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Operation Wiederaufbau

Am Dienstag, 7. Februar 2023, steigt Stefan Weiler in Przemysl im Südosten Polens in den Zug nach Kiew. Es ist 19 Uhr, die
Fahrt soll durch die Dunkelheit gehen, aus Sicherheitsgründen. Weiler hat eine leichte Tasche dabei, darin eine
Taschenlampe, Bargeld, Kreditkarte, Handy mit Ladegerät, Wäsche für drei Tage. Und einen Plan, den es so noch nie
gegeben hat: für den Wiederaufbau des Landes, in das er fährt, die Ukraine.Es ist ein Land, das jeden Tag angegriffen, jeden
Tag weiter zerstört wird. Wohnhäuser, Kraftwerke, Schulen, Krankenhäuser, Fabriken, Straßen. Zuletzt: ein Staudamm, der
sich über 80 Dörfer ergoss. Hunderttausende Menschen sind in diesem Krieg gestorben, täglich sterben mehr.
Stefan Weiler denkt an jenen Tagen im Februar weniger an die Zerstörung. Sondern an die Zeit danach. Wenn der Krieg
endet, soll es nicht nur um neue Straßen und Fabriken gehen. Sondern um ein neues Land.
Weiler wird auf seiner Reise von fünf Bodyguards begleitet. Um sechs Uhr morgens, so erzählt er es im Rückblick, kommen
sie in Kiew an. Weiler, 49 Jahre alt, stammt aus Siegburg bei Bonn. Er ist Managing Director bei JPMorgan, der größten Bank Amerikas, verantwortet das Fremdkapitalmarktgeschäft für Zentral- und Osteuropa, den Mittleren Osten und Afrika.
Zusammen mit zwei Kollegen steigt er im Hyatt am Maydan ab, von dort fahren sie mit gepanzerten Autos zu Terminen mit
Regierungsmitgliedern und Managern ukrainischer Unternehmen. Dreimal heulen die Sirenen, dreimal müssen sie in den
Bunker flüchten. Einmal werden sie von nachts um zwei fünf Stunden im Hotelbunker ausharren. Draußen donnert die
Luftabwehr.
Den wichtigsten Termin haben die Banker an ihrem dritten Tag in Kiew. Bis sie am Eingang des Marienpalastes ankommen,
müssen sie durch viele Sicherheitskontrollen - überall sind Soldaten und Panzer. Im Präsidentenpalast liegen Sandsäcke, das
Gebäude ist stockdunkel. Sie werden in einen fensterlosen Konferenzsaal geführt.
Wolodymyr Selenskyj wirkt auf seinen Besucher Weiler übernächtigt, er hat dunkle Ringe unter den Augen. Der
JP-Morgan-Manager überreicht ein Geschenk des US-Papiermilliardärs Robert Kraft: ein Trikot des Footballteams New
England Patriots, Kraft ist der Eigentümer. Selenskyj liest seinen Namen auf dem Trikot, dann den Schriftzug "Patriots". Er
bedankt sich. Dann sagt er, typisch Selenskyj, dass ihm Joe Biden eigentlich andere "Patriots" versprochen habe. Er meint
das Flugabwehrraketensystem.
Es sind nicht nur Waffen, die Selenskyj braucht. Sondern vor allem Geld. Deshalb ist Weiler hier. Zwei Stunden dauert das
Gespräch. Dann unterzeichnen sie eine Absichtserklärung: JPMorgan soll die Regierung der Ukraine beraten. Selenskyj
wendet sich danach an die Wirtschaft: "Ich verstehe sehr gut, dass Geschäfte und Investitionen nicht nur für eine Partei von
Vorteil sein können. Wir möchten, dass Sie in der Ukraine investieren und Geld verdienen."
Stefan Weiler ist Teil einer Mission, die es in diesem Umfang und in dieser Konstellation noch nie gab: Die mächtigsten
Finanzakteure der Welt haben sich zusammengeschlossen, um einen gigantischen Wiederaufbaufonds für die Ukraine zu
entwickeln. Regierungen, NGO, aber vor allem institutionelle Investoren und Privatanleger sollen mit ihrem Geld eine neue
Ukraine schaffen. Es ist ein Programm, das Assoziationen weckt zum Marshallplan nach dem Zweiten Weltkrieg - der aber
kaum als Blaupause herhalten kann (siehe Seite 20).
Seine Bank habe Erfahrung im Wiederaufbauen, sagt Weiler im Zoom-Interview mit [dem Medium], zurück in London,
in seinem Büro. Im Irak habe sie die internationale Investitionsbank aufgebaut und geleitet. "Es dauert mindestens sechs
Monate, eher ein Jahr, bis so ein Fonds strukturiert ist." Trotzdem soll der Ukrainefonds jetzt schon gebaut werden. Damit er
startklar ist, wenn die Kriegshandlungen enden.
Zumal die Zerstörungen gigantisch sind, größer als in allen Kriegen seit dem Zweiten Weltkrieg. Das liegt an der russischen
Kriegsführung: Sie ist wie eine Dampfwalze, sie will zerstören, mürbe machen, auslöschen, der Ukraine die wirtschaftliche
Grundlage entziehen. Entsprechend hoch sind die Schätzungen für den Wiederaufbau. BlackRock-Chef Larry Fink kommt auf
bis zu 750 Milliarden Dollar - es gibt andere Zahlen, die bis zu 1,25 Billionen reichen.
BlackRock, der größte Vermögensverwalter der Welt, koordiniert den Aufbau des Fonds im Auftrag von Selenskyj und dem
Wirtschaftsministerium, arbeitet mit JPMorgan, aber auch der Unternehmensberatung McKinsey eng zusammen.
Warum tun BlackRock und Co. das? Wittern sie Geschäfte? Sicherlich. Geht es um Reputation? Dafür machen sie es ziemlich
diskret. Sie haben ein höheres Anliegen.

