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Der Mann, der Wirecard stürzte

Kasten: Um den Aufstieg und Fall von Wirecard nachzuzeichnen, hat ein Team von Reporterinnen und Reportern von [Medium], [anderes Medium] und [anderes Medium] Zehntausende E-Mails des Konzernvorstands ausgewertet, Vernehmungsprotokolle gelesen, ungezählte Stunden im Untersuchungsausschuss in Berlin verbracht und mit Dutzenden Beteiligten gesprochen. Der wichtigste Zeuge war Pav Gill. Das erste Treffen zwischen ihm und [Medium] fand im März 2019 in Singapur statt. In der Rooftop-Bar eines Hotels erzählte er seine Geschichte. Damals durfte noch niemand von dem Kontakt wissen. Besorgt um seine Sicherheit, bestand er darauf, dass man Chatprotokolle und Dokumente von seinem Handy abfotografierte, um keine Datenspuren zu hinterlassen. Wirecard sei zu allem fähig, sagte er damals. Fieberhaft verfolgte er seitdem aus der Deckung die Ereignisse – bis er sich nun selbst entschieden hat, in die Öffentlichkeit zu treten.


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Alle nannten ihn nur Pav. Er war Jurist bei Wirecard in Singapur. Seine Informationen deckten einen Skandal auf, dessen Dimension auch er nicht einmal ahnen konnte. Der Fall Wirecard: Rekonstruktion einer Enthüllung

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Er also. Jurist, 37 Jahre alt, Single, randlose Brille, die Haare schon grau. Lebte mit seiner Mutter zusammen. Nur ein Jahr in der Firma gewesen, weit weg von der deutschen Zentrale, in Singapur. Pav nennen ihn die, die ihn kennen, Pav nannten sie ihn auch bei Wirecard. Mit vollem Namen heißt er Pavandeep Gill, war einer von 6000 Angestellten, die das Fintech-Unternehmen mal hatte, als es noch die heißeste Wette an der Börse war. „Multibagger“ nennen Aktien-Nerds Firmen, die ihren Kurs vervielfachen. Der Wert einer Wirecard-Aktie hatte sich vorübergehend verfünfzigfacht.

Vor gut einem Jahr lag Wirecard in den letzten Zügen, im Juni 2020 ist die Firma kollabiert. Die Geschichte des Aufsteigers, dem alles gelang und dem keiner was konnte: vorbei. Heute steht Wirecard für den größten Wirtschaftsbetrug der Bundesrepublik, für einen Skandal ohne Beispiel.

23 Milliarden Euro weg. An der Börse vernichtet.

All die Beziehungen der Wirecard-Bosse in die Politik, all ihre Drähte in die Welt der Geheimdienste, das ganze Heer an Beratern, das Wirecard beschützen sollte - sie waren machtlos gegen die Kraft der Information. Ein einziger Mitarbeiter, ein kleiner Punkt im riesigen Organigramm des Konzerns, lieferte die Beweise, die Wirecard zum Einsturz brachten.

Bis zum heutigen Tag wusste man nicht, wer es getan hat. Bis zum heutigen Tag wusste man nicht, warum er es getan hat. Bis heute wusste man nicht, wer die Quelle war – der Wirecard-Whistleblower.

Vor ein paar Tagen hat er seine neuen Kollegen informiert: Es könne bald ein wenig unruhig werden. Sein Name werde in Zeitungen auftauchen, sein Gesicht im Fernsehen gezeigt werden, und das im Zusammenhang mit einem gigantischen Wirtschaftsskandal. „Ich habe ihnen erklärt, was ich gemacht habe, und sie haben mir gesagt, dass sie stolz auf mich sind“, sagt Pav Gill.

Die früh ergrauten Haare, die randlose Brille, alles wie immer, nur das dunkelblaue T-Shirt trägt er zum ersten Mal, der Namenszug seines neuen Arbeitgebers steht drauf. Pav Gill ist jetzt der Chefjurist einer jungen thailändischen Firma, er überwacht, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Um 8.30 Uhr beginnen die ersten Videokonferenzen, die letzte endet oft erst gegen Mitternacht.

Bis vor seinem Umzug nach Bangkok im Herbst 2020 konnte man ihn beinahe zu jeder Tages- und Nachtzeit in seinem früheren Zuhause in Singapur erreichen. „Ich habe Netflix geguckt und auf den Kurs von Wirecard“, sagt er im Videogespräch. Zwei Jahre lang verfolgte er jede Wendung, jede Nachricht über den Finanzdienstleister aus Deutschland, der an der Börse einmal mehr wert war als die Deutsche Bank. Nur ein Jahr lang war Gill Teil dieses Kurswunders gewesen, als Jurist der asiatischen Niederlassung von Wirecard. Aber dieses eine Jahr war lang genug, um zu erkennen, dass in dieser Firma etwas ganz gewaltig nicht stimmte.

Am 25. Juni 2020 meldete der Konzern aus dem nahe München gelegenen Aschheim Insolvenz an, das Unternehmen löste sich von einem Tag auf den anderen in seine Bestandteile auf. Es war eine weltweit beachtete Pleite, weil Fintech-Firmen eigentlich die Zukunft versprechen: die Digitalisierung des Finanzmarkts mit dem Einsatz moderner Technologien, das schnelle, sichere Bezahlen im Netz, den Abschied vom Bargeld. Sie entwickeln, statt abgewickelt zu werden. Außerdem hat noch nie ein im deutschen Top-Aktien-Index Dax notierter Konzern Insolvenz angemeldet. So gut wie nichts an Wirecard hatte offenbar gestimmt, die Bilanzen sollen gefälscht, Umsätze erfunden, der Börsenkurs manipuliert gewesen sein. Milliarden lösten sich in Luft auf.

Und er, Pav Gill, hat maßgeblich dazu beigetragen, dass das alles ans Licht kam. Reporterinnen und Reporter von [Medium], [anderes Medium] und [anderes Medium] begleiten den Wirecard-Skandal seit vielen Monaten und rekonstruieren die Geschichte einer Aufdeckung.

Gill war 2017 von einem Headhunter für Wirecard angeworben worden, als Leiter der Rechtsabteilung in Asien. Er freute sich auf den Job bei der deutschen Firma, empfindet sich als pflichtbewusst, fleißig und gut organisiert, das sollte doch passen zu einem Unternehmen aus Deutschland, dem Land der gut organisierten, pflichtbewussten Fleißbienen. Im Herbst jenes Jahres fing er in Singapur an, aber schon ein Jahr später unterzeichnete er einen Aufhebungsvertrag – und zwischendrin blickte er in den Abgrund einer Firma außer Rand und Band.

Zweifel an der Seriosität von Wirecard hatte es schon viele gegeben, besonders deutlich wurden sie 2016 im sogenannten Zatarra-Report, einem analytischen Verriss auf 101 Seiten. Eine damals noch anonyme Gruppe von Aktienhändlern, deren Geschäftsmodell das Wetten auf fallende Kurse war, hatte den Text ins Netz gestellt. Solche Händler, sogenannte Shortseller, schauen gezielt hinter die schönen Kulissen von Firmen, ob da Zahlen verborgen sind, die nicht zusammenpassen. Bei Wirecard passte ihrer Meinung nach vieles nicht zusammen, vor allem nicht Umsatz, Cashflow und Gewinn. Aber der Konzern tat das nur als feindliche Attacke böswilliger Spekulanten ab, die den Kurs nach unten drücken wollten, um davon zu profitieren. Zatarra mag der schwerste Sturm gewesen sein, der bis dahin übers Wirecard-Paradies gezogen war, aber beileibe nicht der erste. Und Wirecard hat alles überstanden, weil es zwar Indizien gab, aber nie Beweise dafür, dass die Firma falsch spielte.

Aber Pav Gill hatte Beweise. Er sah, dass Teile des Asiengeschäfts von Wirecard, das die traumhaften Umsatzsteigerungen des Konzerns fast alleine erwirtschaftete, womöglich nur auf dem Papier existierten. Er fand gefälschte Rechnungen und erfundene Kunden. Er versuchte, die Zentrale des Konzerns in Aschheim zu alarmieren, und hoffte, die würden sich kümmern. Dafür war er doch da: der Jurist, der garantieren sollte, dass die Geschäfte legal laufen. Doch nichts geschah – bis Gill sein Wissen nach draußen trug. Er ist der Whistleblower, der einen Dax-Konzern zu Fall brachte – und sich bis heute nie öffentlich zu erkennen gab.

Der Zusammenbruch von Wirecard wird die Justiz noch auf Jahre beschäftigen. Vom oberbayerischen Aschheim, direkt an der A 99 gelegen, spinnen sich die Fäden übers nahe gelegene München nach Berlin, nach Minsk und Wien, Singapur und Dubai. Das Netz verbindet die Welt der Börsenwirtschaft mit der Finanzpolitik und der Justiz, mit Medien, Lobbyisten, Spekulanten, Kontrolleuren und Geheimdiensten. Es geht um Reichtum, den jeder sehen konnte, und um Geld, das nie jemand gesehen hat – weil es wahrscheinlich nur auf dem Papier existierte. Und es geht um den schier unerschütterlichen Glauben von Anlegern und Aufsichtsbehörden an ein Unternehmen, das das Zeug zu haben schien, den analogen Finanzstandort Deutschland mit seinen altehrwürdigen Banken in die digitale Moderne zu bringen.

Facebook, Apple, Amazon? Wirecard! Das Unternehmen war die Chance für all jene, die die wundersame Geldvermehrung der großen amerikanischen Silicon-Valley-Pioniere verpasst hatten. Wer 1980 für 10.000 Dollar Apple-Aktien gekauft und bis heute behalten hätte, dessen Depot wäre heute mehr als 220.000 Dollar wert. Wirecard konnte so etwas auch: Auf dem Höhepunkt 2018 war eine Aktie, die man im Jahr 2005 noch für vier Euro kaufen konnte, 197 Euro wert. Wer damals 10.000 Euro auf die große Aschheimer Zukunft gewettet hatte, saß 13 Jahre später auf einem Aktienwert von fast einer halben Million.

Wirecard triggerte die Gier und betäubte die Vernunft. Auch deshalb haben so viele Kleinanleger ihr ganzes Geld verloren.

Deutschland, das war einmal das Land der Sparstrümpfe, des Weltspartags, des Prämiensparens. Vor 25 Jahren ertasteten die Deutschen mithilfe des Börsengangs der Telekom den Aktienhandel wie Neuland, sie konnten jetzt die Telekom nicht nur mit ihren Telefongebühren reich machen, sie konnten auch selbst an diesem Reichtum partizipieren. Schauspieler priesen die Aktie für jedermann in Werbespots an wie Rasierwasser und Hundefutter.

Heute besuchen Kleinanleger Messen wie die Invest in Stuttgart, wo sie mit Bankberatern, Vermögensverwaltern, Maklern und Dienstleistern aus der Finanzwelt nach dem nächsten großen Ding fahnden. Nach der noch unentdeckten Goldmine. Der Handel mit Aktienoptionen, so chancenreich wie risikobehaftet, wächst stetig. Auf der guten alten D-Mark mag das Wirtschaftswunder aufgebaut gewesen sein – aber mit einer Kryptowährung kann man vielleicht über Nacht zum Millionär werden. Alles ist möglich.

Wirecard galt zu seinen besten Zeiten als Geldvermehrungsmaschine, als Versprechen für ewiges Wachstum, als baldige Nummer eins unter den börsennotierten deutschen Unternehmen. Der nächste König im Dax. Im Konzern reiften Pläne, so wertvoll zu werden, dass man gar – so größenwahnsinnig es auch klingen mag – die Deutsche Bank übernehmen könne. Nachdem Wirecard im September 2018 schon eine andere Bankengröße aus der deutschen Aktien-Hitparade verdrängt hatte, die Commerzbank, gab die Firma offiziell das nächste Ziel bekannt: die Nummer eins im Dax zu werden. Vor Daimler, Siemens, Allianz oder der Telekom. Geldhäuser und Old Economy waren gestern – heute ist Fintech. Das Unternehmen stand kurz davor, eine Sponsor-Partnerschaft mit dem FC Bayern München einzugehen. Groß denken als Firmenmotto, das galt noch bis weit ins vergangene Jahr.

Die Story, die Wirecard Anlegern verkauft hatte, war gut und leuchtete selbst Laien ein, die vom Bezahlen im Internet, von Banken und dem Finanzwesen wenig Ahnung haben. Alles digital, global und effizient. Alles klang nach Zukunft.

Vereinfacht gesagt, war Wirecard eine Art virtueller Geldbote: Während in München ein Kunde auf den Bestellknopf bei Zalando klickt, tippt in Mumbai gerade jemand seine Kreditkartendaten bei einer Fluggesellschaft ein, bestellt ein anderer in Hongkong nach einem langen Arbeitstag Essen nach Hause. Die Kunden erhalten Schuhe, Tickets und Pizza, von ihren Konten verschwindet Geld. Der Prozess läuft überall auf der Welt gleich ab, Bestellen im Internet ist als Kulturtechnik universell. Was im Hintergrund passiert, bekommen die Kunden nicht mit. Es funktioniert einfach, im Netz wie an der Kaufhauskasse: Karte auflegen, piep, fertig.

Zahlungsabwickler wie Wirecard organisieren den digitalen Geldfluss, vernetzen Händler, Banken, Kreditkartenfirmen und Kunden. Jedes Mal, wenn Geld durchs Internet geschickt wird, kassieren sie eine kleine Gebühr. Und weil immer mehr Menschen bargeldlos zahlen, online einkaufen und Internet-Dienste nutzen, ist die Rechnung einfach: mehr Zahlungen, mehr Gebühren, mehr Umsatz für die virtuellen Geldboten.

Wirecard konnte jedes Element dieser im Detail höllisch komplizierten Prozesse abdecken: Die im Jahr 1999 gegründete Firma aus der Münchner Vorstadt stellte die Software zur Verfügung, mit der Online-Händler verschiedene Lösungen zum Bezahlen auf ihren Webseiten anbieten, genau wie Supermärkte Kartenterminals an ihren Kassen. Wirecard wickelte die Datenverarbeitung ab, damit bei jedem der vielen Millionen Bezahlvorgänge die richtigen Daten auf den Servern der richtigen Banken und Kreditkartenfirmen landen. Rund um den Globus, über alle Zeitzonen hinweg.

Globalisierung, technischer Fortschritt, Konsum – das sind drei wesentliche Elemente im Periodensystem der Moderne. Daraus baute Wirecard sein Geschäftsmodell, das der Vorstandvorsitzende, der in Wien geborene Markus Braun, 51, im schwarzen Rollkragen-Outfit verkaufte wie eine Art Möchtegern-Steve-Jobs. Noch würden 80 Prozent der Menschheit mit Bargeld bezahlen, sagte der promovierte Wirtschaftswissenschaftler 2018, bald würden 80 Prozent ihr Geld mit dem Handy verschicken. Es sei genug Geschäft für alle da, Wirecard müsse nicht mal anderen etwas wegnehmen – es würde eben „den Kuchen größer machen“. Er sei der Kuchenvergrößerer, sagte Braun. Und für Wirecard sollte wohl das größte Stück abfallen.

Seine rechte Hand war Jan Marsalek, 41, auch Österreicher. Er war erst 20, als er Anfang des Jahres 2000 in den Konzern kam, der damals noch Wire Card hieß. Braun stieß im Herbst 2000 dazu, erst als Berater in Diensten der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG, 2001 wurde er schon Vorstandsvorsitzender. Ob Braun in dem jungen Marsalek, der ohne Ausbildung, ohne Studium, sogar ohne Abitur seine Heimatstadt Wien verlassen hatte, schon den Macher sah, der er später wurde?

Marsalek kannte sich damals mit einem speziellen Internet-Protokoll aus, das Wirecard brauchen konnte; es war der Start in eine Karriere, die ihn bis in den Vorstand führte. 2010 stieg Jan Marsalek zum COO – Chief Operating Officer – auf und war unter anderem für das gesamte Asien-Geschäft des Konzerns zuständig, jenen Teil der Bilanz, der dem Unternehmen jahrelang sein fabelhaftes Wachstum verschaffte – und später das Genick brechen sollte. Zeitweise sah Braun Marsalek als Nachfolger auf dem Vorstandsthron.

Die beiden besetzten das Machtzentrum bei Wirecard, jeder auf seine Weise gut vernetzt. Marsalek bereiste die Welt, Braun regierte vornehmlich aus seinem Büro. Das politische Berlin mieden sie eher, die Lobbyarbeit dort überließen sie überwiegend einem hochbezahlten Heer von Beratern. Einladungen ins Finanzministerium, obligatorisch für die einflussreichen Konzernlenker der Republik, schlug Braun meistens aus, heißt es von dort. Er besuchte lieber seinen Landsmann Sebastian Kurz, den österreichischen Bundeskanzler, dessen ÖVP er auch mit einer großzügigen Spende unterstützte.

In Bayern nutzte Wirecard gern die Seilschaften in der CSU, aber dem Fintech-Rat des Bundesfinanzministeriums – einer Ansammlung innovativer Unternehmensführer, die die Behörde in Fragen der Digitalisierung des Finanzmarkts berät – gehörte nie jemand von Wirecard an. Aufmerksamkeit suchen, wo sie ungefährlich ist, sich zurückhalten, wo die Kontrolleure lauern: Fast sieht es wie eine Strategie aus, die lange gutgegangen ist.

Aber nicht lang genug.

Heute wartet der ehemalige Vorstandsvorsitzende Braun als Untersuchungshäftling in der Justizvollzugsanstalt Augsburg-Gablingen auf seinen Prozess, nach Ansicht des Münchner Oberlandesgerichts besteht anhaltende Flucht- und Verdunklungsgefahr.

Sein damaliger Vorstandskollege Marsalek ziert die Fahndungsplakate von Interpol, er ist seit dem 19. Juni 2020 untergetaucht – auch eine Premiere für einen Dax-Vorstand. Heute sind die meisten seiner Einträge in den üblichen Business-Netzwerken gelöscht, dafür finden sich Teile seines Lebenslaufs auf der Fahndungsseite des Bundeskriminalamts (BKA), verbunden mit drei Fragen: „Haben Sie Jan Marsalek seit Juni 2020 gesehen? Können Sie Hinweise zum aktuellen Aufenthaltsort des Flüchtigen geben? Haben Sie Bild- und/oder Videodateien, die den Gesuchten zeigen?“

Das vorläufige Fazit des Wirecard-Skandals liest sich wie der Polizeibericht einer Massenkarambolage. Mehr als 23 Milliarden Euro an Aktienvermögen sind durch die Pleite vernichtet worden, das Geld von Kleinanlegern genauso wie das Kapital von Investmentfonds. 1,9 Milliarden Euro, etwa ein Viertel der Bilanzsumme von Wirecard, haben wahrscheinlich nie existiert; die mutmaßlich frisierten Bilanzen entlockten Banken und Investoren mindestens noch einmal 3,2 Milliarden Euro. Fast alles weg.

Bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, der Bafin, musste der Chef Felix Hufeld gehen, weil seine Aufsichtsbehörde im Fall Wirecard zu lange eine Wegsehbehörde gewesen war. Der Parlamentarische Untersuchungsausschuss des Bundestags, der das Versagen der Politik aufklären soll, hat bisher 103 Zeugen schriftlich oder mündlich befragt, auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Vizekanzler Olaf Scholz (SPD).

Außer Braun sitzen zwei weitere ehemalige Top-Manager in U-Haft, die Staatsanwaltschaft ermittelt insgesamt gegen mehr als 30 Personen. Nach Beweisen und Zeugen sucht sie nicht nur in Deutschland, sondern unter anderem auch in Russland, Litauen, Belarus, Singapur, in der Schweiz und im Vereinigten Königreich.

