuhandkonten und dem Risikomanagement äußern, wenn das Unternehmen den Jahresabschluss vorlegt. Strenger jedenfalls findet es "sehr ungewöhnlich, dass Wirecard eine solch große Summe vorstreckt, obwohl es sich bei den Firmen doch angeblich nur um Abwicklungspartner" handele. "Wofür brauchen die wirklich so viel Geld?"

Diese Frage sollte auch Eichelmann stellen. Bei seiner Erfahrung als Aufsichtsrat dürfte er das wissen. So diente er unter anderem als Vorsitzender bei der Münchner V-Bank, dem Automobildienstleister Edag und beim Baukonzern Hochtief. Zwar fühlten sich nicht immer alle Aufsichtsratsmitglieder der Firmen von Eichelmann gut informiert, aber im Großen und Ganzen attestieren sie ihm, einen ganz guten Job gemacht zu haben - auch Gewerkschafter, die ihn nicht geliebt haben. "Der hat die Herrschaften aus dem Vorstand auch mal rundgemacht", lobt ein Arbeitnehmervertreter.

Ein Alles-oder-nichts-Spiel wie bei Wirecard sei genau nach seinem Geschmack, sagen Personen, die ihm nahestehen. Allerdings ist das Risiko enorm.

Eichelmann haftet persönlich für Schäden, die entstehen, wenn er seine Kontrollpflicht verletzt. "Letztlich muss Eichelmann allen problematischen Punkten nachgehen, die der KPMG-Bericht aufwirft", sagt der Frankfurter Kapitalmarktrechtler Klaus Nieding. "Sonst gerät er selbst in die Haftung."

Bei Eichelmann wäre einiges zu holen. Er besitzt mehrere Häuser und mehr als ein Dutzend teure Sportwagen und Oldtimer. Vor allem als Chef der Vermögensverwaltung Aton soll er üppig verdient und insgesamt ein Vermögen in dreistelliger Millionenhöhe aufgebaut haben.

ES WIRD STÄNDIG NEU GERECHNET

Einen ersten Fehler könnte er gemacht haben, als er in einem Interview mit dem "Manager Magazin" im Januar zu verstehen gab, KPMG habe bislang nichts Relevantes zu Tage geführt. Ein Insider sagt zwar, das sei die Wahrheit gewesen. KPMG sei erst Anfang April nervös geworden, "als die Prüfer Unterlagen, die man ihnen zugesagt hatte, nicht erhielten". Ingo Speich von der Fondsgesellschaft Deka meint: "Eichelmann hat sich damit unnötig selbst unter Druck gesetzt." Für Unmut sorgt auch, dass Eichelmann kurz nach Erscheinen des KPMG-Berichts Braun das Vertrauen aussprach. Dadurch hinterließ er den Eindruck, die Erkenntnisse nicht ernst zu nehmen. Daraus abzuleiten, dass alle Vorstände mit Sicherheit an Bord bleiben, wäre aber falsch.

Ihre Verträge, die alle Ende 2020 auslaufen, wurden noch nicht verlängert. Wie es weitergeht, hängt auch davon ab, ob EY den Jahresabschluss 2019 uneingeschränkt testiert. Einer, der Eichelmann nahesteht, schätzt es so ein: "Wenn der Schaden durch Brauns Weggang kleiner ist, als wenn er bleibt, setzt Eichelmann ihn ab." Diese Rechnung werde permanent justiert.

Für Braun ist das neu. Der 50-Jährige ist genauso ein Alphamann wie sein Aufsichtsratschef, lässt sich genauso wenig einbremsen. Als Großaktionär von Wirecard, seit Gründung dabei und maßgeblich für den Erfolg verantwortlich, genießt er Autorität wie kein anderer Dax-Chef im eigenen Betrieb. Jetzt hat er einen starken Gegenspieler, von denen es aber noch mehr braucht.

Mit Susana Quintana-Plaza ist gerade eine fähige Aufsichtsrätin ausgestiegen. In Wirecard-Kreisen heißt es, der Rücktritt hänge mit ihrem neuen Job als Vorstand eines portugiesischen Energieunternehmens zusammen. Nur hat sie den Posten schon seit einem Jahr. Es fällt auch auf, dass sie weder zur Hauptversammlung noch zumindest zum Ende des Monats ging, sondern mit Wirkung zum 7. April zurücktrat, was Wirecard erst drei Wochen später bekannt gab, nachdem Quintana-Plaza das Ende ihrer Amtszeit auf ihrem LinkedIn-Profil vermerkt hatte. Das spricht nicht für einen Abschied in bestem Einvernehmen. In ihrem Umfeld heißt es, ihr neuer Job sei fordernd. Sie sei aber auch unzufrieden mit der Informationspolitik gegenüber dem Aufsichtsrat bei Wirecard gewesen. Wirecard erklärt, Quintana-Plaza habe einen Vorstandsposten übernommen. Über Aufsichtsratssitzungen berichte das Unternehmen nicht.

Im Konzern rechnen einige damit, dass auch die ehemalige Telekom-Managerin Anastassia Lauterbach den Aufsichtsrat im kommenden Jahr verlässt. Eichelmann und sie sind nicht die besten Freunde. Zudem geht 2021 auch der ehemalige Aufsichtsratsvorsitzende Wulf Matthias. Weil Eichelmann den Aufsichtsrat noch um zwei Personen erweitern will, braucht er insgesamt also fünf neue Kandidaten. Mit Hauke Stars, Vorständin der Deutschen Börse, ist jedoch erst eine neue Aufsichtsrätin gefunden.