Die Ukraine mit Kapital fluten

Mitte Januar, das Weltwirtschaftsforum in Davos. Ein Donnerstagmorgen, 7 Uhr, geladen ist zum "Ukrainischen Frühstück".
Der Saal ist voll. Auf der Bühne sitzen neben Fink auch Goldman-Sachs-Chef David Solomon und Großbritanniens Expremier
Boris Johnson. Johnson findet, der Westen sei zu fixiert auf Putin. "Fokussiert euch auf die Ukraine, nicht auf Putin", sagt er.
Dann beugt sich Larry Fink vor. "Wir werden eine neue Ukraine schaffen", ruft er, sichtlich bewegt. "Die Ukraine wird mit
Kapital geflutet werden." Das Land könne "ein Leuchtfeuer der Hoffnung für die Kraft des Kapitalismus" werden. Nicht an die
alte Ukraine mit ihren Oligarchen denkt Fink, sondern an eine bessere Ukraine. Als Blaupause, als Exempel. Aber nicht im
Sinne eines Philanthropen: Die Rendite werde "fair und angemessen" sein, verspricht der BlackRock-Chef. Ein EU-Beitritt
könnte der Katalysator für die Depots derjenigen sein, die früh in das Land investieren. "Wir können der Welt zeigen, dass
Kapitalismus der stärkste wirtschaftliche Motor der Welt ist."
Das klingt alles so, als habe Fink schon konkrete Vorstellungen darüber, wie die Ukraine in Zukunft aussehen soll. Und auch
die Ukraine selbst tritt immer weniger als ein Bittsteller auf - und immer mehr mehr als Vermarkter für das nächste
Wirtschaftswunder, bei dem Anleger dabei sein können - oder auch nicht. Doch noch ist das meiste: Vision. Und Fiktion.
Die Nähe zwischen den Finanzgiganten und den Ukrainern sorgt im Ausland auch für Skepsis. Denn bei allem guten Willen
sind Investitionen in der Ukraine eine politische Angelegenheit: Eine ganze Armada von Staaten und Politikern wollen
mitreden - G7, EU, Weltbank, IWF.
Zwischen diesen Akteuren ist ein Wettstreit entbrannt. Es geht um Einfluss und um Macht, es gibt Misstrauen. Was haben
BlackRock, JPMorgan und Co. in der Ukraine vor? Wollen die USA über die Banken ihr Nation Building betreiben? Etwas, was
im Irak und in Afghanistan gescheitert ist? Und ist das überhaupt vergleichbar? Sicher ist: All diese Fragen werden auf den
Tisch kommen. Schon kommende Woche. Dann findet in London eine internationale Geberkonferenz statt, eingeladen hat die
britische Regierung. Neben Finanzierungszusagen könnten dort auch die Differenzen zutage treten.
Erschwert wird das Projekt durch ein Problem, das mit der Ukraine selbst zu tun hat: All diese Milliarden würden auf ein Land
treffen, das im vergangenen Jahr auf der Korruptions-Rangliste von Transparency International auf dem Rang 116 von 180
landete. Wer garantiert, dass das Geld in den richtigen Händen landet, dass es im Land bleibt und investiert wird - und
Schulen und keine Paläste gebaut werden?