Die Liste der möglichen Vergehen ist lang: schwerer Bankenbetrug, Marktmanipulation, Geldwäsche, Bilanzfälschung, gewerbsmäßiger Bandenbetrug.

Der Ruhm, Wirecard erschüttert zu haben, wurde vor allem dem Journalisten Dan McCrum, 42, zuteil. Der Reporter der Financial Times ist mit Preisen und Lob überschüttet worden für die Aufdeckung des Skandals. Als ihm im vergangenen Jahr der deutsche Reporterpreis verliehen wurde, würdigte der Laudator, Finanzminister Olaf Scholz, McCrums „große Verdienste um den Rechtsstaat, unser Gemeinwesen und den Finanzstandort Deutschland“.

Doch ohne Pav Gill wäre seine Arbeit nicht möglich gewesen. Er hat McCrum und anderen Journalisten Zehntausende E-Mails und Dateien zur Verfügung gestellt, damit sie sich den Konzern und sein Treiben genauer ansehen. Gill ist auch die zentrale Figur der 90-minütigen Dokumentation „Wirecard – die Milliarden-Lüge“ der Münchner Produzentin Gabriela Sperl, die ab diesem Donnerstag auf dem neuen Crime-Kanal des Abo-Senders Sky abrufbar ist und im Herbst auch in der ARD ausgestrahlt wird. Ohne Gill wäre die Kriminellen Machenschaften von Wirecard mit Sicherheit erst viel später aufgeflogen, vielleicht sogar gar nicht.

„Ich habe es nie darauf angelegt, diese Firma entlarven“, sagt er heute aus der Perspektive seines neuen Lebens in Bangkok. Er habe nur seinen Job gemacht, in der Hoffnung, „die Firma von ein paar faulen Äpfeln zu befreien“.

Wirecard war etwas für Spezialisten, eine Firma, die man nicht sah, aus einem Ort, den kaum jemand kennt. Aschheim, nordöstlich von München gelegen, knapp 9500 Einwohner. Dort, am Einsteinring 35, hat inzwischen Michael Jaffé, 58, Einzug gehalten, einer der renommiertesten Insolvenzverwalter des Landes. Er hat einst schon den Konzern des Medien-Moguls Leo Kirch abgewickelt.

Seit ihn das Münchner Amtsgericht am 29. Juni 2020 zum vorläufigen Insolvenzverwalter bestellte, versucht sich Jaffé mit etwa 100 Juristen und Wirtschaftsprüfern einen Überblick über das Vermächtnis der früheren Wirecard-Lenker Markus Braun und Jan Marsalek zu verschaffen. Zuerst mussten sie das Firmenknäuel entwirren, das sich unter dem Dach der Wirecard angesammelt hatte. 58 Tochtergesellschaften konnten sie identifizieren.

Ende Februar hat Jaffé die Firmenschilder vom grauen Gebäude in Aschheim nehmen lassen, blaue Buchstaben auf weißem Grund, ein roter Punkt auf dem „i“. Das Abschrauben kostete 3807,05 Euro; die Schilder stehen jetzt, gut gesichert, in einer Garage in der Münchner Maxvorstadt. Man könnte sie ohne Weiteres im Bonner Haus der Geschichte der Bundesrepublik ausstellen, als Symbol für die Hybris des Tech-Zeitalters.

Die Nachlassverwalter der Wirecard AG versuchen, wenigstens einige Sternschnuppen aus dem implodierten Konzern-Kosmos zu retten und zu verkaufen. Die Töchter in den USA, in Asien, Australien und der Türkei, auch das Geschäft in Brasilien und Großbritannien ist Jaffé inzwischen losgeworden. Mit dem Verkauf des Kerngeschäfts, darunter die Wirecard-Bank, an die spanische Banco-Santander-Gruppe sicherte er immerhin 500 Arbeitsplätze in Aschheim. Zwei Drittel der einst 6000 Mitarbeiter weltweit verloren hingegen ihre Jobs.

„Nichts in diesem Verfahren ist einfach“, sagt Jaffé, „wir stoßen überall auf den größtmöglichen Widerstand.“ Als er etwa Kontakt zu einem Wirecard-Treuhänder in Manila aufnehmen wollte, der die angeblichen Wirecard-Milliarden verwaltet haben soll, blitzte er direkt ab. Ohne beglaubigte Vollmacht sei da nichts zu machen, kein Gespräch möglich. Die möge Jaffé doch bitte zunächst auch dem philippinischen Konsulat zur Absegnung vorlegen. Doch die Diplomaten verweigerten die Unterschrift. Eine Kooperation bei der Aufarbeitung der Milliardenpleite scheint auf den Philippinen nicht erwünscht zu sein.

Zwischen 600 und 700 Millionen Euro hat der Insolvenzverwalter bisher dennoch durch den Verkauf von Konzernteilen eingenommen, bei denen es wirklich Geschäft gab. Mehr als eine Milliarde Euro wird es kaum werden. Das klingt viel – ist aber wenig im Vergleich zu den Forderungen. 3,2 Milliarden Euro haben die Banken und Investoren verloren. Fast noch einmal zehn Milliarden Euro wollen geprellte Anleger zurückhaben. 42.500 Aktionäre haben sich in die Gläubigerliste eintragen lassen.

An materiellen Werten ist ansonsten nicht viel da, vom 180.000-Euro-Maybach, in dem sich Firmenchef Braun zur Arbeit fahren ließ, bis zur Vorzimmer-Grünpflanze war alles nur geleast.

Es ähnelt den Aufräumarbeiten nach einem Hurrikan: ein Trümmerfeld, was ist noch heil, was kann weg?

Der Anfang vom Ende für Wirecard lässt sich auf Frühjahr 2018 datieren. Damals meldete sich eine Mitarbeiterin beim Hausjuristen Pav Gill. Sie erzählte ihm, sie habe Edo K., den Finanzchef von Wirecard in Asien, dabei beobachtet, wie er in einem Konferenzraum mit Filzstift Geldkreisläufe auf eine Präsentationstafel gemalt habe, vermeintliche Gewinne, die zwischen Tochterfirmen verschoben werden sollten. Es sei offenbar um erfundene Firmen und Scheinumsätze gegangen – also um einen groß angelegten Betrug, präsentiert von einem hochrangigen Manager. Die Mitarbeiterin übergab Gill auch entsprechende Dokumente.

Der Indonesier Edo K., obwohl erst Anfang 30, war damals einer der mächtigsten Männer im Konzern, der engste Vertraute von Jan Marsalek in Singapur. Bis Mitte 2017 hatte Edo K. in der Zentrale in Aschheim gearbeitet. Er ist heute für eine Stellungnahme nicht zu erreichen, seine alten Telefonnummern sind abgeschaltet.

Über den ungeheuren Verdacht informierte Gill seinen Kollegen Royston N., der sich bei Wirecard in Asien um das Thema Compliance kümmerte, also um rechtlich und ethisch einwandfreies Geschäftsgebaren. N. war früher einmal Staatsanwalt in Singapur gewesen, die Strafjustiz im Stadtstaat ist wegen ihrer Strenge gefürchtet. Wer dort auf einer öffentlichen Toilette die Spülung nicht zieht, kann mit umgerechnet rund 90 Euro Geldbuße belegt werden, ein fremdes Wlan zu nutzen, auch wenn es nicht passwortgeschützt ist, ist mit bis zu drei Jahren Gefängnis belegt.

Gill und N. wussten: Sollten sich die Vorwürfe erhärten, könnten die Behörden schnell und unerbittlich handeln, vor allem das Commercial Affairs Department (CAD) der Singapurer Polizei. Wer diese Einheit einmal an den Fersen hat, wird sie so bald nicht los.

Die beiden Juristen verständigten daher die Konzernzentrale in Deutschland. Wenig später, am 17. April 2018, richtete Daniel S., der damalige stellvertretende Leiter der Rechtsabteilung in Aschheim, eine Chatgruppe bei Telegram ein, die er „SG Compliance“ nannte, SG steht für Singapur. „Es lief alles nach Lehrbuch. Es gab einen Verdacht, und wir haben ihn überprüft, mit Zustimmung der Rechtsabteilung in Deutschland“, erinnert sich Pav Gill.

Für gut drei Wochen funktionierte die Compliance bei Wirecard, wie man es sich bei einem Dax-Konzern vorstellt. Daniel S. sorgte dafür, dass aus Deutschland Kopien der E–Mail-Postfächer von Edo K. und dessen engsten Mitarbeitern nach Singapur überspielt wurden. Pav Gill und Royston N. machten sich an die Arbeit. „Wir haben die Nächte durchgeackert“, erzählt Gill, und was sie fanden, „war unglaublich. Es wurden Rechnungen rückdatiert, Firmen erfunden und Logos auf Briefköpfe montiert“.

Auch [Medium] hat die Unterlagen später einsehen können, auf die Gill und N. damals stießen und auf denen die Veröffentlichungen der Financial Times beruhten, die Wirecard schließlich zu Fall brachten.

Im März 2019 bahnte eine Textnachricht den [Medium]-Kontakt an: „Bitte komm ins Mount Elizabeth Hospital“, das ist eine Privatklinik im Herzen von Singapur. „Level 5, Ward 5A, Bed 5607.“ Dort, auf der onkologischen Station, hinter einem grauen Raumteiler und gehüllt in einen Bademantel, kauerte sie auf der Kante von Bett 5607: Sokhbir Kaur, damals 57 Jahre alt. Sie ist die Mutter von Pav Gill, seine Vertraute, Freundin und Beschützerin – aber vor allem ist sie die Hüterin des Wirecard-Schatzes.

Eine Woche zuvor hatte man ihr einen Teil des rechten Lungenflügels entfernt, das Reden strengte sie an. Den Tumor hatte man durch Zufall entdeckt, nachdem sie Anfang Januar 2019 einen Schlaganfall erlitten hatte. „Wirecard bringt mich noch um“, sagte Kaur damals im Krankenhaus. „Die Welt muss erfahren, was für ein krimineller Konzern Wirecard ist. Morgen wirst Du Material erhalten, Daten, mehr als 50 Gigabyte. Du wirst sehen, dass das kein normales Unternehmen ist. Ich werde jetzt ein paar Anrufe machen und veranlassen, dass unser Schatz geholt wird.“

Deponiert war alles bei der Oma, sie war einst nach Singapur eingewandert, kann kaum lesen und schreiben. Einen USB-Stick hat sie noch nie benutzt. Das Codewort für sie lautete „Panjiri“. So nennt man im Punjab, im Norden Indiens, wo sie geboren wurde, ein Gericht, das man Müttern serviert, die gerade entbunden haben: Mehl, viel Zucker, das Speisefett Ghee und reichlich getrocknete Früchte, eine wahre Kalorienbombe. Und Sprengstoff enthielt der USB-Stick schließlich auch. Er jagte einen Dax-Konzern in die Luft.

Gut ein Jahr zuvor, am 20. April 2018, meldete der ehemalige Staatsanwalt N. in der Chat-Gruppe: „Es sieht so aus, als sei das Thema größer, als wir anfänglich dachten.“ Millionenüberweisungen nach Malaysia und Hongkong, dazu Firmen mit obskuren Namen: Flexi Flex oder Right Momentum Consultancy. Der Geschäftszweck: unbekannt. Was passierte da?

Heute ahnen die Ermittler, wozu diese Scharade diente. Heute wissen sie, welches Geheimnis firmenintern um das Asiengeschäft von Wirecard gemacht wurde. Es sei, notierte die Justiz in einigen der bislang ergangenen Haftbeschlüssen, auf Verschleierung angelegt gewesen. Wenn in der Bilanz des Konzerns Lücken waren, wenn Plan und Ziel nicht zusammenpassten, zauberten die Verantwortlichen bei Wirecard demnach Umsatzzahlen hauptsächlich aus dem in Asien angesiedelten sogenannten Drittanbietergeschäft herbei. Niemand im Konzern habe sich erklären können, woher die Gewinne eigentlich stammten. „Magic Accounting“ habe man diese wundersame Art der Bilanzauffrischung in Wirecard-Kreisen daher genannt, halb ehrfürchtig, halb verblüfft. Wenn ein Ziel verfehlt zu werden drohte, das Markus Braun im Sinne der erwartungsfrohen Investoren vorgegeben hatte, hieß es plötzlich, Jan Marsalek habe noch einen besonderen Deal gemacht. Und plötzlich stimmte die Bilanz.

Vielleicht lässt sich so erklären, wieso Wirecards Umsatz nicht wie in anderen Unternehmen in Wellen verlief, sondern nur eine Richtung kannte: steil bergauf. Egal, was in der Welt passierte. Für Wirecard gab es keine Konjunkturdelle und keine Finanzkrise, auch schärfere Gesetze für die Zahlungsabwicklung im Internet oder Verbote für die Kreditkartennutzung beim Online-Glücksspiel fochten den Internetbezahldienstleister nicht an.

Von Marsalek gibt es Urkunden und Fotos, die belegen, dass er schon mal mit einem Kampfflugzeug vom Typ Mig-29 durch die Stratosphäre geflogen ist. Wer diese Fliehkräfte aushält, kann vielleicht auch die Schwerkraft des Marktes überwinden. Marsalek war offenbar der Garant dafür, dass die Umsatzkurve von Wirecard wie an der Schnur gezogen aufwärts zeigte. Magic!

Im April 2018 entschieden die drei Juristen Pav Gill, Royston N. und Daniel S., eine Anwaltskanzlei hinzuzuziehen. Die Wahl fiel schnell auf Rajah & Tann. Einer der Partner dort hat viele Jahre die Rechtsabteilung der gefürchteten Singapurer Finanzpolizei CAD geleitet und ist Autor des Lehrbuchs „Financial Crimes in Singapore“. Wenn einer die Behörde einschätzen konnte, dann er.

„Wir haben den Anwälten unsere Erkenntnisse vorgelegt und alles beinahe mundgerecht serviert“, sagt Gill. Sonst wäre es auch wohl nicht zu schaffen gewesen, in weniger als zwei Wochen einen fast 30-seitigen vorläufigen Bericht zu verfassen. Am 4. Mai 2018 war das Papier fertig, und das hatte es in sich: Der Anfangsverdacht gegen Edo K. habe sich bestätigt, heißt es darin. Zudem seien weitere „Missetaten“ aufgefallen: K. und zwei Mitarbeiter hätten mutmaßlich Urkunden gefälscht und fragwürdige Zahlungen veranlasst; offenbar wollten sie die schlechte Finanzlage einzelner Wirecard-Tochterfirmen frisieren. Möglicherweise, so die Juristen und Prüfer, seien aber auch noch weit schwerwiegendere Straftaten passiert: Betrug, Korruption oder Geldwäsche.

„Jeder, der sich das Material ansieht, weiß, dass Edo und seine Leute nichts Gutes im Schilde führten – die Beweise waren unwiderlegbar. In jedem anderen Unternehmen wären sie sofort suspendiert, wahrscheinlicher sogar gekündigt worden“, sagt Pav Gill.

Die Anwälte nahmen zum Beispiel Anstoß an einer Tochterfirma in Hongkong, mit der Wirecard den Prepaid-Markt der chinesischen Sonderverwaltungszone erobern wollte. Die Tochter brauchte ein Mindestkapital und bekam es aus Deutschland überwiesen. Eine Kapitalerhöhung der AG, doch in Wahrheit war es eine Luftbuchung: Die zwei Millionen Euro tauchten nur sehr kurz in der Bilanz der Hongkonger Wirecard-Tochter auf und flossen rasch wieder ab. Gut ein Dutzend solcher Scheinbuchungen machten die Anwälte ausfindig. Der Verdacht damals lautete: Bei Wirecard könnte Geld im Kreis zirkulieren, um immer wieder andere Finanzlöcher zu stopfen.

Dass Wirecard ein einziges schwarzes Loch gewesen sein könnte, vermochte sich damals keiner auch nur vorzustellen.

„Mir war aber klar“, sagt Gill, „wenn das Asiengeschäft zu einem großen Teil falsch bilanziert ist, hat das Auswirkungen für den gesamten Konzern.“ Das bedeutete automatisch: Es war ein Thema für den Vorstand.

Der Vorstand wäre tatsächlich die richtige Adresse gewesen – in einem Konzern, der bestrebt ist, nach Recht und Gesetz zu handeln. Missstände in einem Unternehmen können auftreten, Abteilungen können sich verselbstständigen – so etwas passiert, wenn man wie Wirecard Tausende Menschen beschäftigt, an allen möglichen und unmöglichen Orten der Welt. Und Wirecard war überall, in Thailand, auf den Philippinen, in Malaysia, den USA, Jordanien, in Irland, Dubai, Singapur, wollte nach China, gründete Tochtergesellschaften und Beteiligungsfirmen, arbeitete mit einem Heer von Drittpartnern, die entweder gar nicht existierten oder Scheinriesen waren mit Firmenadressen, an denen nie Mitarbeiter anzutreffen waren.

Ob aber jemals irgendjemand im Aschheimer Konzernvorstand wirklich die Absicht hatte, darauf zu achten, dass in diesem wuchernden Gestrüpp keine kranken Triebe wachsen, bezweifeln die Ermittler. Im Gegenteil, sie gehen eher davon aus, dass der undurchsichtige Firmenverhau auch der Verschleierung diente, dass der engste Vorstandskreis womöglich nur so die Geschäfte verstecken konnte, die seine brillanten Bilanzen garantierten.

Dem Aufsichtsrat gegenüber, dem Gremium, das die Geschäfte kontrollieren sollte, konnten sich Braun und Marsalek offenbar stets behaupten – jeder auf seine Art. Aus Vernehmungen von Ratsmitgliedern geht hervor, dass Marsalek in Gesprächen einnehmend gewesen sei, eine „echte Sales-Maschine“. Braun hingegen habe aufbrausend werden können und sich sogar über Nachrichten des Aufsichtsratschefs beklagt – der Vorstandsvorsitzende habe, so ein Zeuge, „nicht mit E-Mails bombardiert“ werden wollen. Braun habe sich dem Aufsichtsrat gegenüber regelrecht diktatorisch verhalten und vehement Personalentscheidungen durchgesetzt, die das Kontrollgremium kritisch gesehen habe.

Als zwei Monate vor der Wirecard-Pleite offenbar die Ablösung Brauns als Vorstandschef im Raum stand, drohte er angeblich, die Hedgefonds seien nun fast schon da, wo sie sein wollen – und ob der Aufsichtsrat wirklich so „dümmlich“ sei, ihn, Braun, nicht zu stützen.

Er durfte bleiben. Mit der Autorität des Aufsichtsrats scheint es nicht allzu weit her gewesen zu sein.

Auch die Konzern-Compliance, die Abteilung für Recht, Ordnung und Moral, wuchs bei Wirecard nie in dem Maße mit, wie Börsenkurs und Umsatz stiegen. Nach außen spielten sie Dax-Riese, nach innen lebte das Haus eine fröhliche Start-up-Kultur. Das obligatorische „Du“ flachte die Hierarchien ab, Protokolle von Vorstandssitzungen waren verpönt, die Firmenfeiern auf dem Oktoberfest berüchtigt. Die Belegschaft war jung, kreativ, international, technikbegeistert und extrem einsatzbereit. Die einzelnen Konzernbereiche waren strikt voneinander abgeschottet, was in Asien passierte, wusste laut Zeugen eigentlich nur Jan Marsalek: „Das ist Jans Gebiet“, „Das hat der Jan gemacht“, „Das ist Jans Kunde“ – das waren angeblich die Standardantworten auf interne Fragen zum Business in Asien.