Eichelmann nahestehende Personen zweifeln auch daran, dass er selbst die vollen fünf Jahre Amtszeit bei Wirecard bleibt. Zwar strebt er angeblich selbst keinen Chefposten mehr an. Aber er würde gerne bei unterschiedlichen Unternehmen in den Aufsichtsrat. Das ist neben einem so fordernden Job wie bei Wirecard aber kaum möglich.

Noch dazu braucht er Zeit für sein Hobby: schnelle Autos. Eichelmann fährt auch das eine oder andere der bei den Reichen beliebten Rennen, so die Kitzbüheler Alpenrally mit einem Porsche Targa. Krankhaft ehrgeizig sei er nicht, heißt es. Aber Erster werde er doch ganz gern.
Das ist umso verständlicher, seit er bei Wirecard ist. Denn große Siege kann er dort wohl eher nicht einfahren.

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Einschübe:

"Do you know who the owner of the company is?"
"The bosses are Oliver and Abdallah."
Infos über eine verschlossene Firma
Auszug aus einem Kurznachrichtenwechsel mit
einem ehemaligen Mitarbeiter von Al Alam

"How many people work in the office in Dubai?"
"When I was there, I just saw 3 persons with Oliver"

"He did all his calls about Wirecard in German language.
So when he was talking we couldn’t understand.
Even when he talked to Abdallah they were speaking
German."

„Das Büro ist klein, allenfalls eine Handvoll Mitarbeiter
hat dort gearbeitet“
EXMITARBEITER
über den Wirecard-Dienstleister Al Alam

225 Millionen Euro Gewinn erzielten
Wirecards Dubai-Töchter 2018.
Sie warfen damit sehr viel mehr ab
als andere Gesellschaften
des Zahlungsabwicklers rund
um den Globus

„Wir erhielten keine ausreichenden
Nachweise für diese Einnahmen“
WIRTSCHAFTSPRÜFER IN INDIEN
über Softwareumsätze einer Wirecard-Tochter

320 Millionen Euro war Wirecard der
Zahlungsabwickler Hermes 2015
inklusive Erfolgsprämie wert.
Kurz zuvor hatte die indische Firma
für 40 Millionen Euro den Besitzer
gewechselt

„Einer der Gründe für die Rückbuchungen
sind betrügerische Transaktionen“
WIRECARD-MITARBEITER
über einen Problemkunden

9,3 Millionen Euro hat der
von den Niederlanden bereits
bestrafte Glücksspielanbieter
Onisac laut interner Unterlagen
im ersten Halbjahr 2017 über
Wirecard transferiert

68 Prozent von Wirecards Konzern-
gewinn gehen auf eine Tochterfirma
in Dubai zurück, die wiederum einen
wesentlichen Teil davon mithilfe von
Partnerfirmen erwirtschaftet

„Der Konzern wäre bestens beraten, die
offenen Fragen überzeugend zu klären“
CHRISTIAN STRENGER
Experte für gute Unternehmensführung

1 Milliarde Euro hortete Wirecard Ende
2018 auf Treuhandkonten. Das Geld
dient Geschäftspartnern als Sicherheit.
Im Folgejahr soll die Summe
noch einmal deutlich gestiegen sein

„Letztlich muss Eichelmann allen
problematischen Punkten nachgehen“
KLAUS NIEDING
Frankfurter Kapitalmarktanwalt

250 Millionen Euro hat Wirecard zwei
Partnerfirmen als unbesicherte
Kreditlinie zur Verfügung gestellt. Sie
sollten das Geld an ihre Kunden
weiterverleihen

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Bildunterschriften:

Nebulöse Geschäfte und Schattenmänner
Das Emirat Dubai ist Schauplatz des
neuesten Kapitels in einer ganzen
Serie von dubiosen Vorkommnissen beim
Dax-Konzern Wirecard

Hier sitzt Al Alam: Die Al Kazim Towers in der Internet City von Dubai

Tür zu: An zwei Tagen klingelte [Medium]
bei Al Alam. Nur einmal wurde aufgemacht

Unheimlich erfolgreich:
Marcus Braun ist nicht nur Vorstandschef,
sondern auch größter Aktionär von Wirecard. Wert
seines Aktienpakets: rund eine Milliarde Euro

Zahlen-Mann:
Alexander von Knoop kam von der
Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PwC zu Wirecard.
Seit 2018 ist er Finanzvorstand

Nerven aus Stahl:
Wirecards Vorstandschef Braun
wehrt Angriffe auf sein
Unternehmen ab – teils souverän,
manchmal kaltschnäuzig

Dem Himmel so nah:
Mithilfe des Dienstleisters
Al Alam mit Sitz in
Dubais Al Kazim Towers
erwirtschaftet Wirecards Tochter
im Wüstenstaat
traumhafte Gewinne

Lukratives Landleben:
Verbraucher ohne Bankverbindung
können dank Wirecards
indischer Tochter Hermes in kleinen
Shops allerlei Finanzdienst -
leistungen abwickeln

Gute Aussichten und gute Geschäfte:
Der Glücksspielanbieter Onisac
logiert im britischen
Überseegebiet Gibraltar – und
war Wirecard-Kunde

Schwer durchschaubar:
Ein Gebäude reflektiert
den Wirecard-Sitz in
Aschheim bei München

Zwei Alphatypen: Aufsichtsratschef
Eichelmann (links) mag keinen
Widerspruch. Vorstandschef Braun
(rechts) eigentlich auch nicht

Wüsten-Connection: In Dubai macht Wirecard
viel Geschäft mit Al Alam. Nun wird
die Partnerfirma liquidiert. Welche Gesellschaft
die Geschäfte fortsetzt, ist geheim

Aufgehender Stern: Hauke Stars,
Vorständin der Deutsche Börse, soll
Wirecards Aufsichtsrat verstärken

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