Ein Zerstörungsrechner in Echtzeit

Hinzu kommt: Die Geschichte vom Wiederaufbau der Ukraine ist eine Geschichte, die noch im Reich der Fantasie spielt - weil
die Kämpfe noch toben, werden sich Investoren lange zurückhalten.
Tymofiy Mylovanov, Präsident der Kyiv School of Economics, hält es gar für "althergebrachtes Denken, dass ein Krieg anfängt
und wieder aufhört". Der Konflikt habe 2014 angefangen, seitdem herrscht Krieg. Seine Universität hat ein wohl einzigartiges
Projekt gestartet: Sie dokumentiert und beziffert die Schäden, während der Krieg noch läuft. Nahezu in Echtzeit also: zerstörte
Straßen, Häuser, Fabriken. Stand Ende April kam sein Team auf Schäden in Höhe von rund 148 Milliarden Dollar (siehe
Grafik Seite 21). "Es wird nicht diesen einen Moment geben, in dem das Kriegsrisiko wegfällt - es wird über Jahrzehnte bei uns
bleiben", sagt er. Und fordert deshalb, dass der Wiederaufbau sofort anfangen müsse.
Tatsächlich hat er bereits angefangen.
Matthias Wyrwoll ist der Mann, der den Entwicklungsfonds bauen soll. Der Deutsche ist Managing Director in der
Beratungssparte von BlackRock. Dass die Ukraine ein Leuchtturm für den Kapitalismus sein soll, ist dem 47-Jährigen ein
bisschen zu hochgestochen. "Wir müssen den wirtschaftlichen Wiederaufbau eines Landes darstellen. Und da geht es um die
Frage, wie wir Mittel in ausreichendem Maß möglichst schnell mobilisieren können." Da ist er ganz der nüchterne Banker.
Seine Karriere hat er mal in Frankfurt begonnen, bei der Hessischen Landesbank. Seit 2014 ist er bei BlackRock in London.
Sein erster Fall: das marode Bankensystem Griechenlands reformieren. Seitdem ist er viel rumgekommen, berät
Saudi-Arabien bei dessen Infrastrukturfonds, hatte Mandate bei der EU-Kommission und der EZB.
Die Schätzungen für die Ukraine reichen bis zu eine Billion, sagt er. "Das sind Mengen, die nicht ausschließlich aus
öffentlicher Hand heraus gezahlt werden können." Da kommt BlackRock ins Spiel. "Wir wissen, worauf wir bei der
Strukturierung eines Wiederaufbaufonds achten müssen."
Zunächst muss der Fonds mit Geld gefüllt werden, das Startkapital könnte von Staaten kommen, es wird damit gerechnet,
dass auf der Geberkonferenz in London nächste Woche die ersten Zusagen kommen. Der Fonds, sagt Wyrwoll, könne auf
drei Arten investieren: zum einen, direkt, in Projekte, zum Beispiel Infrastruktur. Oder, zweitens, indirekt, indem Zwischenfonds
aufgesetzt werden, die für Investitionen in bestimmte Sektoren stehen. Oder, drittens, indem der Fonds Geld ins ukrainische
Bankensystem investiert, das Investoren und damit privates Kapital anwirbt.
Das Geld der Staaten könnte das "Seed Capital" sein - sie könnten das erste Ausfallrisiko übernehmen und so Investoren
überzeugen. "Ein möglicher EU-Beitritt würde die Entwicklung beschleunigen. Mittel- bis langfristig gibt es großes Potenzial für
Investoren", sagt Wyrwoll.