Nur war Jan offenbar selten da, wenn man ihn etwas fragen wollte, er war ständig unterwegs. Wenn er nicht in seinem Aschheimer Büro war, flog er um die Welt oder arbeitete an seinem Zweitsitz, einer Villa im Münchner Stadtteil Bogenhausen, Prinzregentenstraße, eine feine Adresse. Dass er dort auch ein Büro hatte und eigenen Geschäften nachging, wusste allerdings wohl kaum jemand bei Wirecard.

Vor allem dort, in der Villa, die ausgerechnet schräg gegenüber dem russischen Generalkonsulat steht, frönte er seiner Leidenschaft für das Geheime, für die Welt der Agenten, der Spione, der Dienste. „Ich hatte irgendwie schon den Anschein, als wolle er ein Geheimagent sein“, sagte Martin W., ein ehemaliger Abteilungsleiter des österreichischen Bundesamtes für Verfassungsschutz und Terrorbekämpfung (BVT) in einer Vernehmung. „Er stellte sich oft als Geheimdienstler dar.“

Er habe Marsalek, behauptet W., vor sechs Jahren auf einer Konferenz zum Thema Cybersicherheit in Wien kennengelernt. Der Jurist W. war zwar offiziell als eine Art Start-up-Scout in Marsaleks Nebengeschäft; tatsächlich vermuten zumindest österreichische Ermittler, dürfte er aber eher der inoffizielle Sicherheitschef von Wirecard gewesen sein. Marsalek soll seinen Freund W. immer wieder gebeten haben, seine alten BVT-Kontakte zu nutzen, um Personen für ihn zu durchleuchten. „Meist waren es Männer mit ausländischen Namen.“ Marsalek habe mit dem Computer eine Liste mit etwa zehn Namen aufgeschrieben, ausgedruckt und ihm übergeben, so schildert es Martin W. in seiner Vernehmung. Er habe die Namen dann fotografiert und via verschlüsseltem Internetchat an seine Quelle weitergereicht. Manchmal habe Marsalek auch wissen wollen, ob eine bestimmte Person für einen Geheimdienst arbeite.

Überhaupt wimmelte es in Marsaleks Umfeld nur so von Figuren mit nachrichtendienstlichem Hintergrund. Viele von ihnen gehörten zum Freundeskreis um die Prinzregentenstraße, feierten dort, gingen zum Essen zu Feinkost-Käfer oder ins Restaurant des Hotels Mandarin Oriental, wo Marsalek Stammkunde war. Mitglied dieses konspirativen Kreises war unter anderem ein weiterer langjähriger Beamter des BVT, der dabei geholfen haben soll, Personen für Marsalek auszuspähen.

Oder Rami El Obeidi, nach dem Sturz von Libyens Ex-Diktator Muammar al-Gaddafi vorübergehend Chef des Auslandsgeheimdienstes in Tripolis. Für Marsalek soll er er die Überwachung von Investoren und Hedgefonds-Managern in London koordiniert haben. An dem Einsatz soll auch die Sicherheitsfirma einer ehemaligen MI5-Agentin beteiligt gewesen sein.

Dann gab es noch Stas, einen ehemaligen russischen Beamten mit zwei Namen und zwei Pässen, der plötzlich über Millionen verfügte und angeblich immer nur in München war, um seine kranke Mutter aus Russland zu Behandlungen nach Deutschland zu bringen. Mit ihm flog Marsalek in einem russischen Militärhubschrauber in die syrische Oasenstadt Palmyra, kurz nachdem die Assad-Truppen dort den IS besiegt hatten. Er soll sich dafür sogar extra eine schwarze Schutzausrüstung zugelegt haben.

Stas wiederum ist gut bekannt mit einem Orientalistik-Experten und früheren Oberst der russischen Streitkräfte, der nach Ansicht westlicher Geheimdienste für den russischen Militärgeheimdienst GRU tätig gewesen sein soll, was Stas vehement bestreitet. Er sollte mit seinem Wissen Marsalek und österreichische Geschäftspartner bei Projekten in Libyen unterstützen und für eine Delegation um Marsalek die „Sicherheit“ einer geplanten Reise in das damalige Bürgerkriegsland organisieren. Vordergründig ging es um humanitäre Hilfe – doch Marsalek verfolgte offenbar andere Pläne: den Aufbau einer privaten militärischen Einheit zur Kontrolle der Grenzen.

Im Hauptberuf Vorstandsmitglied von Wirecard, beschäftigte sich Marsalek nebenbei also offenbar mit der Frage, wie man – mitfinanziert von Österreichs Bundesregierung – Migrationsströme kontrollieren könne.

Und damit nicht genug. Eine russische Söldnertruppe soll in den Jahren 2016 und 2017 unter anderem Minen im Umfeld von Zementfabriken in Libyen beseitigt haben, an denen Marsalek seit einigen Jahren privat beteiligt war. In den Wirecard-Unterlagen, die [Medium] vorliegen, befindet sich eine Bestätigung über eine Rechnung der Gruppe über rund 1,4 Millionen Euro, mutmaßlich verschleiert als Software-Kauf.

Und dann ist da noch die Sache mit dem Nervengift Nowitschok, mit dem unter anderem der russische Überläufer Sergej Skripal und der Oppositionelle Alexej Nawalny vergiftet wurden. In London soll Marsalek vor Geschäftspartnern damit geprahlt haben, die geheime Nowitschok-Formel zu kennen. Heute weiß man, dass er offenbar tatsächlich an ein solches Dokument gelangt war.

Ist Marsalek also doch ein richtiger Spion? „Wirecard und Jan Marsalek müssen als Topadresse für internationale Geldwäsche ein Ziel für jeden Dienst gewesen sein“, sagt der Geheimdienst-Sonderermittler und frühere Berliner Justizsenator Wolfgang Wieland (Grüne). Über einen Finanzdienstleister wie Wirecard und seine Bank laufen jährlich Milliarden von Finanztransaktionen, solche Datensätze sind schon alleine eine Goldader im Nachrichtengeschäft.

Außerdem machte Wirecard, obwohl sich die Firma gerne als blütenreiner Konzern der Finanztechnologie inszenierte, nicht zuletzt in Asien weiterhin eine Menge Umsatz mit der Zahlungsabwicklung von Online-Glücksspiel und „Erwachsenen-Unterhaltung“. Damit hatte es einst auch begonnen, das Wirtschaftswunder aus Oberbayern: mit Einwählprogrammen für Pornoseiten und Bezahldiensten für Zocker. Mit solcherlei Geschäft lässt sich prima Geld waschen.

Diese Geldflüsse zu beobachten, auch daran dürften Dienste ein großes Interesse gehabt haben, ebenso wie an Kreditkarteninformationen. Mit deren Hilfe lässt sich nämlich nicht nur feststellen, was ihr Inhaber kauft, sondern auch, wo er sich überall aufhält. Diese Kreditkarteninformation von Wirecard hat sogar das Bundeskriminalamt in Wiesbaden für verdeckte Ermittlungen genutzt. Wer den Zugriff auf Bankdaten und Kreditkarten hat, kann aber auch eigene Agenten mit Karten ausstatten – passend zur jeweiligen Legende.

Und ein Zugang zu alledem könnte Jan Marsalek gewesen sein: jung, intelligent, ungebunden, technikaffin. Das passt nach Ansicht von Experten durchaus ins Rekrutierungsschema von Geheimdiensten.

Das Londoner Dossier Center, eine vom Kreml-Kritiker Michail Chodorkowskij finanzierte Recherchegruppe, besitzt angeblich Informationen, wonach Marsalek angeblich schon in jungen Jahren in Wien vom russischen Geheimdienst als Quelle angeworben worden sein soll. Und zwar im Umfeld der österreichisch-russischen Freundschaftsgesellschaft, eines Vereins in Wien, der sich die Vernetzung beider Länder in Politik, Wirtschaft, Bildung und Kultur zur Aufgabe gemacht hat. Demnach, so die bislang unbelegte Behauptung, soll sich Marsalek immer wieder mit russischen Agenten in der Nähe von Moskau getroffen haben, wo er über seine Gespräche mit Politikern und Wirtschaftsbossen berichtet haben soll. Er sei auch im Umgang mit Geheimmaterial geschult worden. Nach Recherchen der Online-Plattform Bellingcat war Marsalek alleine in den vergangenen zehn Jahren mehr als 60 Mal in Russland. Und russische Dienste sollen auch von seinen Betrügereien und seiner Flucht gewusst haben. Handfeste Beweise für all dies gibt es freilich nicht.

Auch Pav Gill hat Marsalek kennengelernt, bei einer Wirecard-Weihnachtsfeier 2017 in München. Marsalek sei so freundlich gewesen, ein Foto mit ihm zu machen. „Er war immer ein Mann des Geheimnisses“, sagt Gill, zumindest habe er diesen Eindruck erweckt. Alle Abteilungsleiter in Asien berichteten an Jan Marsalek „und schienen ihn ein bisschen zu verehren“.

Das schillernde Doppelleben des Jan Marsalek kannte aber möglicherweise niemand in der grauen Aschheimer Konzernzentrale von Wirecard, wo sie nur über das „Magic Accounting“ des Überfliegers staunten, wenn wieder mal die Bilanz zu retten war. Aber wie viel wusste Markus Braun? Jan Marsalek, berichteten Zeugen, sei sehr eng mit ihm gewesen. Es habe überhaupt keine große Linie im Konzern gegeben, sagte ein Ex-Mitarbeiter, die nicht bei Braun endete. Er habe über „Herrschaftswissen“ verfügt, sagte ein anderer.

Braun streitet bis heute alle Vorwürfe ab. Er habe von den mutmaßlichen Betrügereien nichts gewusst.

Das Tal der Ahnungslosen fing bei Wirecard jedenfalls schon im Vorzimmer des Vorstandsvorsitzenden an, bei der Assistentin von Markus Braun. In vergleichbaren Unternehmen würde sie wahrscheinlich zu den bestinformierten Mitarbeiterinnen zählen, weil sie alles mitbekäme, was über den Schreibtisch des Chefs geht. Bei Wirecard? „Ich habe da nur gesessen“, sagte die Frau in ihrer Vernehmung vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss in Berlin, der seit Monaten die Affäre Wirecard auf politische Schuld zu durchdringen versucht. Markus Braun habe seine E-Mails selbst verfasst und gelesen, Anrufe nur über sein Handy angenommen, sei kaum dienstlich verreist. Sie habe die Kindergeburtstage der Familie organisiert, die privaten Urlaube geplant, Karten für den Wiener Opernball beschafft und die Werbepost in den Müll geworfen: „Ich habe oft zu Freunden gesagt, ich weiß eigentlich gar nicht, was diese Firma wirklich macht.“

Ob so ein Vorstand die richtige Adresse war für die internen Aufklärer aus Singapur? Schon früher wusste man in Aschheim, wie auf Kritiker zu reagieren ist. Die Beiträge von Bloggern, die Zweifel an den Geschäftspraktiken in Foren posteten, wurden wie von Geisterhand wieder gelöscht. Schon in den Anfangsjahren der Firma konnte es Wirecard-Skeptikern passieren, dass sie ungebetenen Besuch einer Hamburger Boxergröße erhielten. Auf dessen schlagkräftige Argumente hin verstummte die Kritik. Ein Aktienhändler, der Wirecards fantastischer Erfolgsgeschichte früh misstraute, berichtete, dass er sich ständig beobachtet fühlte. Bis nachts zwei Männer bei ihm klingelten, um mit ihm mal über Wirecard zu reden. Er rief dann lieber die Polizei.

Von alldem wusste Pav Gill in Singapur nichts. Er fieberte einer Sitzung der Konzernleitung am 7. Mai 2018 regelrecht entgegen, am liebsten wäre er mit Royston N. nach München geflogen und hätte den Bossen persönlich ihre Ermittlungsergebnisse vorgetragen. N. fasste die Vorwürfe extra in einer neunseitigen Präsentation zusammen, Titel: „Project Tiger“. Ursprünglich sollte das Projekt „Phoenix“ heißen – wie der Sagenvogel aus der Asche sollte Wirecard auferstehen, befreit von allen Vorwürfen; in der Zentrale aber bevorzugte man den Codenamen „Tiger“, einen Hinweis auf Singapur, den Tigerstaat.

In der Präsentation sieht man auf Folien Schaubilder mit erfundenen Firmennamen, Pfeile, die Geldflüsse anzeigen, Millionen Dollar, die im Kreis überwiesen werden. Und einen Auszug aus dem Strafgesetzbuch Singapurs: Bilanzfälschung, Korruption, Geldwäsche.

Einen Tag nach der Sitzung schrieb der Wirecard-Finanzvorstand eine E-Mail an Royston N. und teilte mit, dass er über das „Project Tiger“ informiert worden sei. Die Sache sei tatsächlich „sehr kritisch“ und müsse nun „mit der höchsten Priorität“ angegangen werden. Um den nötigen Druck in die Untersuchung zu bekommen, werde sich Jan Marsalek darum kümmern. „Wir müssen kurzfristig Antworten auf offene Fragen bekommen“, schrieb der Finanzvorstand aus Aschheim, „und natürlich werden wir alles tun, was nötig ist.“

Im Klartext hieß das: Die hartnäckigen Juristen waren raus. Die drei Wochen, in denen sich Wirecard wie ein regeltreuer Konzern verhalten hatte, waren jedenfalls vorbei. Ungläubig schrieb N. eine mehrseitige Beschwerde-E-Mail an den Finanzvorstand. „Ich habe ihn wissen lassen, dass dies nicht akzeptabel ist, da die Untersuchung dann nicht unabhängig wäre, da sie möglicherweise selbst Fragen beantworten müssen“, notierte Royston N. in der Chat-Gruppe. Vorstand Marsalek werde im vorläufigen Ermittlungsbericht namentlich erwähnt, womöglich könne er selbst in die fragwürdigen Vorgänge verstrickt gewesen sein, lautete damals der Verdacht. Nun aber sollte der Verdächtigte selbst aufklären – als würde man den Brandstifter fragen, ob er bitte herausfinden könne, wer das Feuer gelegt hat.

Immer wieder Marsalek. Wer ihn kennenlernte, begegnete einem jungen, erfolgreichen Menschen. Das gestärkte weiße Hemd ohne Krawatte, der eng geschnittene blaue Anzug, die dicke Armbanduhr der italienischen Luxusmarke Panerai, die kurz geschorenen Haare. Marsalek hatte vollendete Umgangsformen, sprach ruhig, aber freundlich, mit leichtem Wiener Dialekt. Weder war er der laute, aufbrausende, dominante Konzernlenker – noch wirkte er wie einer jener Nerds, die sich in Formeln und Programmen verlieren.

Das Charisma, das Markus Braun offenbar nie hatte – „Herr Braun ist kein Mensch von Emotionen“, sagt seine Assistentin – Marsalek hatte davon wohl im Überfluss. Aber es blieb auch ein zweiter Eindruck hängen: der, dass er letztlich glatt und schwer zu fassen war.

Zwar wusste Marsalek auf alle Vorwürfe, Vorhalte, Zweifel eine Antwort, und er konnte diese Antworten auch stets mit dem Anschein von Gelassenheit und Geduld vortragen. Aber jene, die ihm begegnet sind, hatten immer auch das Gefühl, dass sie ihn schwer lesen oder gar durchschauen konnten. Als im Konzern wichtige Zahlen fehlten, die er liefern sollte, entzog sich Marsalek wochenlang seiner Verantwortung. Er sei gerade in einer anderen Zeitzone, gesundheitlich angeschlagen oder sehr beschäftigt. Er schaffte es, das geht aus internen Wirecard-Chats hervor, dass die Mitarbeiterin, die eigentlich unbedingt die Zahlen von ihm wollte, Marsalek letztlich zum Trost Kekse schicken wollte.

Aufklärung, das weiß man heute, war von Jan Marsalek nicht zu erwarten – und es kam noch ärger für die internen Rechercheure in Singapur. Während die Juristen in ihrem Chat im Mai 2018 darüber diskutierten, ob man in Aschheim vielleicht die Lage nur noch nicht richtig einschätzte, meldete Pav Gill in die Runde: „Bitte beachtet, dass die eine Million Dollar, die WDSG (Wirecard Singapore) von mindlogicx erhalten hat, an WDAH (Wirecrad Asia Holding) transferiert werden soll. WDAH soll dann wahrscheinlich morgen das Geld an Beroe transferieren.“ Was für Ausstehende sehr technisch klingen mag, versetzte die drei Juristen in helle Aufregung. Denn: Die Firma Beroe war im Bericht der Anwälte von Rajah & Tann ausdrücklich für verdächtig erklärt worden.

„Ich verstehe das nicht. Was ist los?“, schrieb Royston N. in den Chat. „Was hat der Vorstand nicht begriffen?“ Gill sekundierte: „Ich verstehe nicht, wie ein paar Leute etliche äußerst schwerwiegende Finanzdelikte begehen und dann ungestraft weitermachen können.“ Auch Daniel S. in Aschheim war fassungslos: „Ich denke, Jan versteht sehr gut, worum es geht, aber sie scheißen sich nicht gegenseitig ins Bett“, schrieb er.

„Das ist keine angemessene Haltung für einen Vorstand...Falls die Zahlung...nicht in Ordnung ist, dann ist das Geldwäsche mit Wissen des Vorstands“, erklärte N. „Als ehemaliger Staatsanwalt sage ich es in aller Klarheit: Wir werden persönlich strafrechtlich belangt, wenn wir nichts tun.“

Pav Gill formulierte es damals im Chat etwas poetischer und zitierte Shakespeare: „Heutzutage scheint es einfacher zu sein, etwas falsch als richtig zu machen. Erinnert mich an den Anfang von Macbeth - ,fair is foul, and foul is fair ‘".

Wenige Tage später floss der umstrittene Millionenbetrag dennoch ungehindert.

„Die Zahlung an Beroe, das war der Moment, in dem ich kapiert habe, dass ich der rechtliche Vertreter einer durch und durch kriminellen Organisation bin“, sagt Pav Gill heute. „Meine einzige Hoffnung lag damals noch auf Rajah & Tann.“ Nach seinem Gefühl habe ein Wettlauf mit der Zeit begonnen: „Würde der Abschlussbericht von Rajah & Tann zuerst fertig werden – oder würde man mich vorher aus der Firma drängen, weil ich versucht habe, das Richtige zu tun?“

Während Royston N. sich der Anordnung des Vorstands aus Aschheim beugte, sich komplett zurückzog und sich nur noch mit staubtrockenen Lizenzverträgen beschäftigte, half Pav Gill dabei, die Rajah & Tann-Untersuchungen weiter voranzutreiben. Am 4. Juni 2018 befragten die externen Anwälte Edo K., einen Kollegen und eine Kollegin, am 27. Juni folgte die zweite Befragung. Edo K. wurde damals per Video aus den USA zugeschaltet, wo er sich zu jener Zeit aufhielt.

Die Anwälte legten E-Mails und Verträge vor und deckten Widersprüche auf. Der eine Kollege von Edo K. beteuerte, er könne sich nicht erklären, warum Hunderttausende Dollar auf seinem Privatkonto gelandet seien. Von manipulierten Verträgen wisse er nichts. Die Kollegin aber räumte in der Anhörung ein, Verträge rückdatiert zu haben, um externe Buchprüfer zu besänftigen. Sie habe auf Anweisung von Edo K. gehandelt, sagte sie aus.

Und Edo K.? Er gab zu, eine Zahlung von 500.000 Dollar für Beratungsleistungen angewiesen zu haben; das Geld floss, eine Gegenleistung aber existierte dafür nicht. Genauso notierten es die Prüfer von der Kanzlei Rajah & Tann in einer Zusammenfassung, die sie am 28. Juni 2018 einem Mitarbeiter aus Deutschland in Singapur übergaben. „Alle Anweisungen, die er (Edo K.) erhielt, bekam er vom Vorstand der Wirecard AG“, heißt es in der Zusammenfassung. Auch der Name des Vorstandsmitglieds fällt: Edo K. „unterschrieb etliche Verträge (…) auf Anweisung von Herrn Jan Marsalek“.

Fast auf den Tag genau zwei Jahre vor der Insolvenz von Wirecard war das Problem damit zum ersten Mal schriftlich festgehalten: Jan Marsalek, der Herrscher über das Asien-Geschäft von Wirecard, hatte ganz offensichtlich ein Schattenreich aufgebaut. Als vom Vorstand beauftragter Aufklärer müsste er sich also selbst ans Messer liefern.

Pav Gill verließ das Unternehmen kurz darauf. „Ich verstehe nicht, warum das Unternehmen einfach nicht erlauben konnte, sich von Mitarbeitern wie mir friedlich und zu guten Konditionen zu trennen“, sagt er heute rückblickend. Sein Chef in Singapur habe ihm mitgeteilt, so Gill, „dass die Firma einen Aufhebungsvertrag vorbereitet habe, sodass ich entweder kündigen oder gekündigt werden könne. Er riet mir dann, an meine Situation und an meine Mutter zu denken, ich sei schließlich Alleinverdiener meiner Familie. Er sagte, dass die Firma viel Geld für Anwälte ausgeben könne, aber ich auch? Also sagte er mir, ich solle klug sein.“

Ein paar Tage später habe sich der Chef noch einmal gemeldet; wenn er kündige, werde die Firma „positive Referenzen ausstellen. Auf dieser Grundlage beschloss ich zu gehen, da ich einfach keine Energie mehr hatte und mich nicht mit diesem Unternehmen herumschlagen wollte“. Er erhielt eine Abfindung und wurde freigestellt.

Er habe nicht mehr schlafen können, „meine Karriere war bedroht und das Unternehmen auf dem sicheren Weg, vom CAD durchsucht zu werden“, sagt Gill heute. „Ich hatte Panikattacken.“ Seine Mutter, besorgt um Ruf und Gesundheit ihres einzigen Sohnes, startete einen letzten Versuch. Sie sagt, sie habe unter dem Pseudonym Evelyn Chan eine E-Mail an markus.braun@wirecard.com verfasst, in der sie dem Vorstandschef mitgeteilt haben will, dass in Singapur ganz ungeheuerliche Dinge vonstattengingen. Er solle einschreiten und sich die „Tiger“-Untersuchung genau ansehen. „Ich habe nie eine Antwort erhalten“, erzählt sie am Telefon.

Dass Markus Braun diese E-Mail erhalten und gelesen hat, lässt sich nicht belegen. Aber wie wahrscheinlich ist es, dass er – den Zeugen heute als Kontrollfreak beschreiben, der über alles Bescheid wissen wollte, was bei Wirecard passierte – eine solche Warnung übersehen hat? Er lebe nicht nur die Wirecard, „er ist die Wirecard“, sagte sein ehemaliger Fahrer in einer Vernehmung.

Gleichzeitig ließ Braun niemanden an sich herankommen, hatte offenbar eine fast paranoide Angst vor Abhöraktionen. Im Auto misstraute er angeblich der Bluetooth-Verbindung zur Freisprecheinrichtung, Teilnehmer an Besprechungen hätten ihre Mobiltelefone im Vorzimmer abgeben müssen. Die Wirecard-Sicherheitsabteilung soll sein Büro nach Wanzen gefilzt haben. In internen Chats über Whatsapp und Telegram nutzte Braun gerne das Pseudonym „Wolf Schiller“. Er selbst sagte einmal, er habe den vollen Überblick über das operative Geschäft. Marsalek, behauptet Braun heute indes, habe ihn im Dunkeln gelassen.

Was also wusste Braun, und wie sehr beunruhigte ihn das, was er womöglich aus Singapur zu hören bekam? Er sei „nicht gut darin gewesen, Nachrichten zu lesen, die man eigentlich nicht lesen will“, sagt ein ehemaliger Manager. Braun habe auf Kritik oder schlechte Neuigkeiten stets nach demselben Muster reagiert, sagte seine Assistentin: „Alles ist hervorragend. Alles bei ihm war immer hervorragend.“ Und wer es auf Englisch hören wollte, die internationalen Investoren etwa, den beruhigte Braun mit den Worten: „Don’t worry, all will be fine.“

Nachdem von Braun keine Reaktion gekommen war, „haben wir tief in unsere Seele geblickt, Pav und ich, bevor wir eine Entscheidung trafen, die unser Leben und das von vielen anderen beeinflusste“, sagt seine Mutter. „Wenn wir es nicht gemeldet hätten, stattdessen jemand anderes, während mein Sohn noch für Wirecard arbeitete, wäre er der Erste gewesen, den der CAD zur Befragung herangezogen hätte. Er war der leitende Jurist dort.“

Mitte Oktober 2018 schickte sie, wieder als Evelyn Chan, E-Mails an die freie Journalistin Clare Rewcastle Brown, die sich einen Namen mit dem Aufdecken eines Finanzskandals in Malaysia gemacht hatte, und an den FT-Reporter Dan McCrum in London. Bereits 2015 hatte dieser eine Artikelserie („House of Wirecard“) über den Konzern veröffentlicht, nachdem ihm ein Hedgefonds-Manager den Tipp gegeben hatte, sich einmal die Bilanzen genauer anzusehen.

„Wirecard ist eine kaum bekannte deutsche Tech-Aktie im Wert von fünf Milliarden – und ein Rätsel“, schrieb McCrum damals. „Warum zahlt das Unternehmen große Summen im Voraus, Monate, bevor Deals abgeschlossen sind? Warum sind wichtige Teile der Transaktionen nicht vollständig transparent? Warum werden Millionen für angeschlagene asiatische Unternehmen ausgegeben? Warum stimmen die in Singapur eingereichten Bilanzen nicht mit den in Deutschland gemeldeten Summen überein?“ Viele der Antworten sollte er später in den Daten finden, die die Oma von Pav Gill auf einem USB-Stick verwahrt hatte. Das digitale Panjiri.

„Ich habe einige hochsensible Informationen, die ein internationales Finanzunternehmen hochgehen lassen können, die Firma hat in den vergangenen Jahren korrupte Aktivitäten durchgeführt“, hieß es damals in der E-Mail von Evelyn Chan. Die freie Journalistin Rewcastle Brown antwortete sofort. Nachdem sie einige E-Mails und Chat-Nachrichten ausgetauscht hatten, schrieb sie dem Asien-Chef der FT eine E-Mail und bat ihn darum, sich den Fall anzusehen. „Die FT-Leute sind natürlich aufgesprungen und haben mich aus dem Bild gedrückt“, erzählt Rewcastle Brown am Telefon aus London. „Das war nicht nett, aber die Geschichte war in guten Händen, zumindest dachte ich das.“

Denn: Dan McCrum machte sich nun auf den Weg nach Singapur. In einem in die Jahre gekommen Vier-Sterne-Hotel stieg er ab, traf in der Lobby Pav Gill und dessen Mutter. Mehrere Tage erklärten sie ihm die Dokumente und Zusammenhänge. Zurück nach London flog Dan McCrum dann mit einem USB-Stick voller Daten: E-Mails, Chats, Tabellen. Es sei geplant gewesen, dass Ende Dezember 2018 ein Text in der FT erscheinen sollte. Eine Woche vorher sollte der Rajah & Tann-Report anonym in die ganze Welt verschickt werden. An die Finanzkontrolleure der Bafin in Frankfurt. An die zuständige Staatsanwaltschaft in München. Und an den CAD in Singapur. Doch der Text ließ auf sich warten.

Anfang Januar 2019 erlitt die Mutter einen Schlaganfall. Im Krankenhaus der nächste Schock: Bei den CT-Aufnahmen fanden die Ärzte auch einen Tumor in der Lunge. Erst ein Hirnschlag, jetzt auch noch das – zum Glück im Anfangsstadium. „Sie wusste nicht, ob sie überlebt, und die FT hatte immer noch nicht veröffentlicht“, sagt Clare Rewcastle Brown. „Da habe ich Ende Januar Dan McCrum angerufen und ihm gesagt, er habe noch eine Woche, sonst bringe ich die Geschichte selbst.“

Am 30. Januar 2019 veröffentlichte die FT schließlich einen Text über die vielen Ungereimtheiten bei Wirecard in Singapur. Dan McCrum und seine Kollegin Stefania Palma, FT-Korrespondentin in Singapur, erwähnten auch, dass sie Dokumente von einem Whistleblower bekommen hätten, der besorgt sei, weil „offenbar keine Maßnahmen gegen potenziell kriminelle Handlungen in einem Unternehmen ergriffen wurden, das sich als Blue-Chip-Finanzinstitut präsentiert“.

Kaum war der Artikel erschienen, brach der Aktienkurs von Wirecard binnen Minuten um fast 25 Prozent ein.

„Das Wichtigste hatte McCrum aber nicht erwähnt“, sagt Clare Rewcastle Brown. „Kein Wort vom Rajah & Tann-Report, der eine Woche zuvor an Staatsanwaltschaften und Aufsichtsbehörden verschickt worden war, sondern bloß von einer internen Vorstandspräsentation. Ich habe deshalb sofort einen Freund in Australien angerufen.“ Zwei Tage später berichtete die Tageszeitung Australian dann von der Existenz des Berichts und zitierte ausgiebig daraus.

Markus Braun erklärte indes per Mitteilung: „Wir widersprechen der Berichterstattung ausdrücklich.“ Analysten versuchte er zu beruhigen – eine interne und eine unabhängige Untersuchung hätten „keine schlüssigen Erkenntnisse“ für ein strafbares Verhalten ergeben. „Wirecard sieht sich als Opfer einer Intrige“, titelte daraufhin beispielsweise [Medium].

In den Tagen danach schwankte der Aktienkurs stark, erholte sich erst und brach nach einer weiteren Geschichte erneut um fast zwanzig Prozent ein. In Aschheim sagte eine Wirecard-Sprecherin: „Wir werden gegen die ‚Financial Times’ rechtlich vorgehen“. Wirecard erstattete Anzeige bei der Staatsanwaltschaft München I wegen des Verdachts der Kursmanipulation gegen Unbekannt. Gegen die Führungsriege bei Wirecard wurde indes nicht ermittelt. „Wir haben dazu keinen ausreichenden Anfangsverdacht“, ließ sich die Staatsanwaltschaft damals zitieren.

Anfang 2019 erweckte Jan Marsalek noch den Eindruck, er werde die Sache unter Kontrolle bringen. Kaum waren die ersten Artikel erschienen, begann die Suche nach dem Whistleblower, oder aus Wirecard-Sicht: nach dem Verräter. Wer hatte den Rajah & Tann-Report weitergegeben? Marsalek hatte einmal gesagt, seine Spezialität sei „Feindabwehr“, das Prinzip war in der Vergangenheit schon oft wirkungsvoll gewesen. Privatdetektive wurden angeheuert, Mitte Februar war man sich bei Wirecard dann sicher, das Leck gefunden zu haben: Ex-Staatsanwalt Royston N.

Am 21. Februar 2019 erklärte Marsalek bei einem Termin bei der Staatsanwaltschaft München, N. sei auf Kosten eines Spekulanten von Singapur nach London geflogen, es bestehe der Verdacht, dass N. ein Tippgeber der Financial Times gewesen sei. Marsalek sagte, er habe über einen Bekannten, der für einen ausländischen Staat arbeite, die Information erhalten. Als sei das Ausspähen von Flugdatenbanken normal und jedes Mittel recht. E-Mails des Vorstands zeigen, dass eine Sicherheitsfirma die Informationen zusammengetragen hatte: „Abflug in Singapur am 13. Februar 2019, Flugnummer SQ322. Ankunft am 14. Februar 2019, 06.45 Uhr“, heißt es in einem Protokoll. Dazu Anschriften, Geburtsdaten, Handynummern von Personen, die Wirecard verdächtigte, Informationen an McCrum gegeben zu haben. Die Privatdetektive rechneten für ihre Recherchen zum Teil siebenstellige Beträge ab.

Nun reagierte auch endlich das Bundesamt für Finanzdienstleistungsaufsicht, die Bafin – aber anders, als man erwarten würde. Die Beamten erstatteten Anzeige, jedoch nicht gegen Wirecard. Sie regten bei der Staatsanwaltschaft, bei der Marsalek schon vorgesprochen hatte, Ermittlungen gegen die Aufdecker von der Financial Times und sechs Aktienhändler an.

Schon bei früheren Angriffen auf die schöne Wirecard-Fassade, etwa nach dem Zatarra-Bericht 2016, hatte die Bafin den Aschheimer Fintech-Konzern nie angerührt. Aufgabe der Bafin ist es, so schreibt sie selbst, ein „funktionsfähiges, stabiles und integres deutsches Finanzsystem zu gewährleisten. Bankkunden, Versicherte und Anleger sollen dem Finanzsystem vertrauen können“. Für Whistleblower, die der Bafin anonym Hinweise auf krumme Geschäfte im Finanzwesen geben wollen, stellt sie auf ihrer Website sogar sichere Kontaktmöglichkeiten zur Verfügung. Sie soll die schützende Hand über die deutschen Sparer und Anleger legen. Fast 3000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben die Aufgabe, mehr als 1500 Kreditinstitute und dazu etliche Fonds, Versicherer und Kapitalverwaltungsgesellschaften im Blick zu haben und, wenn nötig, hart durchzugreifen.

Die Bafin ist allerdings seit Jahren umstritten in dem, was sie tut. Im traurigen Kern des deutschen Behördenwesens ist sie eine „Anstalt des öffentlichen Rechts“ mit Sitzen in einem großen gläsernen Gebäude in Frankfurt und einem flachen Kasten in Bonn, die Richtlinien verschickt und kleine Finanzfirmen hochnimmt, wenn denen die entsprechenden Lizenzen fehlen. Die Bafin, ein Papiertiger, sagen einige.

Die wirklich großen Fälle konnte sie nicht verhindern. Allein 71 davon hat der Europaabgeordnete Sven Giegold in einer Umfrage gesammelt – von der Pleite der Bank West-LB über den Libor-Skandal bis zum Steuerskandal Cum-Ex. Und dann kam Wirecard.

Als die Financial Times der Welt zeigte, was bei Wirecard unter der Decke gehalten werden sollte, setzte die Bafin sogar kurzerhand ein zweimonatiges sogenanntes Leerverkaufsverbot durch – es war damit nicht mehr möglich, auf fallende Kurse der Aktie zu setzen. Es sah so aus, als schlage sich die Bafin auf die Seite der Wirecard AG und deren Erzählung, nicht der Konzern habe etwas falsch gemacht, sondern böswillige Spekulanten wollten den Aktienkurs vorsätzlich zum Absturz bringen.

Die Anordnung, durchgeboxt übers Wochenende und bindend für Börsen in ganz Europa, war bis dahin einmalig und deshalb die vielleicht wichtigste Stütze des Wirecard-Kurses in den letzten zwei Jahren des Bestehens dieses Konzerns. Die Entscheidung galt als Rückendeckung für Wirecard von ganz oben, ein Vertrauensbeweis, ein Signal an die Anleger: Wenn die Behörden die Firma schon schützen, was soll schiefgehen mit meinem Geld?

Für die deutsche Aufsicht war all das ein Desaster, so urteilte auch die Europäische Finanzaufsicht (ESMA) über die Bafin. Eine der Empfehlungen an das Amt lautete: Die Bafin solle doch mal eine internationale Zeitung abonnieren.

Die Bafin zeigte also im Frühjahr 2019 den FT-Journalist Dan McCrum und seine Kollegin aus Singapur an, wegen des Verdachts der Marktmanipulation. Die Bafin erklärte damals dazu auf Anfrage, das Zusammenspiel von bestimmten Abläufen an der Börse und von negativen Presseberichten sei „außergewöhnlich“ gewesen. Wie zum Beispiel Banker oder Firmenvorstände können sich auch Journalisten strafbar machen, wenn sie ihre exklusiven Recherchen, die geeignet sind, den Aktienkurs zu beeinflussen, vor Veröffentlichung für eigene Aktiendeals zu nutzen oder sie an Dritte weiterzugeben: Insiderhandel. Wissen mag Macht sein – aber etwas vor allen anderen zu wissen, macht reich.

Die FT bestritt alle Vorwürfe, sprach von einer „Nebelwand, die die schwerwiegenden Anschuldigungen verdeckt, die von der FT aufgedeckt wurden“. Aber die Staatsanwaltschaft leitete dennoch ein offizielles Verfahren ein und nahm ihre Ermittlungen auf.

Trotz der Ermittlungen recherchierte Dan McCrum zunächst weiter. Erst nachdem das Handelsblatt im folgenden Juli aus geheim angefertigten Tonbandaufnahmen mit Shortsellern in London zitiert hatte, die angeblich den Eindruck erweckten, dass die FT Informationen weitergeben habe, wurde eine externe Untersuchung durch eine Kanzlei angeordnet – und McCrum bekam drei Monate Schreibverbot. Die Anwälte entlasteten McCrum und konnten kein Fehlverhalten ausmachen.

Heute weiß man: Die Aufnahmen wurden im Auftrag von Wirecard von einem Detektiv erstellt. Alles, was die Shortseller auf den Bändern sagen, hatte zuvor bereits in der FT gestanden. Insiderinformationen wurden also nie weitergegeben.

Erst im September 2020, lange nach der Pleite von Wirecard und eineinhalb Jahre nach dem ersten Verdacht gegen die FT, wurden die Ermittlungen offiziell eingestellt: Es hätten sich keine Hinweise auf die von der Bafin unterstellte Marktmanipulation durch die Journalisten ergeben, teilte die Staatsanwaltschaft damals mit.

Aber die schöne Scheinwelt von Wirecard war vorher schon entzaubert. So vorsichtig die FT anfangs noch gewesen war, so systematisch arbeitete Dan McCrum in den Monaten danach mit dem Material, das ihm Pav Gill in Singapur zur Verfügung gestellt hatte. Dabei stieß er auf eine Excel-Tabelle, Stand 2017, eine angebliche Kundenübersicht. Doch 20 von 34 der genannten Geschäftspartner existierten entweder nicht, waren insolvent oder hatten ihre Geschäftsbeziehungen zu Wirecard längst eingestellt. Im Oktober 2019 veröffentlichte McCrum auch diese Recherche.

Kurz darauf beauftragte der Aufsichtsrat von Wirecard die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG mit einer Sonderuntersuchung. Jahrelang hatte die Wirecard AG ihre so beeindruckenden Abschlussbilanzen vom Prüfunternehmen EY testieren lassen, aber jetzt waren die Zweifel, die letztlich Pav Gills Informationen gesät hatten, zu groß geworden. Was Gill im Kleinen in Singapur entdeckt hatte, Firmen, die es nie gab, Geld, das nur auf dem Papier Karussell gefahren ist: War das vielleicht nicht nur ein Fehler irgendwo im weit verzweigten System von Wirecard? War das etwa das System Wirecard?