Eine Roadshow, mitten im Krieg

Es klingt mitunter so, als sei die Ukraine ein Start-up. Und Oleksandr Gryban kommt wie ein Gründer daher. An einem
Samstag im Juni - der Krieg kennt kein Wochenende - sitzt der Vizewirtschaftsminister in seinem Kiewer Büro vor der
Zoom-Kamera. Das hellblaue Hemd weit offen, darunter ein weißes T-Shirt. Hinter ihm steht eine Ukraineflagge. In den
vergangenen Tagen hätten die Angriffe der Russen dem Regierungsviertel gegolten, berichtet er. "Ich habe die Leute noch nie
so schnell in den Bunker rennen sehen." Dann ist er schnell beim Thema. "Es gab in der Geschichte noch nie so etwas wie
diesen dummen Krieg. Deshalb brauchen wir etwas, was es so noch nie gegeben hat", sagt er. BlackRock solle den Fonds so
aufsetzen, dass Staaten für die Anschubfinanzierung sorgen und danach genug Vertrauen herrsche, privat zu investieren.
Die Stärken der Ukraine: die Landwirtschaft, der Rohstoffreichtum, der IT-Sektor. Die Ukraine könne mit ihren
Energieressourcen das Kraftwerk Europas werden - grün, nachhaltig und modern. Batteriefabriken könnten entstehen. "Wenn
wir den Krieg gewonnen und die Einwohner zurückgebracht haben, wird es ein massives Wirtschaftswachstum geben." Seinen
Investoren verspricht er, ganz in Start-up-Manier, "Multiples von 5X, 10X", also eine Verfünffachung oder Verzehnfachung des
Einsatzes. Bald solle eine "Roadshow" - so nennt er das wirklich - durch andere Länder stattfinden.
Diese Roadshow wird auch irgendwann nach Berlin führen, in das Europahaus am Anhalter Bahnhof in Berlin. Zu einem Mann
mit grauen Haaren und grauem Stoppelbart: Jochen Flasbarth, Staatssekretär im Entwicklungsministerium. Bundeskanzler
Olaf Scholz hat ihn zum Beauftragten für den Wiederaufbau der Ukraine ernannt.
Flasbarth macht den Eindruck, als gingen ihm die steilen Pläne aus der Wirtschaft ein bisschen zu schnell. Der Wiederaufbau
der Ukraine? Für ihn sei das "alles noch sehr in der Nähe der Glaskugel". Niemand wisse, wie lange der Krieg dauern würde.
"Was wir aber wissen, ist: Es wird teuer."
Und schon jetzt ist das Geld knapp: Die Finanzierung des ukrainischen Staatswesens ist nur bis März 2024 gesichert. Für die
Kosten der Regierung, der Verwaltungen, der Schulen und Krankenhäuser haben die Chefs der G7-Staaten rund 44 Milliarden
Euro zugesagt. Allerdings benötigt die Ukraine nach Schätzung des IWF in den kommenden vier Jahren mindestens 115
Milliarden Dollar, um den Staatsbetrieb aufrechtzuerhalten. Nachdem die USA den Großteil der militärischen Hilfe finanziert
haben, richten sich beim Wiederaufbaus alle Augen nach Europa. Auch auf Flasbarth. Er sitzt für Deutschland in der
internationalen Donor Coordination Platform - dem zentralen Gremium für die Unterstützung des Wiederaufbaus. Deutschland
hat bereits knapp 15 Milliarden Euro beigesteuert.
"Die G7 müssen sich auf die Projekte von strategischer Bedeutung konzentrieren", sagt Flasbarth. Der Staat der Ukraine
müsse handlungsfähig bleiben, die Wirtschaftskraft so schnell wie möglich steigen. "Die Ukraine muss wieder aus eigener
Kraft leben können - auch mit Blick auf eine spätere Mitgliedschaft der EU."

Der Fluch von Big Money

Zur BlackRock-Initiative will sich Flasbarth nicht äußern. Er weiß, dass die nötigen Summen niemals von Staaten allein
finanziert werden können. Aber man hört seine Vorsicht raus: Wenn große Konzerne mit dem großen Geld kommen und
schnell investieren wollen, dann droht schnell Chaos, denn Big Money wird die Korruption im Lande eher befördern als
eindämmen.
Damit der Standort attraktiv wird, muss die Ukraine sich reformieren, fordert Flasbarth. "Leider gibt es dort Tendenzen, alles
wieder zentral zu organisieren, und da haben wir große Sorgen", sagt er. Die Bauwirtschaft, die auch in anderen Ländern als
besonders korruptionsanfällig gilt, werde nach dem Krieg der erste boomende Sektor der Ukraine sein. Das viele Geld werde
einige in Versuchung führen.
Umso wichtiger sei es, "dass wir ein geordnetes Engagement und Transparenz hinbekommen". Wirtschaftsminister Robert
Habeck habe bereits die Außenwirtschaftsinstrumente an die Kriegslage angepasst - so sollen private Investitionen, auch von
deutschen Unternehmen, stärker abgesichert werden, sagt Flasbarth.
Und so sind es manchmal nicht die großen Pläne, sondern die kleinen, die schon jetzt etwas bewirken. Zum Beispiel die
Initiative von Gerhard Kerschbaummayr. Seine Firma Gebo aus Mettmann stellt Verbindungsschrauben für Stahlrohre her.
Andere Firmen haben sich zurückgezogen, Gebo blieb. Er wolle ein "Zeichen senden" an die Ukrainer, sagt Kerschbaummayr.
Im vergangenen Sommer hat er in Kiew eine Vertriebsgesellschaft gegründet, einen Geschäftsführer und Verkäufer
eingestellt. Bis Ende des Jahres soll ein Lager dazukommen, um schon heute flexibler auf die Wünsche der Kunden zu
reagieren. Die Erwartungen für die Zeit nach dem Krieg sind jedenfalls groß. Das spürt Kerschbaummayr auch bei Kollegen im
Bau und im Bereich Instandhaltung. Viele versuchten jetzt, Kontakte zu knüpfen und wie Gebo erste vorsichtige Investitionen
zu tätigen, "um die Ersten zu sein". Trotzdem klingt er vorsichtig. Niemand wisse, ob die Geschäfte aufgehen, sagt er. "Es
lässt sich schwer einschätzen, wann und wie der Wiederaufbau anlaufen wird."

Negativbeispiel: Ostdeutschland

Ein Anruf bei Georg Milbradt. Seit 2017 ist der frühere sächsische Ministerpräsident Sonderbeauftragter der Bundesregierung
für die Verwaltungsmodernisierung der Ukraine, hat das Land Dutzende Male bereist. Der Zentralismus im Land ist für den
CDU-Politiker das größte Problem: "Man kann nicht alles top-down erledigen, ohne eine intensive Einbindung der Kommunen
vor Ort wird es nicht gehen", sagt er.
Viele Bürgermeister gehörten nicht Selenskyjs Partei an, es herrsche Misstrauen zwischen den staatlichen Ebenen. Das
Personal in der Justiz müsse ausgetauscht, die Verwaltung professioneller werden, fordert Milbradt. Nur so lasse sich "die
allgegenwärtige Korruption wirksam bekämpfen".
Mit Sorge sieht Milbradt deshalb, dass Fondsgesellschaften und Konzerne den Neuanfang der Ukraine nach ihren Regeln
organisieren wollen. "Der Wiederaufbau muss mit einem wirtschaftspolitischen Konzept unterlegt werden", sagt er. Milbradt hat
erlebt, wie westliche Unternehmen nach der Wiedervereinigung in die neuen Bundesländer ausgeschwärmt sind, die
Subventionen nahmen, Kasse machten - und wieder verschwanden. Es wäre wenig sinnvoll, wenn "große internationale
Exportunternehmen oder europäische Baukonzerne am Wiederaufbau prächtig verdienen und das internationale Geld dann
wieder zurückfließt", warnt er. "Die Wertschöpfung muss schon zu großen Teilen in der Ukraine stattfinden." Nur so entstehen
Mittelstand, kleinere Betriebe und eine marktwirtschaftliche Struktur.
Volodymyr Bilynskyy ist so ein Aufbauer, er ist stellvertretender Chefingenieur bei den Wasserwerken in der westukrainischen
Stadt Lviv. Bald wird er mit seinen Kolleginnen und Kollegen die Schäden beseitigen, die die Wassermassen aus dem
Kachowska-Staudamm angerichtet haben. Innerhalb weniger Tage müssen sie die kaputten Rohre und Kläranlagen in
Cherson wieder zum Laufen bringen. Es geht um das Trinkwasser von Hunderttausenden. "Das Ausmaß der Katastrophe ist
unvorstellbar", sagt Bilynskyy. Seine Leute haben ihm eine Liste mit Geräten geschickt, die benötigt werden: Pumpen,
Tankwagen für Wasser, Filteranlagen oder Notstromaggregate, um das alles zu betreiben. Ein Teil davon soll auch durch
Spenden aus Deutschland kommen.
"Solange der Krieg läuft, geht es darum, die Infrastruktur irgendwie zu erhalten", sagt Bilynskyy. Er spricht von "Wiederaufbau
Nummer eins". Nummer zwei kommt für ihn erst, wenn die Ukraine den Krieg gewinnt. "Dann werden wir das Land
modernisieren", hofft er. Wie andere Verwaltungen im Land entwickeln auch die Wasserwerke in Lviv dafür Pläne: Bilynskyy
will alte Sowjetanlagen durch stromsparende Turbinen ersetzen, Kilometer von Schläuchen und Stahlrohren austauschen.
Sogar die Budgets hat er dafür schon errechnen lassen: 1,5 Milliarden Griwna würden die neuen Wasserleitungen für die Stadt kosten, umgerechnet 38 Millionen Euro. "Wir wollen vorbereitet sein, wenn der Wiederaufbau losgeht", sagt er.
Um die zahlreichen staatlichen und privaten Initiativen zu koordinieren, hat die Regierung der Ukraine eine Agentur für
Wiederaufbau ins Leben gerufen.