Gill hatte in Singapur den ersten Dominostein angestoßen, acht Monate später fiel Wirecard. Das ganze Asien-Geschäft, das „Magic Accounting“ des Jan Marsalek – es war letztlich nur fauler Zauber. 1,9 Milliarden Euro, die angeblich auf Treuhandkonten bei zwei Banken auf den Philippinen gelegen haben sollen, hatten nie existiert. Als sich diese Nachricht im Konzern verbreitete, schrieb ein Vorstandsmitglied an ein vertrautes Mitglied im Aufsichtsrat desillusioniert: „Jetzt sind wir tief in der Welt der Kriminellen.“

Und Pav Gill? Er hat die Nachrichten über Wirecard aus der Ferne täglich verfolgt. „Ich wartete zusammen mit wahrscheinlich vielen anderen darauf, ob sie wieder damit durchkommen können.“

Er legte sich im Februar 2019 unter einem Pseudonym einen Twitter-Account zu, nannte sich in seinem Profil „Bürgerwehr gegen Unternehmensbetrug. Zur konsequenten Verteidigung von Whistleblowern, investigativem Journalismus und Corporate Governance“. Mehr als 4500 Tweets setzte er bis zum Kollaps von Wirecard ab. Als ein Aktionär, direkt an Wirecard gerichtet, twitterte: „Ich glaube fest an Wirecard und investiere langfristig! Ich wünsche Ihnen, dass der Albtraum bald ein Ende hat und die Gerechtigkeit siegt! Machen Sie weiter wie bisher. Alles wird gut“, setzte Gill den ebenfalls auf Twitter vertretenen Markus Braun in Kopie und antworte: „LOL“. Das ist das Netzkürzel für schallendes Gelächter.

Anfang Mai 2019 wurde er dann vom offiziellen Firmenaccount von Wirecard blockiert. „Was für eine fabelhafte Nacht!“, schrieb der Konzern nach der jährlichen Dinnerparty von Wirecard Singapur auf einem Viermaster, der Royal Albatross, und postete ein Foto seiner tanzenden Mitarbeiter, alle ganz in Weiß gekleidet: „Können Sie erraten, was das diesjährige Motto war?“ Gill konnte: „Das Motto war WHITE Collar Crimes.“ Die Verbrechen der weißen Kragen – so nennt man auf Englisch Wirtschaftskriminalität.

Als er vom Zusammenbruch seines früheren Arbeitgebers hörte, sagt Gill heute, „war ich sehr zufrieden. Der Gerechtigkeit war Genüge getan, die Wahrheit setzte sich durch.“

Entschuldigt hat sich bei den zwischenzeitlich juristisch verfolgten Journalisten nie jemand, nicht der inzwischen abgelöste Chef der Bafin, Felix Hufeld, der ein solches Ansinnen sogar als „obszön“ bezeichnete. Und auch nicht dessen Dienstherr Olaf Scholz, der Bundesfinanzminister.

Als Scholz im vergangenen Dezember Dan McCrum den Deutschen Reporterpreis verlieh, sagte er zwar, er sei froh, dass die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen eingestellt habe und sich jetzt auf die Täter konzentriere. Dass die Bafin, deren Mitarbeiter sogar teilweise selbst mit Wirecard-Aktien gehandelt hatten, die Ermittlungen ausgelöst hatte, sagte er nicht.

Die letzten Tage von Wirecard sind längst Legende, man erzählt sie sich in interessierten Kreisen wie die letzten Tage von Pompeji. An jenem 18. Juni 2020, nachdem sich kurz zuvor zur unumstößlichen Wahrheit verdichtet hatte, dass Wirecard nicht war, was es zu sein schien, endete die Ära von Markus Braun und Jan Marsalek.

Markus Braun, das geht aus Unterlagen hervor, hat am 18. und 19. Juni offenbar Wirecard-Aktien, die er über seine Beteiligungsgesellschaft gehalten hatte, verkauft. Seinem Fahrer aber soll er noch am 18. Juni gesagt haben, heute werde alles gut. Die Aktie werde Ende des Jahres bei 250 Euro stehen, wenn sie Glück hätten. Der Chauffeur, der Braun auch als Leibwächter diente, hatte selbst 250.000 Euro in Wirecard investiert. Und sollte noch an diesem Tag alles verlieren.

Tags darauf bekam Markus Braun zehn Minuten Zeit vom Aufsichtsrat, um zu entscheiden, ob er selbst kündigen wolle oder hinausgeworfen werde. Kurz danach sei er schon aus der Firma geleitet worden, von Daniel S., einem der Juristen, die mit Pav Gill das Singapur-Desaster untersucht hatten. „Ist es schon so weit?“, soll Braun ihn gefragt haben, dann fuhren sie mit dem Lift in die Tiefgarage. „Ich bin bald wieder da“, soll er seiner Assistentin noch gesagt haben. Fünf Tage später stellte er sich den Behörden und wurde festgenommen.

Die Vorwürfe, an dem mutmaßlichen Wirecard-Betrug beteiligt zu sein, bestreitet Markus Braun. Viele Behauptungen hinsichtlich seiner Person seien falsch. So lässt er auf Anfrage mitteilen, dass der Begriff „Magic Accounting“ in der Konzernzentrale nie benutzt worden sei. Auch sei er nicht der „Vorgesetzte“ von Marsalek gewesen; jeder Vorstand habe eigenverantwortlich an den Aufsichtsrat berichtet. Marsalek habe spätestens seit 2015 ein Doppelleben geführt und ihn, Braun, bewusst darüber nicht oder falsch informiert.

Jan Marsalek bereitete schon am Abend des 18. Juni seine Reise ohne Wiederkehr vor, bei einem Essen bat er seinen Freund Martin W., den österreichischen Ex-Geheimdienstler, ihm einen Flug nach Minsk zu organisieren. Derzeit spricht viel dafür, dass Marsalek sich in Moskau aufhält. Angeblich sind deutsche Sicherheitsbehörden in den vergangenen Wochen von befreundeten ausländischen Diensten darüber informiert worden, dass sich der Gesuchte in der russischen Hauptstadt in Obhut eines kremlnahen Oligarchen aufhalten soll. Belege dafür gibt es nicht.

Ganz von der Bildfläche verschwunden ist Marsalek ohnehin nicht. Anfangs stand er laut Zeugenaussagen noch in Kontakt mit Geschäftsfreunden und seinem Geheimdienst-Spezi Martin W., später mit seinen Anwälten. Auch sein alter Telegram-Account ist noch ab und an aktiv, zuletzt am 9. April.

Ob er je wieder auftauchen wird? Abgereist ist er nur mit einem Kleidersack und einem Koffer. So bestieg er am Abend des 19. Juni auf dem Flugfeld von Bad Vöslau südlich von Wien als einziger Passagier eine Cessna C 510 Mustang. Die beiden Piloten des Privatjets habe er in bar bezahlt, gaben sie später an, angeblich 7920 Euro, ohne Quittung. Marsalek soll hellblaue Jeans, ein weißes Hemd, eine schwarze Lederjacke und schwarze Sneaker getragen haben. „Alles von Prada“, erinnerten sich die Piloten.

Ein Abgang mit Stil.

Der Erste, der nach der erfolgreichen Flucht ein Passfoto von Marsalek auf Twitter postete, war übrigens Pav Gill. Dazu schrieb er: „#Wirecards Bester: Jan Marsalek rockt den tschetschenischen Rebellen-Look auf seinem Passfoto.“ Es ist das Bild, das die Fahndungsplakate heute zeigen. Gill hatte es aus den E-Mails, deren Weitergabe an Journalisten den Anfang vom Ende von Wirecard bedeutete.


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TEXT 2:

03.02.2021

Jäger und Sammler

Er wurde bespitzelt, eingeschüchtert, von eigenen Kollegen verdächtigt. Und doch war sich der Journalist Dan McCrum immer sicher, dass Wirecard betrügt. Über die Kraft des Zweifels

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Der Mann, der Wirecard fast im Alleingang zu Fall gebracht hat, sitzt jetzt fest im Lockdown in London, und das seit Wochen schon. Man sieht’s an seinen Haaren, die länger sind, als ihm lieb ist. Er schaltet die Kamera seines Laptops an: „Guten Morgen“, sagt Dan McCrum, 42. „Das ist mein Wirecard-Reich.“

An der Wand hinter ihm hängt das Fahndungsplakat von Jan Marsalek, das im vergangenen Jahr überall in Deutschland an Bahnhöfen, Flughäfen, U-Bahn-Stationen hing. „Betrug in Milliardenhöhe“: Auf dem einen Foto trägt der Ex-Vorstand Vollbart, auf dem anderen ist er rasiert. „Können Sie Hinweise zum Aufenthaltsort von JAN MARSALEK geben?“, steht da.

Auf dem Tisch vor Dan McCrum stapeln sich die Akten, alles Wirecard. Vom Fenster aus kann man in die Einfahrt schauen, über Nacht ist der Schneemann, den er mit den Kindern gebaut hat, geschmolzen. Drei Kugeln, aufeinandergetürmt, mehr als zwei Meter hoch, sie sind zusammengefallen, kollabiert, da ist nur noch schmutziger Matsch. Fast wie Wirecard.

2018 war der Konzern an der Börse mehr als 20 Milliarden Euro wert, mehr als die Aktien der Lufthansa, für Wirecard musste die Commerzbank den Dax verlassen. Als der Insolvenzverwalter nach der Pleite des Unternehmens im Sommer 2020 nach Aschheim kam, fand er gerade noch 26,8 Millionen Euro auf den Konzernkonten. Dem stehen Schulden von mehr als 3,2 Milliarden Euro gegenüber. Das ist eine Liquiditätslücke von 99,17 Prozent.

„Wir waren immer überzeugt, dass Wirecard eine kriminelle Vereinigung ist“, sagt McCrum. Um genau das zu belegen, zog er sich monatelang in einen fensterlosen Raum in der Zentrale der Financial Times (FT) zurück, seines Arbeitgebers. Er las E-Mails und Tabellen, die ihm Whistleblower geschickt hatten. Intern sprachen sie vom Projekt „Ahab“, benannt nach dem Kapitän in Herman Melvilles Roman „Moby Dick“, der völlig besessen davon ist, den weißen Wal zu jagen und zu erlegen. „Wirecard“, sagt Dan McCrum, „war unser weißer Wal. 2017 hat das mal einer meiner Vorgesetzten in einer Konferenz zum Spaß gesagt. Der Name ist geblieben.“

Und bei Wirecard jagten sie den Journalist Dan McCrum. Er wurde überwacht, bedrängt, bespitzelt. In welchem Ausmaß, zeigen jetzt Zehntausende E-Mails des Wirecard-Vorstands, die [Medium], [anderes Medium] und [anderes Medium] ausgewertet haben. Sie geben einen Einblick, wie der ehemalige Dax-Konzern systematisch versucht hat, unliebsame Berichterstattung zu unterbinden. Jahr für Jahr wurden Millionen Euro ausgegeben für windige PR-Berater, ehemalige Geheimdienstler und Juristen.

Ein Unternehmen in Deutschland, das die Pressefreiheit missachtete. Und die Behörden? Sie verdächtigten lange Zeit ausgerechnet Dan McCrum, den Journalisten.

2014 hatte er zum ersten Mal den Namen Wirecard gehört. Ein Hedgefonds-Manager gab ihm damals den Tipp, sich einmal die Bilanzen genauer anzusehen, es gebe da Merkwürdigkeiten. Dan McCrum vertiefte sich ins Zahlenwerk. So wie er das früher immer gemacht hatte, bevor er Journalist wurde. Nach dem Wirtschaftsstudium hatte er einige Jahre bei der Citibank gearbeitet, Spezialgebiet europäische Firmen. Er wälzte Börsenprospekte, schaute sich Unternehmensstrategien an und las Geschäftsberichte durch, Tabellen, Aufstellungen und die Stellen nach dem Komma.

Ein Jahr später veröffentlichte er in der FT eine erste Serie von Texten, die er „House of Wirecard

“ nannte: „Wirecard ist eine kaum bekannte deutsche Tech-Aktie im Wert von fünf Milliarden – und ein Rätsel“, schrieb er. „Warum zahlt das Unternehmen große Summen im Voraus, Monate bevor Deals abgeschlossen sind? Warum sind wichtige Teile der Transaktionen nicht vollständig transparent? Warum werden Millionen für angeschlagene asiatische Unternehmen ausgegeben? Warum stimmen die in Singapur eingereichten Bilanzen nicht mit den in Deutschland gemeldeten Summen überein?“ Heute kennt er die Antwort: „Weil alles eine große Lüge war“, sagt McCrum, das Fahndungsplakat im Rücken. Fünf Jahre sollte es noch dauern, bis das „House of Wirecard“ dann wirklich zusammenfiel.

Schickte Dan McCrum in dieser Zeit eine journalistische Anfrage an Wirecard, wurde sofort der gesamte Vorstand informiert, dann die Juristen in London. Allein 2019 rechnete eine britische Medienrechtskanzlei mehr als 900.000 Euro für Schriftsätze ab. Mit Dan McCrum kommunizierte das Unternehmen fast nur über Anwälte.

Im Konzern selbst beschimpften sie McCrum als „kriminell“ oder „käuflich“. „Der muss mal erzählen was der so am Abend raucht. Muss ja ein gekreuzter brauner Afghane mit subtropischem, geraspelten Regenholz sein. Oder einfach nur getrockneter Pferdedung mit Peperoni gewürzt“, schrieb ein Geschäftspartner von Wirecard dem heute flüchtigen Ex-Vorstand Jan Marsalek.

In internen Chats wurde das Management noch deutlicher: „Journalisten-Termin“, schrieb Marsalek. Ob er den Reporter schmiere, fragte eine Mitarbeiterin. Mit „9-mm-Kugeln“, antwortete Marsalek. Ein anderes Mal beschwerte sich eine Vertraute von Marsalek: „Das ist doch nicht mehr wahr. Woher weiß das denn die FT?“ Und schlug vor: „Ich votiere für Drinks mit RSB. Als Gegenleistung können sie mal nach London.“ RSB ist eine private Sicherheitsfirma, eine Söldnertruppe aus Russland. Auf der Website sieht man Männer mit Maschinenpistolen, Boote, Stacheldraht und Militärfahrzeuge.

Es ist alles viel schlimmer, als der Insolvenzverwalter von Wirecard, Michael Jaffé, nach der Pleite des Finanzkonzerns bei einer ersten Bestandsaufnahme im August 2020 vermutet. Jaffé notierte im Insolvenzgutachten, jede kritische Berichterstattung insbesondere der FT über Wirecard habe „massive Gegenreaktionen“ ausgelöst. Der Konzern habe „alles nur Erdenkliche aufgeboten, um die Anschuldigungen in einem anderen Licht erscheinen zu lassen“. Der Vorstand habe sich als „Opfer einer medialen Schmutzkampagne“ ausgegeben. Jetzt ist klar, es war umgekehrt: Die Schmutzkampagne wurde vom Vorstand und dessen Handlangern betrieben.

Schon 2016 geriet McCrum ins Visier von Detektiven, die Wirecard mutmaßlich beauftragt hatte. Im 14-seitigen Maßnahmenkatalog einer österreichischen Sicherheitsfirma heißt es: Es werden „konkrete Vorschläge von uns an Hacker übermittelt, um Machbarkeit und Budget zu definieren“. Auch das Ziel eines möglichen Hackerangriffs ist genannt: Dan McCrum. Geplant war offenbar auch ein Angriff auf sein Smartphone. Angeschafft werden sollte dazu ein sogenannter Wlan-Rucksack. Eine Art mobiler Funkmast, in den sich Handys automatisch einloggen. Es „wäre extrem wertvoll, um Informationen von den Mobiltelefonen der potenziellen verdächtigen Personen abzusaugen“.

„Ich war der Teufel“, sagt Dan McCrum. Damals überlegte er aufzuhören, kein Wort mehr über Wirecard. Warum der ganze Stress, wenn der Konzern einfach weitermacht, wächst, Jahr für Jahr: Umsatz, Gewinn, Aktienwert.

Doch dann bekam Dan McCrum im Oktober 2018 eine Nachricht aus Singapur. Er flog hin. Zurück kam er mit einem Stick voller Daten: E-Mails, Chats, Tabellen. Er zog sich in die fensterlose Kammer zurück und begann mit der Auswertung. Am 30. Januar 2019 veröffentlichte er gemeinsam mit einer Kollegin einen Text über Ungereimtheiten in Singapur. In Asien, so der Verdacht damals, habe Wirecard Umsätze erfunden und Bilanzen geschönt. Kaum war der Artikel erschienen, brach der Aktienkurs von Wirecard ein. Doch statt sich konsequent mit den Vorwürfen zu beschäftigen, erstattete die Finanzaufsicht Bafin Anzeige gegen McCrum; die Staatsanwaltschaft in München nahm Ermittlungen wegen Marktmanipulation auf. Der Verdacht: Dan McCrum könnte Spekulanten vorab über seine Artikel informiert haben, damit diese auf fallende Kurse wetten konnten. Leerverkäufe von Aktien nennt man das. „Bist du sicher, dass du dich nicht geirrt hast“, fragten Kollegen. „Wurdest du schon verhaftet? Das war bald der Standardgruß in der Redaktion“, sagt McCrum.

Nach Deutschland reiste er danach jedenfalls nicht mehr. Wenn man ihn damals in London treffen wollte, lotste er einen meist in ein verstecktes Hotel unweit der St. Paul’s Cathedral, das offenbar nur er selbst kannte. Lobby und Frühstücksraum waren leer, lange bevor sich das Coronavirus ausbreitete. Trotzdem schaute McCrum sich ständig um. „Wenn ich U-Bahn gefahren bin, bin ich manchmal absichtlich in die falsche Richtung eingestiegen, um mögliche Verfolger abzuschütteln.“ Die Angst, von Wirecard überwacht zu werden, war immer da. Mitten in London. Wie die E-Mails nun zeigen, war die Angst sehr berechtigt.

Etliche Rechnungen für Observationen finden sich in den Daten. Im Frühjahr 2019 gab es eine Überwachung mit bis zu sieben Detektiven, Codename: „Korea Day“. Kosten: 23.414 Pfund. Im Oktober und November 2019 waren 28 Privatermittler daran beteiligt, Händler, Spekulanten und wohl auch FT-Journalisten in London zu überwachen. „Palladium 2“ hieß der Einsatz. Koordiniert wurde die Aktion von Rami El Obeidi, dem Ex-Chef des libyschen Auslandsgeheimdienstes, ein Freund von Jan Marsalek. El Obeidi sagt, er habe zwar Spekulanten, aber keine Journalisten überwacht.

„Irgendwann sind sie im Internet auch über meine Familie hergezogen, haben Namen und Adressen veröffentlicht und wilde Verschwörungstheorien verbreitet“, sagt McCrum. Eines der Gerüchte damals: Seine Frau würde als PR-Beraterin für einen Wettbewerber von Wirecard arbeiten und er nur deshalb so schlecht berichten.

Am 21. Februar 2019 hatte Marsalek einen Termin bei der Staatsanwaltschaft München I, Außenstelle Schleißheimer Straße. Ein ehemaliger Wirecard-Mitarbeiter sei auf Kosten eines Spekulanten von Singapur nach London geflogen, sagte Marsalek, es bestehe der Verdacht, dass diese Person ein Tippgeber der Financial Times gewesen sei. Er habe über einen Bekannten, der für einen ausländischen Staat arbeite, die Information erhalten. Als sei das Ausspähen von Flugdatenbanken normal und jedes Mittel recht. Die E-Mails des Vorstands zeigen, dass eine Londoner Sicherheitsfirma die Informationen zusammengetragen hat: „Abflug in Singapur am 13. Februar 2019, Flugnummer SQ322. Ankunft am 14. Februar 2019, 06.45 Uhr“, heißt es in einem Protokoll. Dazu Anschriften, Geburtsdaten, Handynummern von Personen, die Wirecard verdächtigte, Informationen an McCrum gegeben zu haben.

Den Staatsanwälten in München erzählte Marsalek bei seiner Aussage von einem Angebot, das er wenige Tage zuvor erhalten hatte. Ein Geschäftsmann aus London hatte in Aussicht gestellt, negative Berichterstattung über die erfundenen Umsätze in Singapur bei der Finanznachrichtenagentur Bloomberg zu verhindern. Für diese Unterstützung verlangte er 2,25 Millionen Pfund. Bezahlt werden sollte über einen rückdatieren Sponsoring-Vertrag für den Autorennstall des Mannes. Was Marsalek der Staatsanwaltschaft in den Monaten danach nicht erzählte: Er blieb mit dem Mann in Kontakt. 200 Seiten füllen Chatnachrichten, die Marsalek und er von März bis Mitte Juli 2019 ausgetauscht haben. Der Mann nannte Marsalek durchgehend „Kumpel“ und stellte in Aussicht, auch [Medium] von Recherchen abhalten zu können. Ein [Medium]-Reporter solle, wenn nötig, gefeuert werden, versprach der Mann aus London. Kosten: 900.000 Euro, zu überweisen per Sponsoring-Vertrag.

In London zog Dan McCrum sich also wieder in seine Kammer zurück und durchforstete die Daten aus Singapur. Und wurde fündig: Eine Excel-Tabelle, Stand 2017, eine angebliche Kundenübersicht. Doch von 34 der genannten Geschäftspartner existierten mindestens 20 entweder nicht, waren insolvent oder hatten ihre Geschäftsbeziehungen zu Wirecard längst eingestellt. Diese Tabelle war, was Ermittler eine „Smoking Gun“ nennen, ein starkes Indiz, ja gar der Beleg, dass ein Großteil der Geschäfte von Wirecard erfunden war.

„Im Sommer 2019 wussten wir: Wir haben es geschafft“, sagt Dan McCrum heute. Am 2. Juli 2019 schickte er seine Fragen an Wirecard. Die Anwälte antworteten: Die Tabelle sei „nicht authentisch“. Er entschied sich, nach weiteren Tabellen zu suchen, in denen die falschen Kundennamen auftauchen. McCrum fand zwei weitere Dateien, zwei weitere Indizien also, dass Wirecard vorgab, Geschäftsbeziehungen zu haben, die das Unternehmen in Wahrheit aber nie hatte.

McCrum schickte Wirecard gut zwei Wochen später eine zweite Anfrage. Dann passierte etwas Merkwürdiges. Im Auftrag von Wirecard, das legen die E-Mails nun nahe, wurden in London heimlich Tonbandaufnahmen von einem Treffen im noblen Stadtteil Marylebone angefertigt. Die Mitschnitte landeten beim Handelsblatt, das kurz darauf titelte: „Tonbandaufnahmen machen Wirecard-Streit mit Financial Times zum beispiellosen Krimi“.

Am Morgen des 17. Juli 2019 trafen sich in einem Klinkerbau in der Manchester Street drei Männer. Hier entstand der Mitschnitt. Auf dem Band hört man zwei Spekulanten, sie brüsten sich damit, dass sie mit Wetten auf einen Kurssturz der Wirecard-Aktie schon öfter viel Geld verdient hätten. Jetzt hätten sie von einem baldigen Artikel der Financial Times erfahren, der den Kurs wieder nach unten treiben werde. Der Mann, dem sie das erzählten, hatte sich als Abgesandter eines Investors aus Asien ausgeben. In Wahrheit war er ein Privatdetektiv mit besten Beziehungen zu Wirecard und schnitt alles mit. Kurz nach dem Treffen schickte Dan McCrum seine zweite Anfrage mit neuen Indizien, dass das Zahlenwerk von Wirecard völlig unglaubwürdig ist. „Zeitlich war das ein Zufall“, sagt McCrum heute.

Was dann geschah, war jedoch offenbar kein Zufall: Noch am selben Tag erhielt ein Reporter vom Handelsblatt die Tonbandaufnahmen und McCrums neue Anfrage. Angeblich habe ein besorgter Aktionär den Detektiv beauftragt. Das Unternehmen selbst wollte damit nichts zu tun gehabt haben. Aber konnte das sein? „Man hätte sich nur die simple Frage stellen müssen, ob das zeitlich Sinn ergibt“, sagt Dan McCrum und fährt sich mit der Hand durch die Haare. Ein angeblich unbekannter Investor wendet sich mit geheim angefertigten Tonbandaufnahmen an Wirecard, und wenige Stunden später wird die Aufnahme an Journalisten rausgegeben? Wie soll Wirecard so schnell die Identität des vermeintlichen Investors geprüft haben? Und wie konnte man sich so schnell sicher sein zu wissen, wer auf den Tonbändern spricht? Fragen, die nie innerhalb weniger Stunden beantwortet werden können.

Das Handelsblatt veröffentlichte den Artikel. „Es war eine Katastrophe. Mein dunkelster Moment. Wir waren so kurz davor, Wirecard zu enttarnen, und auf einmal ermitteln nicht nur die Behörden in Deutschland gegen mich, sondern auch mein eigener Arbeitgeber“, sagt McCrum. Denn: Die Financial Times geriet unter Druck und beauftragte eine Rechtsanwaltskanzlei, den Fall zu untersuchen. McCrum erhielt Schreibverbot, bis das Ergebnis vorlag. Fast drei Monate. „In dieser Zeit sammelte das Unternehmen 1,4 Milliarden Euro von Investoren ein, Geld, das weitgehend in Rauch aufgegangen ist“, sagt McCrum.

„Wir haben seit 2019 mehr als 200 kritische Artikel über Wirecard geschrieben. Mit dem Wissen von heute hätten wir natürlich manches im Juli 2019 anders formuliert“, teilt das Handelsblatt mit.

„Es war eine heftige Untersuchung“, sagt McCrum heute über die Arbeit der Kanzlei, die die FT beauftragt hatte. „Mein Chef und ich wurden mehrere Stunden von Anwälten befragt und mussten unsere Kommunikation offenlegen.“ Im Zuge der Untersuchung hätten ihm die Anwälte schließlich die Abschriften der heimlich aufgezeichneten Gespräche gezeigt. „Mit meiner Anfrage hatte das rein gar nichts zu tun.“ Wirecard bestritt bis zuletzt, in die Abhöraktion der Spekulanten eingeweiht gewesen zu sein, sie vielleicht sogar angeordnet zu haben. Die E-Mails des Vorstands zeigen jetzt aber, dass jene Detektei aus Manchester, die die Tonbandaufzeichnungen anfertigte, 2019 mehr als 100.000 Euro von Wirecard kassierte. Die Rechnungen schickte der Gründer direkt an Marsalek.

Als die internen Ermittlungen abgeschlossen waren, veröffentlichte Dan McCrum im Oktober 2019 mit drei Monaten Verspätung seine Recherche: 20 von 34 angeblichen Geschäftspartnern gab es entweder nicht, sie waren insolvent oder es bestanden keine Geschäftsbeziehungen mehr. Kurz darauf beauftragte der Aufsichtsrat von Wirecard die Wirtschaftsprüfer von KPMG mit einer Sonderprüfung. Acht Monate später kollabierte Wirecard. 1,9 Milliarden Euro, die angeblich auf Treuhandkonten bei zwei Banken auf den Philippinen gelegen haben sollen, hatten nie existiert. Ex-Vorstand Jan Marsalek ist seitdem auf der Flucht.

Und Dan McCrum?

Er wurde in Internetforen und sozialen Medien geächtet, gehasst, verfolgt – und wird jetzt auf einmal mit Preisen überhäuft, von denen er nicht einmal ahnte, dass sie existieren: Er ist jetzt Träger des Helmut-Schmidt-Preises, hat den Ludwig-Erhard-Preis erhalten und den Reporterpreis verliehen bekommen, man hat ihn auch für das Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen. Selbst Vizekanzler Olaf Scholz, als Bundesfinanzminister oberster Dienstherr der Bafin, jener Behörde, die ihn im April 2019 anzeigte, hat schon eine Laudatio auf ihn gehalten. „Ich habe meinen Job gemacht“, sagt Dan McCrum und lächelt: „Nicht mehr und nicht weniger.“


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TEXT 3

04.01.2021

Villa Kunterbunt

In der Prinzregentenstraße 61 war das Klubhaus von Jan Marsalek. Der flüchtige Wirecard-Mann empfing hier Ex-Agenten, Militärs, Geldwäscher und Geschäftemacher. Eine Rekonstruktion

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Ein Stadtschlösschen in einem Münchner Villenviertel, gebaut um die Jahrhundertwende. 1844 Quadratmeter, edelste Bogenhausener Lage, vier Meter hohe Decken, strahlend weiße Säulen, der Eichenfußboden knarzt dezent.Gegenüber liegt das russische Generalkonsulat.

Bis 1919 lebte hier der Physiker Wilhelm Conrad Röntgen. Dann zog ein Enkel von König Ludwig I. ein, Prinz Alfons von Bayern, nach ihm ist das Gebäude heute benannt. Fast ein Jahrhundert später beherbergte die Villa Alfons erst eine Schweizer Bank, dann eine Modeagentur, bis Anfang 2016 jemand kam, dessen Name auf keinem Mietvertrag und auf keiner Rechnung auftauchte, der aber das Sagen hatte und das nötige Geld, um die Jahresmiete von 680.000 Euro zu bezahlen: Jan Marsalek.

Er steht im Verdacht, den insolventen Zahlungsdienstleister Wirecard ausgenommen zu haben, womöglich schaffte er einen dreistelligen Millionenbetrag beiseite. Koordiniert wurde dieser mutmaßliche Beutezug nicht nur aus der Konzernzentrale in Aschheim, sondern auch aus der Villa Alfons in der Prinzregentenstraße 61.

Prinzregenten wurden um 1900 jene Männer genannt, die die Regierungsgeschäfte übernahmen, wenn ein Herrscher dazu nicht in der Lage war – treffender kann man auch die Rolle von Jan Marsalek bei Wirecard nicht beschreiben. Als Chief Operating Officer war er auf dem Papier nur die Nummer zwei im Konzern, aber Marsalek war es, der das mutmaßlich kriminelle Geschäft in Asien mit aufbaute, kontrollierte, und der sich persönlich um jenen Treuhänder kümmerte, der angeblich 1,9 Milliarden Euro auf den Philippinen verwaltete. Geld, das es zumindest in dieser Größenordnung nie gegeben hat. Heute wird Marsalek deswegen weltweit gesucht. Mal mit Vollbart, mal glatt rasiert ist er auf Fahndungsplakaten zu sehen. Seit sechs Monaten ist er auf der Flucht.

Als Jan Marsalek noch Vorstandsmitglied von Wirecard war, erzählen Eingeweihte, schaute er ein, zwei Mal in der Woche in der Villa vorbei. Sie war eine Art Klubhaus, in dem sich ein wild zusammengewürfelter Männerbund traf. Die Mitglieder flogen regelmäßig aus Moskau, Istanbul, Chennai, London oder Wien ein. Eine Truppe von Ex-Agenten, Militärs, Geldwäschern und windigen Geschäftemachern.

Da wäre etwa der frühere Chef des libyschen Auslandsgeheimdienstes. Oder ein Russe mit zwei Namen, ein untergetauchter Onlinegauner und ein ehemaliger Abteilungsleiter des österreichischen Nachrichtendienstes. Eine düstere Halbwelt mit Pornos und Onlinewetten, Verbindungen zum russischen Geheimdienst oder Reisen ins syrische Kriegsgebiet. Der Ausgangspunkt aber ist immer wieder die Villa Alfons.

In dem Gebäude hinter dem mit Efeu bewachsenen Zaun und den Hortensienbeeten diskutierten Marsalek und seine Freunde neue Geschäfte. Zwischendurch gingen sie essen beim Edel-Japaner oder bei einem teuren Italiener. Manchmal verreisten sie auch zusammen. Sie suchten das Abenteuer, zum Beispiel im Pleitestaat Venezuela, in dessen Hauptstadt die Mordrate so hoch ist wie kaum sonst auf der Welt. Oder sie bereisten Kriegsgebiete: Freunde und Kollegen erinnern sich an ein Foto, auf dem Marsalek mit Soldaten in der syrischen Oasenstadt Palmyra posierte, nachdem russische Söldner und die Armee von Baschar al-Assad die Stadt von den Terrortruppen des sogenannten Islamischen Staats zurückerobert hatten. Marsalek zeigte das Foto oft herum. In der Villa Alfons lag laut Augenzeugen bis vor Kurzem die schwarze Kampfmontur, die er sich für den Ausflug in den Krieg zugelegt hatte.

Gewohnt hat in der Villa in den vergangenen Jahren niemand, in vielen Räumen wurde umgebaut. Im Keller unverputzte Wände, im Dachgeschoss ein Bad ohne Armaturen. Und doch traf Jan Marsalek hier regelmäßig seine Geschäftsfreunde. Auch ein breitschultriger Mann, den sie in der Prinzregentenstraße „Stas“ nannten, war zu Gast. Er hatte Marsaleks Syrienreise mit eingefädelt, Fotos zeigen die beiden mit Geschäftspartnern in München. Was genau Stas getrieben habe, sei oft unklar gewesen, „aber er prahlte gern mit seinem Geld, bot uns sein Haus in Monaco und sein weißes Rolls-Royce-Cabrio für Urlaube an“, sagt einer aus Marsaleks Kreis.

Früher arbeitete Stas einmal für die Verwaltungsabteilung des Kreml, später direkt im Stab des russischen Präsidenten Putin. Mit den Jahren kam er offenbar in Kontakt mit hochrangigen Beamten im Sicherheitsapparat, gründete mehrere Firmen, verdiente viel Geld. Nach Recherchen des Londoner Dossier Center hat er mindestens zwei Namen, er heißt nicht nur Stanislav, sondern auch Boris. Er soll zwei Pässe haben, offenbar hat er beide benutzt, wenn er Marsalek besuchte. Einer der Pässe wurde von jener Moskauer Behörde ausgestellt, von der auch die Reisedokumente der mutmaßlichen Attentäter auf den Doppelagenten Sergej Skripal stammen. Flugdaten, die die von Kreml-Kritiker Michail Chodorkowski finanzierte Recherchegruppe ausgewertet hat, zeigen, dass Stas regelmäßig in München landete, von Frühjahr 2019 an fast jeden Monat für ein paar Tage. „Ich habe keine zwei Pässe, außerdem habe ich meine Mutter zu Arztbesuchen in München begleitet“, sagt Stas, als man ihn am Telefon erreicht. Verbindungen zum Geheimdienst bestreitet er.

Aber Stas sagt, dass er einen Mann kennt, der Oberst beim Militär war und heute als Arabist in Moskau lehrt. Auch Marsalek traf den Mann, dem Verbindungen zum russischen Militärgeheimdienst GRU nachgesagt werden. Er lud ihn in die Villa ein, soll ihn seinen „Mann des Vertrauens“ in Moskau genannt haben. Der Ex-Oberst sagt, er unterhalte keine Verbindungen zu russischen Geheimdiensten und habe lediglich als Wissenschaftler in Kontakt mit Marsalek gestanden.

Für Marsaleks Russlandkontakte und damit wohl auch für die Vorgänge in der Prinzregentenstraße interessiert sich inzwischen auch die Spionageabwehr des Bundesamts für Verfassungsschutz, wie aus einem Schreiben der Behörde vom Oktober 2020 hervorgeht, das [Medium] einsehen konnte: Es würden „Bezüge des ehemaligen Wirecard-Vorstandes zu Nachrichtendiensten in Russland geprüft“.

Bis vor ein paar Wochen empfing noch einer der letzten Marsalek-Freunde in der Villa Alfons. Bei einem Besuch im Sommer trug er ein Maßhemd mit eingesticktem, rotem Herzen. Der Kies knirschte unter seinen Turnschuhen auf dem Weg vom Tor zur Villa, in der Einfahrt standen zwei Schuttcontainer. Der Mann öffnete die schwere Eingangstür, führte in den ersten Stock, in den großen Konferenzraum. An einer Wand lehnten Ölgemälde in goldenem Rahmen, daneben ein Poster des US-Militärs. Ein Whiteboard zeugte noch von den Geschäften, die hier geplant wurden. Weiter oben, im zweiten Stock, lag Malervlies auf dem Boden, Baustaub, in einem Zimmer hatte jemand Bürostühle zusammengeschoben. Hier werde alles hergerichtet, sagte der Mann im Maßhemd. Als sei Jan Marsalek nur kurz fort. Als werde er bald wieder im Dachgeschoss übernachten. Fotos zeigen eine Matratze mit Bettbezug.

Sonst hatten Marsalek und seine Leute hier in der Villa nicht gespart. Sie ließen eine Profiküche einbauen und eine Alarmanlage mit hochauflösenden Überwachungskameras. In den Zimmern stellten sie speziell angefertigte Tische auf und Sessel, fast alles Giorgetti, italienisches Design. Auch einen abhörsicheren Raum planten sie.

Bei dem Besuch im Sommer schluckten schwere, graue Teppiche die Schritte. An dem Tag war in der Villa Alfons auch der Geschäftsführer einer Firma, die für Marsalek Start-ups entdecken und in dessen Auftrag Millionen investieren sollte. Die Firma war offiziell als Mieter des Hauses eingetragen. Im Büro des Geschäftsführers stand ein wuchtiger Schreibtisch, in einem Regal lag neben Figurinen und Unterlagen auch eine Gasmaske. Als die Pandemie ausgebrochen war, hatte Marsalek für sich und seine Freunde Atemschutzgeräte gekauft.

Ein Zimmer weiter lag das Büro des ehemaligen österreichischen Nachrichtendienstoffiziers Martin W., er war einer der Letzten, die Marsalek getroffen hat, bevor er im Juni untertauchte. In einem italienischen Lokal in der Nähe des Münchner Karlsplatzes aß Marsalek mit W. am Abend vor der Flucht. Am Tag danach fuhr er nach Österreich, ließ sich von einem Flugplatz südlich von Wien nach Minsk fliegen. Dort verliert sich seine Spur. Hat Martin W. Jan Marsalek bei seiner Flucht womöglich geholfen? Oder waren es russische Freunde? Die Kontakte hätte W. vermutlich, auch wenn er gegenüber Dritten bestritten hat, an der Flucht beteiligt gewesen zu sein.

Bis vor vier Jahren war W. einer der mächtigsten Beamten Österreichs. Er leitete die Abteilung 2 des Inlandsnachrichtendienstes. Dort werden die sensibelsten Operationen des Amtes koordiniert: Extremismus, Terrorismus, Spionageabwehr, illegaler Handel mit Kriegsmaterial. Zu W.s Kernaufgaben gehörte der Austausch mit ausländischen Partnerorganisationen.

Martin W. tauchte seit 2018 bei Partys und Veranstaltungen im Umfeld von Marsalek auf. Seit Anfang 2019 soll er von der Villa Alfons aus als Projektmanager gearbeitet haben, für Marsalek und damit indirekt für Wirecard. Ein karges Büro, leere Wände. Angeblich war W. auch in Dubai unterwegs, wo Fahnder eine Drehscheibe des Milliardenbetrugs um Wirecard vermuten. Eine Anfrage des [Mediums] beantwortet der Anwalt von Martin W. nicht.

Heute, einige Monate nach dem Besuch, steht die Villa weitgehend leer. Mit Marsaleks Flucht endete auch der Geldfluss, die Miete wurde nicht mehr bezahlt, mehrere der Start-ups gingen pleite. Aber bis heute ranken sich Gerüchte um das herrschaftliche Anwesen. Es ist die Rede von einer Richtfunkverbindung zum russischen Generalkonsulat, zu dem man nur über die Straße zu gehen braucht. Auch über einen geheimen Tunnel mutmaßen Nachbarn. Die Polizei war inzwischen mindestens drei Mal in der Villa, sie beschlagnahmte Möbel, Skulpturen, alles, was auch nur ein wenig Geld bringt – oder einen Hinweis auf Jan Marsalek und die verschwundenen Millionen.