Ein System wie eine Blackbox

Ein Dienstag Ende Mai. Vadym Nozdria, der Infrastrukturchef der Agentur, hat sich mit knapp 70 deutschen Unternehmern aus
dem Ost-Ausschuss verabredet, [das Medium] darf zuhören. Nozdria, ein ehemaliger Metallhändler Mitte 40, ist aus
einem Café in der Kiewer Innenstadt zugeschaltet. Im Hintergrund klimpern die Tassen. Er will sich den Deutschen als nahbar
präsentieren, als jemand, der nichts, aber auch gar nichts mit dem bürokratischen Mief aus der Sowjetära zu hat. Nozdria
spricht von einer "historischen Chance": Sechs Monate werde es wohl noch dauern, erklärt Nozdria den Unternehmern, dann
könnte es mit den ersten Ausschreibungen losgehen. Man wolle die Unternehmen nicht mit Beschaffungsregeln überfordern,
sondern sie unterstützen. "Wir wollen Transparenz und Flexibilität", sagt Nozdria.
Die Deutschen zeigen sich reserviert. Nicht jedem gefällt die Idee, die Projektvergabe einer zentralen Agentur anzuvertrauen.
Bei dem Onlinetreffen erzählt ein deutscher Manager von einer Ausschreibung in der Ukraine: gewonnen hatte einer, dessen
Angebot nicht nur teurer war, sondern auch langsamer in der Umsetzung. "Das System ist wie eine Blackbox", sagt der
Manager.
Agenturmann Nozdria weiß nicht so recht, was er darauf antworten soll. Schließlich fällt ihm doch was ein: Dann müsse man
eben noch transparenter werden, sagt er.
In einem Hochhaus mit Glasfassade an der Rue Joseph II am Rande des Brüsseler Europaviertels werden die
Wiederaufbaupläne aufmerksam verfolgt. Hier, in einem Eckbüro im 13. Stock mit Blick auf den Brüsseler Innenring und das
Problemviertel Saint Josse, sitzt Andreas Schwarz. Er ist Vizegeneraldirektor der EU-Behörde Olaf, kämpft gegen den Betrug
mit EU-Geldern. "Wir haben sehr detaillierte Erfahrungen über den Kampf gegen Korruption und Betrug in der Ukraine", sagt
der Deutsche. Seine Behörde tauscht mit der US-Entwicklungsagentur USAid und der Weltbank Informationen über
Verdachtsmomente und Ermittlungen aus. Olaf habe einen Informationsvorsprung, weil das Amt vor zehn Jahren schon ein
Büro in Kiew eröffnete, berichtet Schwarz stolz.
Kürzlich habe der oberste ukrainische Staatsanwalt hier am Konferenztisch gesessen - und er, Schwarz, habe seine
Erwartungen gar nicht aussprechen müssen: "Die Ukrainer wissen genau, dass Korruptions- und Betrugsbekämpfung eine der
größten Prioritäten sein muss, wenn der Wiederaufbau gelingen soll."
Und doch gibt es Entwicklungen in der Ukraine, die Kritiker auf den Einfluss der neuen Freunde Selenskyjs aus den Häusern
wie BlackRock und JPMorgan zurückführen. Zum Beispiel Änderungen im ukrainischen Arbeitsrecht, nach denen Angestellte
von Unternehmen mit bis zu 250 Beschäftigten vom nationalen Arbeitsrecht ausgenommen sind, 70 Prozent aller
Arbeitnehmer sind davon betroffen. Ukrainische Gewerkschafter argwöhnen, dass die Änderung auch nach dem Krieg bleibt.
Auch das Beschaffungswesen wurde geändert, Transparenz zurückgedreht. Weil es beim Kauf, etwa von Waffen, schnell
gehen muss. Nach dem Krieg könnte die Versuchung groß sein, es so zu belassen.
Korruptionsbekämpfer Schwarz fordert "Transparenz in ihrer brutalsten Form". Im Internet solle für jedes Projekt einsehbar
werden, wer den Zuschlag bekommen hat, wie viele Bieter es gab. Kontakt mit privaten Investoren hätte seine Behörde
bislang nicht gehabt. "Aber die haben natürlich auch großes Interesse, dass der Wiederaufbau sauber läuft", sagt Schwarz.
"Niemand möchte in Skandale verwickelt sein."
JP-Morgan-Banker Stefan Weiler ist davon überzeugt, dass Selenskyj es ernst meint mit der Neuerfindung: "Er will wirklich
eine neue, bessere Ukraine aufbauen." Den Begriff "Wiederaufbau" möge der Präsident gar nicht. Und er sei davon überzeugt,
dass sein Land der EU beitreten werde, schon binnen weniger Jahre, er nutze die Vorteile des Kriegsrechts, um Reformen
voranzutreiben.
Die Hilfsinitiativen der Staaten und Regierungen sieht Weiler wiederum durchaus kritisch: Auch wenn es mittlerweile besser
geworden sei: "Viele Länder und Finanzorganisationen haben ihre Maßnahmen nicht untereinander abgestimmt, es gab sogar
eine gewisse Konkurrenz untereinander", sagt er.