Die Ermittler in München glauben, dass der Brite Henry O’Sullivan viel über den Verbleib des Geldes weiß. Er war eine der Schlüsselfiguren im Männerbund der Prinzregentenstraße. Einer der ältesten Geschäftsfreunde von Jan Marsalek und eine Art Berater von Wirecard. Jahrelang stand er bei Firmenübernahmen zur Seite. O’Sullivan verdiente sein Geld zunächst mit der Zahlungsabwicklung von Pornoseiten und Glücksspielen, bis er um das Jahr 2013 nach Indien zog und einen Anbieter von Zahlungssystemen aufbaute, der mit Wirecard kooperierte. Millionen flossen, unter anderem als Kredite. Geld, das mutmaßlich nie zurückgezahlt wurde.

Ein eigenes Zimmer hatte O’Sullivan in der Prinzregentenstraße nicht, dafür war er zu selten da. Gemeinsam mit Marsalek stemmte O’Sullivan 2015 aber den größten Deal in der Geschichte von Wirecard. Heute muss man wohl sagen, dass es vermutlich die größte Fehlinvestition des Unternehmens war. Die Ermittler in München nennen es: das Mauritius-Rätsel.

Im Fokus steht ein Fonds, der in Port Louis gegründet wurde. Wem das Unternehmen gehört, ist ein Mysterium. Sicher ist nur: Im Herbst 2015 kaufte der Fonds für 35 Millionen Euro drei indische Firmen, an denen zuvor auch Wirecard Interesse hatte. Vier Wochen später kam der Konzern doch noch zum Zug, allerdings für knapp das Zehnfache des Ursprungspreises. Die Ermittler vermuten, dass bei diesem Geschäft allerlei Geld abgezweigt wurde. Es deutet viel darauf hin, dass Henry O’Sullivan eingeweiht war: Er habe am Verhandlungstisch gesessen, sagt jemand, der dabei war. Aber nicht auf Seiten von Wirecard, sondern für den Fonds aus Mauritius, mit dem Marsalek verhandelte. Ein Deal unter Freunden. Sie könnten den Preis künstlich nach oben geschraubt und so Millionen verdient haben. Fotos belegen, dass Marsalek und O’Sullivan gemeinsam in Chennai waren, bevor der Fonds die dort ansässige Firmengruppe kaufte.

Das Mauritius-Rätsel ist nur eines der vielen Geheimnisse bei Wirecard. Beim Verdunkeln anderer Geschäfte war mutmaßlich Rami El Obeidi behilflich. Auch er war Gast in der Villa Alfons. 2011, nach dem Sturz des libyschen Machthabers Muammar al-Gaddafi, war Rami El Obeidi kurze Zeit Chef des Auslandsgeheimdienstes der Übergangsregierung. Um das Jahr 2017 tauchte er in Marsaleks Umfeld auf. El Obeidi reiste gerne im Privatjet, bei seinen Besuchen bezog er immer eine Suite im Luxushotel Mandarin Oriental, mit dem Taxi sind es von dort nur fünf Minuten bis zur Prinzregentenstraße. Auf Fotos sieht man ihn mit Marsalek, Martin W. und anderen Männern aus der Villa, in der Hand bauchige Weingläser.

Um Wirecard und Marsalek zu helfen, heuerte El Obeidi eine Sicherheitsfirma an, die Spekulanten in London beschattete. Als die Financial Times die Überwachung öffentlich machte, schickte er den Journalisten Rosen und einen Spa-Gutschein im Wert von 500 Pfund. Schöne Grüße von „Dr. Rami“, stand auf der Karte. Das sei nur eine versöhnlich gemeinte Reaktion gewesen, teilt er heute schriftlich mit, außerdem sagt er: „Jan Marsalek hat mich betrogen.“ Knapp 20 Millionen Euro hatte El Obeidi in jene Start-up-Förderfirma investiert, die ihren Sitz in der Prinzregentenstraße 61 hatte. Alles weg.

Geld war offenbar die treibende Kraft im Leben von Jan Marsalek. Ehemalige Weggefährten sprechen von ungezügelter Gier. Er wollte nicht nur Manager sein, sondern auch Großinvestor, die Villa Alfons sollte zur Herberge für junge Unternehmen werden. Zum Teil verfolgte Marsalek auch aberwitzige Projekte: Er prahlte vor Börsenhändlern in London damit, dass er sich die geheime Formel des Nervengiftes Nowitschok besorgt hatte. Jenes Gift, das etwa beim Anschlag auf den russischen Oppositionellen Alexej Nawalny eingesetzt wurde. Und welcher Dax-Vorstand kommt auf die Idee, sich an Zementfabriken in Libyen zu beteiligen, in einem „Failed State“, regiert von Warlords? Marsalek tat es.

Schließlich gibt es um das Klubhaus noch ein weiteres Rätsel: eine Stiftung, Marsaleks Stiftung, diesen Eindruck vermittelte er zumindest mehreren Personen aus seinem Umfeld. Benannt ist sie nach dem Ökonomen Felix Somary, ihr Zweck ist „die staatswissenschaftliche Forschung und politische Bildung auf demokratisch-freiheitlicher Grundlage im Geiste Felix Somarys“, heißt es im Vereinsregister. Dort steht, dass die Stiftung ihren Sitz nicht in der Prinzregentenstraße hat und dass der Vorsitzende auch nie Marsalek gewesen sei, sondern Michael Dzeba. Ein Unternehmensberater, der seit 2020 für die CSU im Münchner Stadtrat sitzt. Auch Dzeba hatte ein Büro in der Prinzregentenstraße 61. In der ersten Etage, nur ein paar Zimmer von Marsalek entfernt.

„Herr Marsalek hatte überhaupt keinen Einfluss“, sagt Stiftungsvorstand Dzeba am Telefon. Zu einem Treffen kommt es nicht, schon gar nicht in der Villa. Dabei schmiedeten er und Marsalek Pläne für ein Kaminzimmer im Erdgeschoss, Polstermöbel, Bibliothek und Bar. „Er hatte tolle Ideen, gute Kontakte, aber am Ende wurde nichts daraus“, sagt Dzeba.

Im Oktober 2014 lud die Stiftung, deren Name zeitweise am Briefkasten der Prinzregentenstraße 61 stand, einen ehemaligen US-Geheimdienstler, einen Ex-Militärberater von Angela Merkel und weitere Sicherheitspolitikexperten ins Schloss Planegg zu einem „Roundtable“, später gab es einen Helikopterflug über die Alpen. Mit dabei: Jan Marsalek. Ein andermal traf man sich, um über den Ukraine-Konflikt zu diskutieren. Auch der frühere Geheimdienstchef der Ukraine soll unter den Gästen gewesen sein. Und Marsalek, „Businessman“, so stand es auf Gästelisten.

Im April 2017 fand auch ein „privates Dinner“ zu Ehren des ehemaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy im Edelrestaurant Käfer statt, nur ein paar Schritte von der Villa entfernt. Edmund Stoiber nahm daran teil, genauso wie der frühere österreichische Kanzler Wolfgang Schüssel und ein deutscher Brigadegeneral.

Die große Politik und das Militär an einem Tisch mit Jan Marsalek, so war das immer wieder. Die Fäden zogen Marsaleks Freunde aus der Prinzregentenstraße. Im Februar 2018 etwa verfasste einer von ihnen eine E-Mail, unter anderem an einen Ex-CIA-Direktor, der vor Jahren die Einheit „Jawbreaker“ geleitet hatte, die Al-Qaida-Chef Osama bin Laden zur Strecke bringen sollte. Unter den Adressaten war auch Jan Marsalek. „Jan ist Familie für mich und ein Waffenbruder für uns“, hieß es in der Nachricht. Der gemeinsame Plan: Die Politik in Wien davon zu überzeugen, die österreichische Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlagern. Außerdem gebe es noch „ein Menge potenzieller Geschäftsmöglichkeiten“, schrieb der Freund und unterzeichnete mit „V/R “. V/R – Very Respectfully. Ein militärischer Gruß unter amerikanischen Soldaten, wenn sie an ranghöhere Offiziere schreiben.

Nach Marsaleks Flucht brach der Männerbund, der sich in der Villa Alfons traf, auseinander. Stas, der Mann mit den zwei Namen, wohnt an einem unbekannten Ort in Russland. Der österreichische Nachrichtendienstoffizier Martin W. ist aus der Öffentlichkeit verschwunden. Von O’Sullivan fehlt jede Spur. Und für die Villa wird ein Mieter gesucht. 680.000 Euro für 1844 Quadratmeter und eine wilde Agentengeschichte.


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TEXT 4:

28.11.2020

Das Wirecard-Protokoll:
Wie der milliardenschwere Finanzskandal aufflog

Zehn Tage im Juni

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Nur noch ein paar Minuten, dann tauchen
die Milliarden auf, diesmal wirklich!
Keine Ausrede war zu absurd,
als Markus Braun und Jan Marsalek
darum kämpften, die Kontrolle bei
Wirecard zu behalten. Binnen Tagen
kollabierte der einstige Vorzeigekonzern

16. Juni: Zwölf Milliarden Euro

Am Morgen haben sie in Berlin die Corona-Warn-App vorgestellt. Weltweit wohl „die beste“, lobt Kanzleramtsminister Helge Braun, Telekom-Chef Timotheus Höttges nennt die App gar einen „Rockstar“. Deutschland kann auch Digitalisierung, soll das heißen, nicht bloß Traditionsindustrie – endlich einmal ein positives Signal in diesen tristen Corona-Tagen. Als einer der wenigen deutschen Vorzeigekonzerne im Digitalgeschäft gilt vielen an jenem Morgen auch noch der Zahlungsdienstleister Wirecard aus Aschheim bei München. Das Unternehmen ist zu diesem Zeitpunkt an der Börse zwölf Milliarden Euro wert, mehr als doppelt so viel wie die Lufthansa.

Am Nachmittag verschickt Wirecard die Einwahldaten zur Bilanzpressekonferenz, die zwei Tage später stattfinden soll, wegen der Corona-Pandemie in diesem Jahr digital. „14.05 Uhr: Rede zum Verlauf des Geschäftsjahrs 2019, Dr. Markus Braun, CEO Wirecard AG“, heißt es in der Einladung. Es scheint, als sei alles unter Kontrolle.

Um 17.30 Uhr nimmt Aufsichtsratschef Thomas Eichelmann an einer kurzfristig anberaumten Telefonkonferenz mit vier Kontrolleuren der Wirtschaftsprüfgesellschaft EY teil. Sie kommen gleich zur Sache: Ein Großteil des Konzernvermögens, eröffnen sie Eichelmann, sei nicht aufzufinden. 1,9 Milliarden Euro, die auf Treuhandkonten bei zwei philippinischen Instituten – der Banco de Oro (BDO) und der Bank of the Philippine Islands (BPI) – lagern sollen, existieren womöglich gar nicht. Dokumente, die das das Vorhandensein der Gelder belegen sollen, seien „spurious“, wie es in der Finanzsprache Englisch heißt, auf Deutsch: falsch. Das hätten die beiden Banken erst Stunden zuvor mitgeteilt, berichten die Prüfer.

Das Telefonat ist der Anfang vom Ende dieses deutschen Digitalkonzerns, zehn Tage später ist das Unternehmen insolvent, kollabiert wie ein Kartenhaus. Anhand von E-Mails, Mitschriften, internen Unterlagen und zahlreichen Gesprächen mit Beteiligten können [Medium], [anderes Medium] und [anderes Medium] nun die letzten zehn Tage der spektakulärsten Pleite der deutschen Wirtschaftsgeschichte detailliert rekonstruieren. Es lässt sich nachzeichnen, wie Konzernchef Markus Braun, der inzwischen in Untersuchungshaft sitzt, mit immer absurderen Erklärungen versuchte, die Kontrolle bei Wirecard zu behalten. Und welch groteskes Schauspiel sein Vorstandskollege Jan Marsalek inszenierte, um die Mär von einem erfolgreichen, prosperierenden Konzern aufrechtzuerhalten. Es zeigt, wie Anwälte und Staatsanwälte systematisch getäuscht wurden, wie Teile des Aufsichtsrats erst in letzter Minute verstanden, dass sie jahrelang auf einen gigantischen Schwindel hereingefallen sind.

Nach dem Gespräch mit den Wirtschaftsprüfern am 16. Juni beruft Thomas Eichelmann den fünfköpfigen Aufsichtsrat am selben Abend zu einer Sondersitzung per Telefonschalte ein, um 20.20 Uhr geht es los. Eichelmann referiert, was ihm die Wirtschaftsprüfer zuvor erzählt haben: Das Geld auf den Philippinen sei nicht auffindbar, die für den 18. Juni geplante und bereits mehrfach verschobene Vorstellung der Bilanz in Gefahr. Nach und nach werden Vorstandsmitglieder eingewählt. Jan Marsalek, zuständig für das Asiengeschäft, gibt sich überrascht.

Konzernchef Markus Braun spricht von einem „Missverständnis“, bezweifelt gar die Angaben von EY. Man wisse ja nicht genau, wie die Prüfer ihre Informationen besorgt hätten. Es sei absurd, wenn „EY völlig unangemeldet und unabgestimmt bei Bank vorstellig“ werde und dort einfach Auskünfte erteilt würden, beschwert sich Braun. Die Angaben von EY müssten überprüft werden, möglicherweise sei nicht richtig recherchiert worden. Aufsichtsratschef Eichelmann widerspricht, EY habe mit hochrangigen Managern beider Banken gesprochen und mitgeteilt bekommen, dass die Konten nicht existierten.

In Wahrheit sind die Vorwürfe nicht sonderlich überraschend. Seit Oktober 2019 war mit KPMG eine zweite Wirtschaftsprüfungsgesellschaft mit einer Sonderprüfung betraut gewesen. Gut sechs Wochen zuvor hatte KPMG den Abschlussbericht vorgelegt. Der Hauptkritikpunkt: Wirecard hat in vielen Fällen keine Dokumente zur Verfügung gestellt. Es gab also mehr Ungereimtheiten als Parkplätze vor der Konzernzentrale.

Die Anwaltskanzlei Clifford Chance, die den Aufsichtsrat berät, drängt zur Eile, es gebe keinen Anlass, mit einer Ad-hoc-Mitteilung zu warten. Aktiengesellschaften müssen ihre Aktionäre über große Veränderungen umgehend informieren, also ad hoc. Immerhin, so die Anwälte, habe EY erklärt, dass man die Bilanz von Wirecard für 2019 nicht testieren, also bestätigen könne; die Finanzierung des Unternehmens sei dann gefährdet. Braun gelingt es jedoch, Zeit zu schinden. Bis sechs, sieben Uhr am nächsten Morgen lasse sich alles aufklären, verspricht er. Braun verweist auf den Treuhänder, der die Milliardenkonten führe. Es handele sich um eine renommierte Persönlichkeit, bestens vernetzt auf den Philippinen.

Der Mann, auf den jetzt alles ankommt, heißt Mark Tolentino. Er ist Anwalt und ist vor wenigen Jahren wegen mutmaßlicher Unregelmäßigkeiten als Abteilungsleiter im Verkehrsministerium von Staatspräsident Rodrigo Duterte persönlich entlassen worden. Das erfährt der Aufsichtsrat aber nicht. Am späten Abend schickt Jan Marsalek eine E-Mail an Tolentino, Betreff: „Urgent Matter“, und informiert ihn, dass EY Zweifel an der Existenz der Konten habe. „Wir sind zuversichtlich, dass dies ein Missverständnis ist, sind jedoch auf deine volle und unmittelbare Unterstützung angewiesen, um die von EY erhobenen Vorwürfe zu widerlegen“, schreibt Marsalek. Die Banken müssten die Konten und Kontostände bestätigen.

An der Börse ahnt niemand etwas. Die Wirecard-Aktie kostet zum Handelsschluss in Frankfurt 99,45 Euro.

17. Juni: Unsichtbare Konten

Früh am Morgen antwortet Treuhänder Tolentino: „Dear Mr Jan“, er sei überrascht, das Missverständnis sei womöglich darauf zurückzuführen, dass es sich um Treuhandkonten und nicht um normale Konten handele. Den ganzen Tag über schicken Marsalek und Tolentino sich E-Mails hin und her. Mal kündigt der Treuhänder an, es werde in Kürze eine Klarstellung kommen; mal ist er angeblich gerade auf dem Weg zur Zentrale der Bank BPI, um alles zu bereinigen. Marsalek leitet die E-Mails an seine Vorstandskollegen weiter: „FYI“, für euch zur Info, und: „Bleibe dran.“ Das soll wohl Hoffnung wecken.

Um 16 Uhr tagt wieder der Aufsichtsrat, wieder per Telefon. Und wieder hören die Anwälte mit. Die Frist, die Vorstandschef Markus Braun am Vortag erbeten hat, ist seit mehreren Stunden abgelaufen. Bestätigungen der Banken sind nicht eingetroffen. Um 17.25 Uhr wird der Vorstandschef für zehn Minuten zugeschaltet. „Dr. Braun teilte mit, dass er noch heute ein Statement der Bank BPI erwarte. Derzeit fände eine Vorstandssitzung hierzu statt. Von BDO erwarte er schriftliche Bestätigung der Konten bis morgen früh“, heißt es in einer Mitschrift. Genau das hatte Treuhänder Mark Tolentino in seiner E-Mail behauptet.

Doch die Aufsichtsräte werden skeptisch: Wie es sein könne, dass die Konten nicht zu finden seien, wollen sie wissen. Braun vermutet eine höhere „Geheimhaltungsstufe“ für Treuhandkonten. Deshalb seien sie vielleicht nicht sichtbar gewesen. Unsichtbare Konten? Welch ein Irrsinn. Braun plappert nach, was Tolentino an Ausreden geliefert hat.

Nach der Sitzung schickt ein leitender EY-Manager eine E-Mail an Aufsichtsratschef Thomas Eichelmann. Um das Testat noch zu erhalten, müsse Wirecard Belege dafür heranschaffen, dass die philippinischen Banken auf Vorstandsebene bestätigen, dass die Treuhandkonten „existieren, bei ihnen geführt werden und die genannten Kontostände zutreffend sind“. Des Weiteren benötige man „eine schlüssige Erklärung, warum die uns gegenüber abgegebenen Schreiben unrichtig sind“. Darüber hinaus verlangen die Prüfer Unterlagen zu den Kontoeröffnungen und Kontoauszüge. Und zwar hurtig.

Als die Börse schließt, notiert die Wirecard-Aktie bei 104,50 Euro.

18. Juni: „Beste Grüsse – JM“

An diesem Donnerstag will Wirecard seinen Jahresabschluss für 2019 vorlegen, um 14.05 Uhr dann die digitale Pressekonferenz, so hatte es der Konzern versprochen. Gegen sieben Uhr telefoniert Braun zum ersten Mal mit Aufsichtsratschef Eichelmann: Innerhalb der nächsten 30 Minuten würden die neuen Bankbestätigungen eingehen, versichert Braun einmal mehr, um die Existenz der fehlenden 1,9 Milliarden Euro doch noch zu belegen. Ist das blanker Realitätsverlust oder eine dreiste Lüge? Braun weiß: Sobald Wirecard mitteilt, kein Testat für die Bilanz aus 2019 zu bekommen, entgleitet ihm alles. Um 8.05 Uhr spricht Eichelmann wieder mit ihm, diesmal ist auch Finanzvorstand Alexander von Knoop in der Leitung. Noch immer liegen keine Bankbestätigungen vor. Wie auch? Knoop dringt darauf, schnell eine Ad-hoc-Mitteilung zu veröffentlichen. Braun wehrt sich erneut.

Um 8.56 Uhr leitet Jan Marsalek eine E-Mail von Treuhänder Mark Tolentino an die anderen Vorstände weiter, jetzt scheine es „endlich Bewegung zu geben“, schreibt er. Um 9.57 Uhr ruft Eichelmann erneut Braun an, der weiter herumlaviert: In diesen Minuten erwarte er „relevante Informationen“ zu den Treuhandkonten, verspricht er Eichelmann. Ob etwas dagegen spräche, noch zehn Minuten zu warten? Nur zehn Minuten? Genau das hatte Tolentino geschrieben, in der E-Mail an Marsalek. Allerdings vor mehr als einer Stunde.

Der Aufsichtsrat lässt sich wieder hinhalten, als würde er selbst noch auf das Wunder von Manila hoffen. Finanzvorstand Knoop versichert, dass die Mitteilung spätestens um 10.10 Uhr veröffentlicht werde. Als der Aufsichtsrat um 10.23 Uhr zum dritten Mal in dieser Woche telefonisch zusammentritt, ist noch keine Meldung publiziert. Jetzt geht es um jede Minute: Um 10.24 Uhr schreibt Tolentino an Marsalek, bei der BPI habe man eine entsprechende E-Mail aufgesetzt. Marsalek reicht Tolentinos Ankündigung sofort an den Vorstand und den Anwalt einer Kanzlei weiter, die Wirecard berät – „FYI“. Der Anwalt schreibt um 10.29 Uhr an Marsalek, die Bestätigung solle „direkt an Sie oder EY“ gehen. Marsalek antwortet drei Minuten später: Genau darum habe er Tolentino „bereits mehrfach“ gebeten. „Beste Grüsse – JM.“ Doch das ist, wie sich später herausstellt, eine Finte, wie so vieles von Marsalek. Der Aufsichtsrat lässt sich nun nicht länger hinhalten. Um 10.43 Uhr kommt die Ad-hoc-Mitteilung: Der Abschlussprüfer habe die Wirecard AG darüber informiert, dass für die Existenz von Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von insgesamt 1,9 Milliarden Euro „noch keine ausreichenden Prüfungsnachweise zu erlangen waren“. Die 1,9 Milliarden Euro entsprächen „in etwa einem Viertel der Konzernbilanzsumme“. Binnen Minuten stürzt die Aktie um mehr als 60 Prozent ab.

Zwei Personalentscheidungen fällt der Aufsichtsrat an diesem Tag noch. James Freis wird zum Rechtsvorstand berufen. Der Amerikaner hat zuvor bei der Deutschen Börse gearbeitet. Freis unterschreibt einen Dreijahresvertrag, 1,7 Millionen Euro garantiertes Gehalt sowie zwölf Flüge in der Business-Klasse nach Washington.

Jan Marsalek, die Nummer zwei in der Konzernhierarchie, wird an diesem Donnerstag freigestellt. Begründung: Da er nicht in der Lage gewesen sei, „die erforderlichen Belege mit Blick auf die angeblichen Treuhandkonten zu erbringen, muss der Aufsichtsrat in seiner Verantwortlichkeit zumindest von schweren Organisationsmängeln ausgehen“. Konzernchef Braun erklärt, er trage Marsaleks Freistellung mit, gibt aber zu Protokoll, er könne keine Anzeichen dafür erkennen, dass Marsalek „etwas falsch gemacht“ habe. Braun schätzt die Chancen, dass mit den Konten auf den Philippinen alles seine Richtigkeit habe, auf „50:50“. „Emotional“ gehe er zu 70 Prozent davon aus.

Am Nachmittag unterrichtet Aufsichtsratschef Eichelmann Marsalek über dessen Freistellung. Dazu verlässt er kurz die Aufsichtsratssitzung. Marsalek habe die Nachricht „sehr professionell akzeptiert“, berichtet er seinen Kollegen. In der Konzernzentrale in Aschheim hat Marsalek dann seinen letzten großen Auftritt. Er kommt in eine Besprechung, in der Anwälte und Manager zusammensitzen, auch Markus Braun. Marsalek sagt ruhig, er werde jetzt auf die Philippinen reisen, um alles aufzuklären. Doch der Mann, der so gefasst reagiert, hat ganz andere Pläne: für seine Flucht. Marsalek lässt einen Tisch für drei Personen in einem italienischen Restaurant in der Münchner Innenstadt reservieren. Dort trifft er sich, es ist kurz nach 18 Uhr, mit einer Vertrauten und einem ehemaligen Agenten des österreichischen Nachrichtendienstes. Marsalek erzählt auch der Frau später am Abend, dass er auf die Philippinen fliegen müsse, um die verschwundenen Wirecard-Milliarden aufzuspüren.

Am Abend ist eine Wirecard-Aktie noch 39,90 Euro wert.

19. Juni: Erzwungener Rücktritt

In der Nacht veröffentlicht Wirecard ein absurd anmutendes Video. Hinter einem Tisch stehen nebeneinander die verbliebenen Vorstandsmitglieder: Susanne Steidl, Alexander von Knoop, James Freis, der Neue, und Markus Braun, der als Einziger spricht: „Es kann derzeit nicht ausgeschlossen werden“, sagt er, „dass die Wirecard AG in einem Betrugsfall erheblichen Ausmaßes zum Geschädigten geworden ist.“ Es wird nach 18 Jahren im Konzern sein letzter öffentlicher Auftritt im Dienst der Wirecard AG.

Um kurz nach 9.30 Uhr am Freitagmorgen berichtet Freis dem Aufsichtsrat von seinen ersten Erkenntnissen als Vorstandsmitglied. Bevor er zur Deutschen Börse kam, hatte er jahrelang für das US-Finanzministerium in Washington gearbeitet und war Direktor der obersten Anti-Geldwäsche-Behörde der USA.

Nach nicht einmal 24 Stunden im Amt sei er sich fast sicher, dass die Saldenbestätigungen der Konten auf den Philippinen „gefälscht“ seien, berichtet er. Seine Herleitung ist so einleuchtend wie simpel. Erstens: Banken in einer auf dem Dollar basierenden Wirtschaft wie auf den Philippinen führen normalerweise keine Euro-Konten in Milliardenhöhe. Zweitens erlaube der Geschäftsbericht einer der beiden Banken keine Rückschlüsse darauf, dass es so umfangreiche Euro-Beträge in der Bilanz gebe. Zugleich sei es sehr unwahrscheinlich, dass Treuhandkonten außerhalb der Bankbilanz geführt werden. Und schließlich zeigten die Kontoauszüge, dass die Gelder angeblich per Handy verschoben worden seien. Konzernvermögen in Höhe von 1,9 Milliarden Euro mal eben mit dem iPhone überweisen?

An diesem Morgen wird auch dem Letzten im Aufsichtsrat klar, dass es keinen Zweck hat, weiter an Markus Braun festzuhalten. Die Kontrolleure legen ihm einen freiwilligen Rücktritt nahe, die Alternative wäre ein Rausschmiss. Am Telefon erklärt Braun, die Frage nach den Geldern auf den Treuhandkonten sei noch immer offen. Es sei „nicht zum Wohle der Gesellschaft“, wenn er zurücktrete. „Ich hab’ die Nase voll“, entgegnet Eichelmann, jetzt sei Schluss. Braun habe zehn Minuten Zeit, danach werde er abberufen.

Neun Minuten später, so erinnert sich einer der Beteiligten, meldet sich Braun erneut und bietet seinen Rückzug an. „Im Einvernehmen mit dem Aufsichtsrat“, wie es später in einer Mitteilung heißt, scheidet jener Mann aus, der zeitweilig sieben Prozent der Wirecard-Aktien hielt. Als Brauns Nachfolger wird Freis ernannt, der erst tags zuvor in den Vorstand berufen worden war. Der Leiter der Compliance-Abteilung begleitet Braun zu seinem Wagen in der Tiefgarage. Im Maybach fährt er nach Wien, zu Frau und Tochter.

Ebenfalls auf den Weg nach Österreich hat sich an diesem Nachmittag Jan Marsalek gemacht, nach Bad Vöslau, etwa 30 Kilometer südlich von Wien. Auf dem kleinen Flugplatz in der Nähe eines Industriegebiets hält gegen 19 Uhr sein Taxi. Marsalek steigt aus, er hat nicht mehr als einen Seesack und einen Koffer dabei, wie ein Zeuge später bei den Ermittlern aussagen wird. Er besteigt eine Cessna Mustang, übergibt dem Piloten die vereinbarten knapp 8000 Euro und lässt sich in die weißen Ledersitze der Maschine fallen. Kurz nach 20 Uhr nimmt die Cessna mit der Kennung OE-FTS Kurs auf Minsk. In der Hauptstadt von Belarus verliert sich seine Spur.

An der Börse rutschen die Wirecard-Aktien weiter ab und notieren am Ende des Tages bei 25,82 Euro.

20. Juni: Der Panther lauert

Wochenende. Die Börse hat geschlossen, die Anwälte und Aufsichtsräte von Wirecard können zum ersten Mal seit Tagen durchschnaufen, wenn auch nur kurz. Einer von ihnen fühlt sich wie in einem bösen Traum, „aus dem man dauernd aufwachen mag, damit endlich alles vorbei ist, aber es hört einfach nicht auf“. Im Kreise derjenigen, die den Fall aufklären sollen, hat man später vor allem eine Erklärung für das Verhalten von Braun und Marsalek. Für den Versuch, mit immer absurderen Aktionen und Erklärungen eine Offenlegung der Vorgänge auf den Philippinen zu verzögern oder gar zu verhindern. Die beiden, so die These, hätten die Mär vom erfolgreichen, prosperierenden Konzern aufrechterhalten wollen. Hätten gehofft, dass EY die Bilanz wieder testiert, um Zeit zu gewinnen. Um neue Investoren zu finden oder gar die Deutsche Bank übernehmen zu können.

Diesen fantastischen Plan gab es wirklich. Erst hieß das Projekt „Louis XIII.“, dann „Panther“. Wie eine Raubkatze wollten sie sich anschleichen und die Deutsche Bank übernehmen. Selbst einen Namen gab es schon: Aus Wirecard und Deutscher Bank sollte Wirebank werden. Warum? In den Bilanzen der Großbank hätten sich die Luftbuchungen verstecken, die Betrügereien vertuschen lassen, wird Braun und Marsalek im Kreise der Aufklärer unterstellt. Das klingt plausibel, aber stimmt das? Schwer zu sagen: Marsalek ist auf der Flucht, Braun bestreitet alle Vorwürfe.

21. Juni: Schweinchen Schlau

Der neue Vorstandschef James Freis hat sich am Wochenende in die Geschäfte und Zahlen von Wirecard vertieft. Am Sonntagabend berichtet er dem Aufsichtsrat bei einer Telefonkonferenz, was er entdeckt hat. Es ist ein Blick in den Abgrund. Wirecard „verbrenne“ Geld, etwa 400 Millionen Euro pro Jahr. Es gebe keine Anhaltspunkte, dass das Geschäft mit sogenannten Drittpartnern in Asien tatsächlich existiere, dessen Erlöse auf den Treuhandkonten ruhen sollen. Einen Großteil des Umsatzes und Profits von Wirecard hat es demnach nur auf dem Papier gegeben. Freis hat noch weitere schlechte Nachrichten: Er vermutet, dass der Konzern von Bankkrediten lebe und dass Straftaten begangen worden seien.

Bei Wirecard nennen sie Freis schon nach wenigen Stunden „Schweinchen Schlau“, weil er wie ein Besserwisser auftrete. Doch fast alles, was er nach seinen ersten drei Tagen im Amt sagt, bewahrheitet sich später, wie die Ermittler und der Insolvenzverwalter herausfinden. Und wenn Freis so schnell den Ernst der Lage erkennt, wie kann es sein, dass der langjährige Konzernchef Markus Braun davon nichts mitbekommen haben will? Am späten Abend dann die nächste Hiobsbotschaft: Die Zentralbank der Philippinen erklärt, die 1,9 Milliarden Euro seien nicht vorhanden. Wirecard kommt nicht umhin, das selbst einzugestehen.

22. Juni: Ad-hoc in der Nacht

Um 2.48 Uhr am Montag verschickt das Unternehmen eine Ad-hoc-Meldung, in der Wirecard einräumt, dass die Bankguthaben auf philippinischen Treuhandkonten in Höhe von 1,9 Milliarden Euro „mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht bestehen“. Um sieben Uhr erscheint die Münchner Oberstaatsanwältin Hildegard Bäumler-Hösl zum Dienst. Gemeinsam mit einem Kollegen verfasst sie Anträge auf Haftbefehle gegen Braun und Marsalek. Der Vorwurf: Marktmanipulation. Brauns Anwalt Alfred Dierlamm fliegt von einem Kurzurlaub auf Mallorca zurück. Dierlamm sorgt dafür, dass Braun am Nachmittag von Wien nach München fährt.

Um 19.30 Uhr trifft Braun bei der Staatsanwaltschaft ein, um sich festnehmen zu lassen. Er geht den Flur entlang, vorbei an der Kaffeeküche, setzt sich im Besprechungszimmer an den großen Tisch. Er ist mit zwei Anwälten da, zwei Polizisten sind anwesend, ferner drei Staatsanwälte. Als der Haftbefehl verlesen worden ist, begleitet Oberstaatsanwältin Bäumler-Hösl Braun noch ins Polizeipräsidium.

Die Börse hat wieder auf. Am Abend kosten die Papiere von Wirecard 14,44 Euro.

23. Juni: Nachsicht mit Braun

Die Nacht hat Markus Braun in einer Zelle verbracht, seine erste Nacht in Unfreiheit. Am Nachmittag kommt er frei, die Haftrichterin verfügt, dass er eine Kaution von fünf Millionen Euro hinterlegen muss. Er bekommt die Auflage, sich einmal pro Woche bei der Münchner Polizei zu melden. Auf Jan Marsalek, der über seinen Anwalt mitteilen ließ, auch er werde kommen, warten die Ermittler vergeblich. Stattdessen bekommen sie zu hören, dass Marsalek sich auf den Philippinen aufhalte. Laut der Datenbank des philippinischen Grenzschutzes soll er an diesem Dienstag mit einem Billigflieger aus Singapur am Terminal 1 in Manila gelandet sein – es ist eine weitere Lüge. Die Behörden auf den Philippinen ermitteln inzwischen gegen die Beamten, die ihn zum Schein ins Computersystem eingetragen haben. Hat Marsalek seine Geheimdienstkontakte genutzt, um die Spuren seiner Flucht zu verwischen?

Trotz der schweren Vorwürfe der Staatsanwaltschaft will der Aufsichtsrat Markus Braun einen „Aufhebungsvertrag“ anbieten. Anders als in der Vorwoche, als Braun binnen zehn Minuten zurücktreten musste, soll er dieses Mal drei Tage Bedenkzeit bekommen. Sollte Braun in dieser Zeit nicht zustimmen, werde der Vorstandsvertrag „mit sofortiger Wirkung außerordentlich gekündigt“, heißt es in einem von Thomas Eichelmann unterzeichneten Beschluss des Aufsichtsrats. Darin steht, mit einem Aufhebungsvertrag könne Wirecard das Risiko vermeiden, im Falle einer außerordentlichen Kündigung von Braun verklagt zu werden. Warum der Aufsichtsrat eine Auseinandersetzung mit Braun scheut, bleibt schleierhaft. In dem Beschluss wird ihm unter anderem vorgeworfen, seine „Pflichten zur Überwachung des Vorstandsmitglieds Jan Marsalek“ in schwerwiegender Weise verletzt zu haben. Es sei ein „vollständiger Vertrauensverlust“ entstanden. Der wird auch damit begründet, dass es keine Nachweise für das angebliche Milliardenvermögen in Asien gebe.

Zu Handelsschluss ist die Wirecard-Aktie 17,15 Euro wert.

24. Juni: Neuer Verdacht

Aufsichtsratschef Thomas Eichelmann bekommt erneut Post von EY. Die Wirtschaftsprüfer haben bei ihren neuerdings energischen Untersuchungen neue „Unregelmäßigkeiten“ entdeckt. Diese seien geeignet „den Widerruf des Bestätigungsvermerks für die Jahres- und Konzernabschlüsse zum 31. Dezember 2018 gegebenenfalls zu begründen“. Sprich: EY denkt darüber nach, auch das bereits gegebene Testat für das Jahr 2018 zurückzuziehen. Und wieder geht es um eine mutmaßliche Fälschung.

EY hatte in den Tagen zuvor auch bei dem früheren Treuhänder der Asien-Konten nachgefasst, bei einer Kanzlei in Singapur. Sie soll bis Ende 2019, bis zur Weitergabe der vermeintlichen Konten auf die Philippinen, das angebliche Wirecard-Vermögen in Asien betreut haben. Citadelle Corporate Services, so der Name der Firma, sollte nachträglich noch einmal bescheinigen, dass Ende 2018 etwa eine Milliarde Euro auf vier Treuhandkonten in Singapur gelegen habe. Doch Citadelle widerspricht. Man habe diese Konten weder gehalten noch eine Bestätigung darüber abgegeben. Anderslautende Papiere seien falsch. Das sei nicht „unser Firmen-Briefkopf“. Der letzte Service, den man für Wirecard geleistet habe, sei im März 2017 gewesen.

„Damit besteht erneut der Verdacht, dass auch die uns vorgelegten Saldenbestätigungen des Treuhänders sowie die uns erteilten Auskünfte zu den Kontobeständen zum 31. Dezember 2018 falsch waren“, schreibt EY an Eichelmann. Gemeinsam mit dem Aufsichtsrat widerruft dieser an diesem Tag die frühere Bestellung von Markus Braun zum Vorstandschef „mit sofortiger Wirkung“.

Die Aktien von Wirecard notieren am Abend bei 12,30 Euro.

25. Juni: Das Ende

Um 7.19 Uhr ruft der neue Vorstandschef James Freis „unerwartet“ Chefkontrolleur Thomas Eichelmann an, wie dieser dem Aufsichtsrat knapp drei Stunden später bei einer Telefonkonferenz berichtet. Die Finanzaufsicht Bafin, so Freis, habe die „Liquiditätsanforderungen“ bei der konzerneigenen Wirecard Bank verschärft. Auf 200 Millionen Euro des Konzernguthabens habe die Wirecard AG jetzt keinen Zugriff mehr. Dem Konzern blieben jetzt nur noch 130 Millionen Euro „free cash“, wobei pro Woche 13 Millionen „verbrannt“ würden. Die Konzerngesellschaften würden nun „Stück für Stück fallen", wird Freis zitiert.

Eichelmann telefoniert zum wiederholten Mal mit Bafin-Präsident Felix Hufeld, weitere Gespräche folgen. Freis kündigt laut Aufsichtsratsunterlagen an, Insolvenz zu beantragen, falls sich die Lage nicht ändere. Insolvenzspezialisten werden hinzugezogen. Noch während der Aufsichtsrat am Vormittag tagt, teilt Freis mit, den Insolvenzantrag zu stellen. 25 Minuten später, um 10.28 Uhr, verschickt das Unternehmen eine Ad-hoc-Nachricht, die dritte in diesen turbulenten Tagen. Am Nachmittag konferieren die Aufsichtsräte erneut miteinander. Es geht um Formalia, Haftungsfragen und um den Stand der Ermittlungen, es fällt erstmals der Name des späteren Insolvenzverwalters Michael Jaffé. Konzernchef Freis berichtet von „ernsten Drohungen“ gegen Wirecard und „persönlichen Drohungen“ gegen Vorstandsmitglieder und bittet um Personenschutz. Der Aufsichtsrat stimmt zu. Die Sitzung dauert gut zwei Stunden. Am Ende dankt Eichelmann allen Mitgliedern des Gremiums für deren Zeit und Einsatz und für die „heutigen fruchtbaren Diskussionen“.

Am Abend bringen Papiere von Wirecard noch 3,53 Euro. Für die Anleger, die so sehr auf ein deutsches Digitalwunder gehofft hatten, sind sie quasi wertlos.

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Das Zeitungslayout beinhaltet diverse Einschübe und Bildunterschriften.

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