Keine lupenreinen Philanthropen

Der Wiederaufbaufonds soll schneller sein, anpassungsfähiger. Für seinen BlackRock-Kollegen Matthias Wyrwoll geht es beim
Wiederaufbau der Ukraine um "eine der größten geopolitischen Fragestellungen der Gegenwart". Natürlich müsse der Fonds
internationalen Governance-Standards entsprechen. "Zum Beispiel, wenn es um Themen wie Korruption geht und
Risikoanalyse, aber auch was die Unabhängigkeit von der ukrainischen Regierung betrifft."
Gibt es Kritik an dem Projekt von anderen, staatlichen Initiativen? "Kritik nicht, eher Fragen. Bislang hat sich das in
überschaubarem Maß gehalten. Wir pflegen einen sehr gesunden Austausch mit den anderen", sagt Wyrwoll diplomatisch.
Und wie steht es mit den eigenen Interessen? "Das ist kein BlackRock-Fonds. Das ist ein Ukraine-Entwicklungsfonds", betont
Wyrwoll, BlackRock nehme für die Beratung kein Gehalt. "Es geht hier nicht um Geld. Wir wollen helfen." Aber langfristig
glaube er, dass sein Wirken Investitionsmöglichkeiten öffnen kann, auch für BlackRock-Kunden. "Das ist ja auch das, was der
Zweck des Ganzen ist, nämlich Kapital anzuziehen."
Auch Stefan Weiler arbeitet pro bono für die Ukraine. "Wir haben keinen finanziellen Vorteil, und wir wollen auch nicht vom
Krieg profitieren", sagt er. Auf längere Sicht hoffe seine Bank "natürlich schon, dass sich unsere Arbeit in der Ukraine in den
Jahren danach irgendwie auszahlt". Aber das sei zweitrangig. Man baue Beziehungen auf. "Und wenn unsere Arbeit gut und
wertvoll ist, dann können wir uns sicherlich für das Geschäft nach dem Krieg positionieren."

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